Wann droht ein Femizid? Gefahren sicher einschätzen lernen

2024 veröffentlichte die New York Times einen Fragebogen der Organisation Danger Assessment (www.dangerassessment.org (Opens in a new window)). Die Homepage widmet sich wissenschaftlich und anhand empirischer Daten der Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für einen Femizid ist.
Von Tina Steiger
20 Fragen zur individuellen Situation der Frau ermöglichen eine Risikoeinschätzung für die Frau und mitbetroffene Kinder. Diese Risikoeinschätzung zu kennen, kann von Gewalt betroffene Frauen schützen. Für Beratende im Gewalthilfesystem oder auch in der Kinder- und Jugendhilfe entscheidet dieses Wissen in vorliegenden Fällen über Leben und Tod.
Wer gelernt hat, was Täter tun, bevor die Gewalt zur Tötung wird, der muss handeln.
Die Auswertung des Fragebogens orientiert sich an einer Vielzahl von Faktoren, die auf die Gefahr eines Femizids Einfluss haben. Hier einige der Fragepunkte auf deutsch:
-gab es eine frequentielle Zunahme der Gewalt innerhalb des letzten Jahres? (Sind die Abstände zwischen den Taten kürzer geworden?)
Je häufiger es zu Gewalt kommt, desto geringer die Hemmschwelle. Die Gefahr getötet zu werden steigt mit der Häufigkeit und Frequenz der Taten.
-hast du ihn nach gemeinsamen Zusammenleben verlassen? Hast du die gemeinsame Wohnsituation verlassen oder es angekündigt?
Frauen sollten ihre Flucht - es ist eine Flucht, keine reguläre Trennung - nie vorher ankündigen und stattdessen heimlich, begleitet und sehr gut vorbereitet gehen. Der Zeitpunkt einer (räumlichen) Trennung birgt ein vielfach erhöhtes Risiko einer Tötung.
-hat er dich je verletzt, während du schwanger warst?
Die Situation einer Schwangerschaft ist für die Frau eine hoch vulnerable. Für den Täter bedeutet sie oft Druck und inneren Stress, da die Partnerin für ihn weniger zur emotionalen und physischen Verfügung steht. Übt ein Täter hier Gewalt aus, obwohl sie „sein“ Kind trägt, spricht das für eine äußert geringe Hemmung. Weitere Taten sind abzusehen.
-hat er je gedroht, dich zu töten?
Nicht jeder Mann, der das sagt, ermordet seine Partnerin auch. Dennoch kündigen Täter ihre Taten häufig an. „Er sagt das nur so“ ist eine Fehleinschätzung und nimmt grob fahrlässig den Tod einer Frau in Kauf.
-hat er dich je zu sexuellen Handlungen gezwungen, wenn du das nicht wolltest?
Fallanalysen zeigen, wer machtvoll Kontrolle und Gewalt ausübt, tötet auch.
-hat er je gedroht, sich selbst zu töten?
Femizide sind häufig erweiterte Suizide. Wer bei Gewalt oder dem Ende einer Beziehung Selbsttötung in Aussicht stellt, birgt für sein Umfeld ein hohes Risiko.
-trinkt er regelmäßig Alkohol?
-nimmt er Drogen?
Alkohol- und Drogenkonsum gehen in vielen Fällen mit Femiziden einher. Beides verringert die Hemmung und verstärkt Wut, Frustration und Gewaltbereitschaft.
-hat er dich je gewürgt?
Strangulation gilt als eines der bedeutendsten Vorzeichen von Femiziden. Bei vorheriger Strangulation erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für eine spätere Tötung der Frau signifikant. die Schwere einer Verletzung sowie Bewusstlosigkeit oder Tötung sind für den Täter beim Strangulieren nicht zu kontrollieren. Es besteht damit immer eine Tötungsbereitschaft.
-hat er je eine Waffe benutzt zur Bedrohung oder damit gedroht, eine Waffe zu benutzen?
Der Einsatz oder die potentielle Einbeziehung einer Waffe macht Gewalt unkontrolliert und verschärft die Situation rasch. Täter, die Waffen gegen Frauen einsetzen, sind bereit zu töten.
-droht er damit, die Kinder zu töten?
Hier gilt ein ähnliches Szenario wie bei der Androhung einer Selbsttötung. Wer Kinder mitbedroht, hat bereits eine Grenze des denkbaren hinter sich gelassen. Kinder werden bei Femiziden häufig getötet, allein weil sie zum Tatzeitpunkt mit anwesend sind.
-lebt ein Kind mit im Haushalt, das nicht von ihm ist?
Besonders interessant: Täter neigen dazu, gewaltbereiter bis hin zur Tötung zu sein, wenn Kinder im Haushalt leben, die nicht ihre eigenen sind.
Die Anzahl der mit Ja beantworteten Fragen in der Risikoeinschätzung gibt Aufschluss über ein potentielles Risiko einer bevorstehenden Tötung - 0 = gering bis 20 = extrem hohes Risiko.
Erstkontaktstellen wie Polizei, Arztpraxen, Jugendämter, Gerichte etc. müssen über dieses Wissen verfügen und sich direkt für den Schutz der Frau und involvierter Kinder einsetzen. Wer die Warnzeichen bewusst kleinredet, obwohl Auswertungen belegen, dass darauf Morde folgen, wird zum Mittäter oder zur Mittäterin.
In den Fällen einiger Femizide der letzten Jahre haben die Frauen bei Polizei, aber auch bei Jugendämtern, Verfahrensbeiständen und Umgangspflegern vorher die Gewalt benannt. Und sie wurden ignoriert und die Gewalt als ungefährlich eingestuft. Viele dieser Femizide sind auf das Versagen im Hilfesystem zurückzuführen.
Beratende, insbesondere Personen aus dem Kinderschutz, sollten sich diese Informationen speichern und die Risikofaktoren erlernen.