Skip to main content

Lesetipps – diese Literatur sollte jede:r im Hilfesystem gelesen haben

Von Tina Steiger

Mehr als 180.000 Frauen wurden im Jahr 2023 Opfer der Gewalt ihrer Partner und Ex-Partner. Tendenz steigend. Diese Zahl zeigt nur die Fälle, die Justiz und Behörden erfassen. Die Anzahl der Gewalttaten an Frauen, die nicht angezeigt und häufig auch nicht gemeldet werden, wird als das Achtfache angenommen. Ein Großteil der betroffenen Frauen hat laut Statistik mindestens zwei mitbetroffene Kinder. Damit ist die Gewalt für sie nach dem Verlassen ihres Täters noch nicht zu Ende, sondern wird häufig in Jugendämtern und Familiengerichten fortgeführt.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte, die Expertengruppe des Europarates für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (GREVIO (Opens in a new window)) und die Vereinten Nationen mahnen seit Jahren die Missstände an deutschen Familiengerichten in Fällen von Männergewalt an Müttern an. Der Grund ist eine Täter-Opfer-Umkehr, die Frauen in jahrelange Umgangskontakte mit Gewalttätern, Vergewaltigern und Stalkern zwingt und die mitbetroffene Kinder über Jahrzehnte massiv in ihrer Entwicklung schädigt. Die UN spricht in einem Sonderbericht aus 2023 von Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Kindern. Getan hat sich seither an Familiengerichten wenig. Weiterhin erleben gewaltbetroffene Frauen, wie Täter über Gerichte und Jugendämter gemeinsame Kinder zum Instrument weiterer Kontrolle und Gewalt machen.

Vertauschte Rollen im Hilfesystem:
Betroffene sind oft zwangsweise Expertinnen

Wenn Frauen mit diesen Erfahrungen bei Fachkräften aus dem Hilfesystem sitzen, bei Trauma-Therapeut:innen oder auch Stellen aus der Kinder- und Jugendhilfe, dann erleben sie, wie sie die Rollen tauschen müssen. Denn die Stellen, die sich eigentlich auffangen und stützen sollten, müssen oftmals über viele Sitzungen erst einmal über die Missstände und Mechanismen aufgeklärt werden. Die betroffenen Frauen sitzen dann Menschen gegenüber, die sich zwar grundsätzlich gegen Gewalt positionieren, denen es aber oft sehr schwer fällt, sich vorzustellen, dass Familiengerichte, Richter:innen oder Jugendämter tatsächlich auf Seiten der Täter Co-Gewalt an Frauen und Kindern ausüben.

Müssen Frauen das erklären, raubt das enorm Kraft. Und mehr noch: Der vermeintlich sichere Ort zur Stärkung wird erneut zu einer Stelle, die erst einmal überzeugt werden muss. Ein Ort, an dem sich die Frauen beweisen müssen, Fachkäfte, denen sie sich erklären müssen und demonstrieren, dass nicht sie es sind, die lügen oder gar eine Kindeswohlgefährdung darstellen. Es ist nicht schwierig, sich vorzustellen, dass diese Termine nicht helfen. Oft berichten Betroffene, dass Fachkräfte aus Unwissenheit schädliche Aussagen treffen, die sie automatisch als Safe Space ausschließen. In der Folge bleiben betroffene Frauen und Kinder ohne geeignete Hilfen allein.

Schädlich sind Aussagen wie: “Ein psychologisches Gutachten ist doch eine gute Idee, dann sehen alle, dass der Vater ein Problem hat.” Was diese Fachstellen nicht wissen: Mehr als 70 Prozent dieser Gutachten in familiengerichtlichen Verfahren sind mangelhaft und falsch, häufig bewusst manipuliert und richten sich gegen die von Gewalt betroffenen Mütter. (vgl. Studie: Wolfang Hammer, Macht und Kontrolle im Familiengericht, 2024)

In solchen Gutachten wird zum Beispiel die Frage einer Matschhose fürs Kind in der Kita gestellt. Hat die Mutter eine hinterlegt, gilt sie als überfürsorglich und kontrollierend und ihr wird in der Einschätzung eine “zu enge Mutter-Kind-Bindung” unterstellt. Wenn Frauen in Therapiesitzungen so etwas erzählen und dafür angezweifelt werden, dann kostet sie das Kraft, die sie nicht haben und wirft ihre Heilungsmöglichkeiten nach Gewalt immer wieder zurück.

Was viele außerdem vergessen: Diese Verfahren im Familiengericht und die per Beschluss auferlegten Zwangskontakte mit dem eigenen Vergewaltiger oder Gewalttäter dauern über Jahrzehnte an. Der Staat schützt diese Frauen und Kinder nicht, obwohl geltende Gesetze in Deutschland (Istanbul-Konvention) genau hierfür klare Handlungsanweisungen an Städte, Kommunen, Justiz und Behörden geben. Die Frauen entkommen der Gewalt nicht. Vielleicht schlägt er nicht mehr zu, aber das Familiengericht erteilt ihm per Beschluss die Erlaubnis, jede andere Form der Kontrolle und Gewalt weiter anzuwenden. Wenn Frauen mit diesen Geschichten in Therapien gehen, dann ist es ein wenig so, als wolle man einem Brandopfer die Wunden versorgen, während es noch immer im Feuer sitzt. Heilung ist so unmöglich. Viele Therapeut:innen finden, eine Stärkung der Frauen ist etwas, das sie leisten können. Doch wer stärken will, muss in der Lage sein, die Zusammenhänge selbständig zu erfassen und fachkundig sicher aufgestellt sein. Keine Frau sollte das System selbst weiterbilden müssen oder erleben, dass ein Therapeut oder eine Therapeutin das Thema Gewalt und Familienrecht lieber ausblendet, wenn genau das es ist, das die Betroffene an einem gesunden Leben hindert.

Finanzielle Gewalt, Umgangskontakte zur Machtausübung, institutionelle Gewalt über zahllose Verfahren und Lügen bei Gericht, Täter-Opfer-Umkehr gegen Mütter zugunsten von Vätern – das ist das Problem der Frauen primär und der Grund für ein dysreguliertes Nervensystem, psychosomatische Symptome, Angst und Depressionen.

Handreichung für Fachkräfte
Diese Standard-Lektüre sollte gelesen haben,

wer mit Betroffenen arbeitet

Wer Frauen und mitbetroffenen Kindern nach Gewalt Therapie anbieten möchte, sollte wissen, was er oder sie leisten kann. Wer im Gewaltschutz Nachholbedarf hat, muss diesen dringend aufholen oder zum Wohle der Betroffenen die Finger von diesen Fällen lassen. Wer sich weiterbilden möchte, kann das einfach und in Eigenregie am Besten über die inzwischen zahlreiche Literatur zum Thema umsetzen.

Die nachfolgende Lektüre sollte der Standard für jede Fachkraft sein, die mit Frauen (Müttern) bei Gewalt, Nachtrennungsgewalt und institutioneller Gewalt arbeiten möchte. Die Zusammenstellung stellt eine Handreichung für Hilfestellen dar mit der dringenden Empfehlung, sich selbst so gut weiterzubilden, dass nicht betroffene Frauen es sein müssen, die dieses Wissen in ihren eigenen Sitzungen wiedergeben müssen.

Neben den fachlichen Informationen wie dem rechtlich verpflichtenden Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention, ratifiziert in D 2018), dem GREVIO-Bericht zur Einschätzung der Umsetzung des Gewaltschutzes für Frauen und Kinder sowie der Bewertung der Missstände an Familiengerichten durch die UN finden sich nachstehend drei Must-Reads zum Thema in Buchform. Besonders hinweisen möchte ich auf eine Sammlung aktueller Studien zum Kinderschutz bei Gewalt in Partnerschaften der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags. Die Datenlage zeigt deutlich, dass der Satz “Aber er hat ja das Kind nicht geschlagen” für Informierte ein Tabu sein muss.

LESE-EMPFEHLUNGEN:

Hier die besten Tipps für Einsteiger zum Thema Gewalt gegen Frauen und Kinder an Familiengerichten.

Christina Mundlos. Mütter klagen an. Institutionelle Gewalt gegen Frauen und Kinder im Familiengericht. Büchner. 2023
Sonja Howard, Jessica Reitzig. Im Zweifel gegen das Kind. Wie Gerichte, Jugendämter und Polizei Kinderrechte mit Füssen treten. Econ. 2023
Dr. Jennifer Nadolny. Tatort Familiengericht. Wie Kinder unter Gerichtsbeschlüssen, behördlichen Missständen und rechtswidrigen Gutachten leiden. Goldegg. 2025
(Opens in a new window)
Ein Angebot für Fachkräfte in der Arbeit mit betroffenen Frauen: BILDUNGS-INITIATIVE GEWALTSCHUTZ ist ein Bildungsunternehmen, das sich zum Ziel gesetzt hat, Beratende, Betroffene, Gesellschaft und Medien im Gewaltschutz weiterzubilden. Sie bietet für Fachstellen und Teams unter anderem Inhouse- und Online-Seminare, kleine Workshops und Vorträge an. Bei Interesse weitere Informationen über den nachfolgenden Link. Anfragen an Tina Steiger Mail: kontakt@tina-steiger.de BILDUNGS-INITIATIVE GEWALTSCHUTZ Gewalt gegen Frauen mit Bildung bekämpfen
Topic Gewalt gegen Frauen

0 comments

Would you like to be the first to write a comment?
Become a member of Magazin Bildungsinitiative Gewaltschutz and start the conversation.
Become a member