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Coercive Control – ein Verbrechen gegen die Freiheit

Warum Coercive Control auch in Deutschland ein eigener Straftatbestand sein muss.

Von Tina Steiger

Coercive Control, zu deutsch Zwangskontrolle, gilt als Gewaltform, welche die Grundlage für die meisten Gewaltakte bietet. Dennoch ist der Begriff in Deutschland bisher so gut wie nicht bekannt. In UK und anderen Ländern ist Coercive Control inzwischen als ein eigener Straftatbestand anerkannt. Bei uns sind Frauen mit ihren verzweifelten Erfahrungen von Zwangskontrolle durch Täter meist allein. Ihre Versuche, Tathandlungen und Tatmuster anzuzeigen scheitern in der Mehrheit der Fälle. Höchste Zeit, dass auch Deutschland Coercive Control als tödliche Gewalt (an Frauen) anerkennt.

Coercive Control – ein Verbrechen gegen die Freiheit

Coercive control is an act or a pattern of acts of assault, threats, humiliation and intimidation or other abuse that is used to harm, punish, or frighten their victim. (Woman’s Aid UK)

Coercive Control wird hierzulande mit Zwangskontrolle oder auch erzwungener Kontrolle übersetzt. Den Begriff prägte Evan Stark bereits 2007 in seinem Buch Coercive Control. How Men Entrap Women in Personal Life (Oxford University Press). Zwangskontrolle gilt in Deutschland bislang vor allem als Form der psychischen Gewalt und wird häufig in der Nachtrennungsgewalt verortet. In Fachkreisen herrscht jedoch übereinstimmend die Annahme, dass die erzwungene Kontrolle die Basis für alle anderen Gewaltformen, insbesondere bei Gewalt gegen Frauen, bildet.

In Großbritannien und Wales gilt Coercive Control bereits als ein zentraler Bestandteil von häuslicher Gewalt. Zwangskontrolle ist dort als Form der häuslichen Gewalt anerkannt und stellt eine Straftat dar. Auch in Australien stellen Coercive Control und das damit verbundene kontrollierende Verhalten seit dem Sommer 2024 einen eigenen Straftatbestand dar. Kampagnen der Polizei und beratenden Institutionen klären über die Muster der Zwangskontrolle und ihre Folgen auf.

Coercive Control – ein Muster von Einzelhandlungen

Coercive Control wird als Verbrechen gegen die Freiheit beschrieben. Der Täter übernimmt nach und nach die Kontrolle über das Leben, den Alltag und die Gedanken seines Opfers. Das Perfide: Die Gewalt ist für Außenstehende häufig nicht sichtbar und nicht begreifbar. Anders als bei anderen Straftaten, handelt es sich bei Coercive Control um ein Muster von Handlungen. Was in den meisten Fällen fehlt, ist die einzelne, signifikante Tat. Oft werden stattdessen Handlungen ausgeführt und Bedrohungen geäußert, die ganz spezifisch Einfluss auf das Leben und die Freiheit der Betroffenen und auch nur für sie Bedeutung haben.

Meist werden bei Coercive Control die Kontrolle der Freiheit (in der Beziehung), Bedrohung, Verleumdung, Rufschädigung, Einschüchterung, Stalking, Sabotage des Arbeitsumfelds und von Freundschaften, Tracking und das Einbeziehen des privaten Umfelds sowie von Institutionen und Behörden kombiniert. Es entsteht ein Netz aus einzelnen, willkürlich erscheinenden Handlungen, die für Außenstehende nicht zwingend auf Gewalt oder eine Gefahrenlage hindeuten müssen. Das macht es für Täter so einfach, immer weiter zu machen, ohne gestoppt zu werden. Alles kann zur Tat werden und der Betroffenen zeigen: “Ich habe die Kontrolle über dein Leben.” Gleichzeitig erscheinen Betroffene als “wirr” und unglaubwürdig, wenn sie versuchen, zu erklären, was ihnen passiert. Je häufiger sie Hilfe suchen, ohne dass ihnen geglaubt wird, desto größer wird die Gefahr, dass sie als psychisch krank oder selbst als verleumdend eingestuft werden. Sind Kinder aus der Beziehung entstanden, geht das in einigen Fällen regelmäßig bis hin zur Einweisung in die Psychiatrie, zum Entzug des Sorgerechts und zu strafrechtlichen Konsequenzen für die betroffenen Frauen. Täter als Väter haben es über das Instrument Kind besonders leicht, Zugriff und Kontrolle über die Ex-Partnerin auszuüben und vielfach werden involvierte Stellen aus der Kinderhilfe oder am Familiengericht unwissentlich zu Beihelfern.

Coercive Control Betroffene werden Schritt für Schritt eingeschüchtert, um ihre Freiheit und freiheitlichen Entscheidungen gebracht. Nach und nach kontrolliert der Täter das ganze Leben , hat Zugriff auf Familie und Umfeld, überwacht jeden Schritt, hat überall Augen und Ohren und die Betroffene in seiner Hand. Mails und Nachrichten werden gestalked, live gelesen, Accounts gehacked, Post verschwindet, auf Bankkonten wird zugegriffen, Jobs werden sabotiert, Freunde, Nachbarn und Kollegen werden (manchmal unwissentlich) zu Helfern des Täters gemacht. Außenstehende können das Ausmaß der Gewalt oft nicht nachvollziehen und finden, das Erlebte klingt unvorstellbar. Die Frauen werden so Schritt für Schritt von einem möglichen Hilfenetz persönlicher Kontakte isoliert und haben Hemmungen, sich an neue Kontakte zu wenden. Zu unglaublich klingen ihre Erlebnisse und zu banal sind die Vorkommnisse in der isolierten Betrachtung. Hilfestellen, Therapeuten, Behörden sind von der Thematik aus mangelnder Fachkenntnis völlig überfordert und schließen lediglich auf eine zu große psychische Belastung für die Frauen. Eine Spirale der Pathologisierung beginnt. Die eigentlichen Tathandlungen werden aus dem Kontext heraus einzeln als harmlose Bagatellen abgetan, als ärgerliche Schikane, die der Täter vielleicht sogar ohne böse Absicht ausüben könnten. Ein gravierender Fehler in der Einschätzung, der Leben kosten kann.

Die zunehmende Isolation der Betroffenen führt zur Vereinsamung und zur Perspektivlosigkeit. Täter können Formen der Coercive Control ohne großen Aufwand über Jahre betreiben. Für Betroffene wird die Welt dadurch immer unsicherer, oft ist durch digitales Stalking nicht einmal mehr das eigene Zuhause sicher. Gemeinsame Kinder werden involviert. In Folge werden Gerichte, Institutionen, Lehrkäfte, Erzieherinnen, Ärzt:innen, Therapeut:innen aus ihrem Neutralitätsanspruch heraus zu Beihelfern der Coercive Control des Täters. Polizei, Jugendamt und Gericht wollen von den einzelnen, viel zu harmlos erscheinenden Taten meist nichts (mehr) hören und bestrafen Betroffene in der Regel für ihre Einschätzung mit Labeln der Bindungsintoleranz und psychischen Störungen.

Coercive Control = Suizide = Femizide

Lassen sich Suizide von gewaltbetroffenen Frauen als Femizide einordnen? In Ländern, die ein Bewusstsein für Coercive Control entwickelt haben, lautet die Antwort auf diese Frage in Fachkreisen inzwischen ja. Frauen, die ihr Leben beenden, weil die weitreichende Zwangskontrolle ihrer Täter ihnen keine andere Wahl lässt, handeln ohne Ausweg. Insbesondere in UK weisen Untersuchungen darauf hin, dass Coercive Control als Ursache von Suiziden bei betroffenen Frauen gewertet werden muss und es sich formal um Femizide handeln muss.

Von einem Verständnis für den Zusammenhang Coercive Control = Suizid = Femizid ist man in Deutschland noch sehr weit entfernt. Die Realität für Betroffene ist, dass ihnen das eigene Leben irgendwann nicht mehr gehört. Der Täter ist überall, zu aller Zeit. Kann im Zuhause und im Auto mithören, beauftragt Unbeteiligte zu “harmlosen” Aktionen und Ansprachen, er kontrolliert und überwacht alles auf ihrem Smartphone, Tablett, Laptop, Netzwerk…, kann Nachrichten in Echtzeit lesen, sieht alle geöffneten Browser-Fenster, jedes geshoppte Produkt, liest alle Mails und Dokumente. Er sabotiert berufliche und private Kontakte, nimmt Einfluss auf Einkommen, Privatleben, Freundschaften, Sicherheit, Gesundheit und juristische Verfahren. Klingt unglaublich? Ist es auch. Wenn Frauen sich bei Coercive Control das Leben nehmen ist das meist, nachdem der Täter ihnen bereits alles andere genommen hat oder deutlich macht, dass sie nie mehr frei wird leben können.

In Deutschland fehlt es an der Bildung

Deutschen Behörden und Gerichten fehlt es neben Wissen, Fortbildung und Bewusstsein auch am Verständnis für die Mechanismen, die bei Coercive Control auf Täterseite zusammenwirken. Hierzulande stellen Polizisten häufig die Frage, ob es “echte”, also physische Gewalt war, die ein Opfer erlebt hat, oder “nur” psychische. Wie soll man so jemandem die Muster von Coercive Control “beweisen”? Solange jegliches Wissen fehlt und dagegen Narrative über hysterische und rachsüchtige Frauen mehr Gewicht haben, wird sich das Problem in Deutschland nicht ändern lassen. Die Rechtssprechung und auch die Handhabung im familienrechtlichen Kontext ist weit davon entfernt, Coercive Control zu erkennen und als Straftaten anzuerkennen. Bereits bei digitalem Stalking ist es schwierig, Taten zu beweisen. Zu diffus erscheint, was Betroffene erleben und erzählen und zu unzusammenhängend sind die beschriebenen Vorfälle. Selten werden die Einzelaktionen von Tätern überhaupt als Taten gewertet. Häufig fehlt für eine Einordnung vor allem die Bereitschaft, den Kontext einzubeziehen. 

12 (erste) Anzeichen für Coercive Control, die jede:r kennen sollte

Schon zu Beginn einer gefährlich kontrollhaften Beziehung ist es möglich, Anzeichen für Coercive Control zu erkennen und sich (rechtzeitig) zu schützen. Da Coercive Control immer auch ein Verbrechen an der Wahrnehmung darstellt und Betroffene, ihren eigenen Erfahrungen nicht mehr trauen, ist es wichtig, diese Anzeichen bereits jungen Frauen zu erläutern. (Quelle u.a. Women’s Aid UK). Wer sie liest wird feststellen: Viele der Täter-Handlungen sind in unserer Gesellschaft als “fürsorglich”, “beschützend” eingestuft, was eine direkte Folge der Romantisierung von männlicher Dominanz und weiblicher Abhängigkeit darstellt. Um Frauen vor Coercive Control zu schützen, müssen sie wissen, welchen Wert ihre Eigenständigkeit besitzt und wieviel Schutz Autonomie darstellt.

Woran lässt sich Coercive Control erkennen?

  • Isolation – Ein kontrollierender Partner versucht früh, die Partnerin von ihrem Umfeld, Freunden und Familie zu isolieren. Er besteht selten offen darauf, sondern geht dabei subtil und manipulierend vor.

-Er lügt über seine Partnerin bei Freunden
-Er lügt über Freunde und Familie bei seiner Partnerin
-Er überzeugt sie, dass Freundinnen eifersüchtig auf sie sind, Freunde und
Familie sie nicht leiden können/unfair sind
-Er kontrolliert/überwacht ihre Anrufe, Treffen, Social Media-Aktivitäten
-Er holt sie von der Arbeit ab. Holt sie von Treffen mit Freundinnen ab,
fährt sie hin
-Drängt sie zum Umzug, weit weg von Familie und Freunden oder/
und in seine Wohnung, sein Haus

  • Er wird omnipräsent in ihrem Leben (“Invasive surveillance”).

-Er kontrolliert ihren Tagesablauf, getarnt als Aufmerksamkeiten, nette Gesten,
Zeit (“Love bombing”).
-Zudem oft auch: Überwachung/Stalking mit Kameras und Trackern,
Anrufen auf der Arbeitsstelle.

  • Er schränkt ihre persönliche Freiheit ein

-Er sagt ihr, sie muss nicht mehr arbeiten, soll sich nicht alleine mit
Freundinnen treffen, er verfolgt ihre Aktivitäten digital und offline.
-Er lässt sie nicht mehr alleine Auto oder mit öffentlichen
Verkehrsmitteln fahren.
-Er redet ihr Ängste und Schwächen ein, die sie an ihn und seine Hilfe binden.

  • Gaslighting – Er entscheidet, wie die Dinge waren und dass sie mit ihrer Wahrnehmung und Erinnerung falsch liegt

-Wenn er sagt, es war anders, war es anders.
-Er manipuliert Ereignisse und lügt, stört aktiv ihre Wahrnehmung
-Sie traut ihrer Erinnerung und ihrer Wahrnehmung immer weniger

  • Beleidigungen und Erniedrigungen – Je sicherer er sich der Beziehung und Bindung ist, desto häufiger wird er beleidigend/kritisiert sie

-Es fängt mit kleinen Spitzen und Sticheleien an; er testet,
wie weit er gehen kann.
-Beleidigungen und Kritik nehmen zu, oft auch in Wellen (Reue dazwischen).-
Auch “Dog Whisteling: Beleidigungen, die nur sie erkennen kann”

  • Finanzielle Gewalt/finanzielle Abhängigkeit (setzt häufig ein,
    wenn Kinder kommen)

-Er setzt ihr ein Budget.
-Er lässt sie nicht arbeiten, redet ihr Berufstätigkeit aus
-Täter hat das Konto/Verträge auf seinen Namen.
-Er drängt auf gemeinsame Konten.
-Der Täter besteht und nutzt gemeinsame Kreditkarten/gemeinsame Kredite.
-Er versteckt/verheimlicht Geld und Schulden.
-Als Nachtrennungsgewalt: Unterhaltsbetrug und Betrug beim Zugewinn

  • Zwang zu traditionellen Geschlechterrollen

-Er betont und fordert die traditionelle Aufgabenverteilung Mann/Frau
(Haushalt, Kinder, Care-Arbeit).
-Er inszeniert sich als der Hauptverdiener, der sich am Wochenende
und nach Feierabend entspannen muss.
-Zudem: “Weaponized incompetence”

Coercive Control und Care Gaps stehen in einem direkten Zusammenhang.

  • Er bezieht die Kinder in seine Gewalt mit ein.

-Er erniedrigt und beleidigt sie vor den Kindern.
-Er lehrt sie, dass es in Ordnung ist, respektlos zu sein.
-Er sabotiert die Bindung zu den Kindern.

  • Eine Tendenz zur gesundheitlichen Kontrolle und Sabotage

-Er sabotiert den Schlaf, ist laut, störend, unzuverlässig,
z.B. wenn er die Kinderbetreuung übernehmen soll.
-Kontrolliert, wann sie duschen, essen, ruhen darf
-Streit als Mittel der psychischen Kontrolle
-Zudem Kontrolle und Sabotage von medizinischen Terminen/
Vorsorge-Terminen/Rückbildung

  • Eifersucht, nicht nur auf Männer, sondern auch auf
    Freunde, Familie und eigene Kinder

-Er kritisiert sie für Zeit mit Familie und Freunden.
-Er telefoniert ständig hinterher.
-Er wirft ihr zu Unrecht vor, mit Arbeitskollegen zu flirten, sich
anflirten zu lassen usw.
-Sie beginnt, Kontakte zu meiden und sich ihm “zu beweisen”
-Bindung zu den eigenen Kindern wird von ihm als Konkurrenz um
Aufmerksamkeit gesehen

  • Sexuelle Kontrolle

-Er bestimmt Frequenz und Zeitpunkt
-Er schmollt, beleidigt und droht sich zu trennen oder fremdzugehen,
wenn er nicht bekommt, was er will
-Zudem: (beginnende) sexualisierte Gewalt (=!)

  • Drohungen gegen Kinder & Tiere

-Sie muss tun, was er will, sonst richtet er Gewalt gegen Kinder und Haustiere
-Drohungen werden zum ständigen Machtinstrument

Wege aus der Gewalt sind möglich

Die Chance, diese schwerwiegende Gewalt zu verlassen, steht und fällt mit Aufklärung, Bildung und einem aufgeklärten Umfeld und Hilfesystem. Wer Coercive Control sicher erkennt, kann helfen. Entscheidend ist es, Betroffenen Glauben zu schenken, sie als Expertinnen ihrer Erfahrungen und mit ihrem Wissen um die Gewaltmuster des Täters anzuerkennen. Was ebenfalls zählt, ist die Bereitschaft, den Kontext einzubeziehen. Wer gerne betont, dass Frauen überreagieren, zu empfindlich oder psychisch auffällig sind, sich Dinge einbilden oder per se zu ihrem Vorteil lügen, ist hier raus. Auch Neutralität bei Coercive Control (zum Beispiel, wenn es um gemeinsame Kinder geht) bedeutet Täterschutz.

Für Gewaltschutz, insbesondere bei Coercive Control, braucht es Haltung, den Mut, Taten und Täter eindeutig zu benennen und die Handlungsbereitschaft, um Täter an der Kontrolle zu stoppen.

Betroffene, Beratende und nahestehende Personen, die sich in Fällen von Coercive Control Beratung wünschen, finden beim bundesweiten Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" unter der Telefonnummer 116 016 oder online per Chat kompetente Ansprechpartner:innen.

Fortbildungen und Vorträge zu Coercive Control, Nachtrennungsgewalt und weiteren Themen rund um Gewalt gegen Frauen und mitbetroffene Kinder bietet die BILDUNGS-INITIATIVE GEWALTSCHUTZ – Gewalt gegen Frauen mit Bildung bekämpfen.



Topic Gewalt gegen Frauen

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