Zu Daniel Loicks "Die Überlegenheit der Unterlegenen"
Stapelweise, beinahe gleichlautend die immer gleichen Thesen paraphrasierend, schreiben derzeit Autor*innen "Anti-Woke"-Bücher. Solche, die oft narzisstisch gekränkt - weil die Autor*innen ja auf der Seite des Guten stehen und aggressive Minderheiten das partout nicht anerkennen wollen - Forderungen breit treten, dass gesellschaftliche Minderheiten möglichst ihre Schnauze halten sollten. Somit ihre eigenen Erfahrungen gefälligst für sich behalten sollten, schon gar nicht deren politische Relevant einzuklagen hätten. Die Mehrheit habe schließlich Freiheit, Gleichheit und Demokratie verwirklicht und sei doch so vollends egalitär und aufgeklärt, dass sie keine Belehrung von Queers und Schwarzen benötige.
Alles Abweichende wird zum antiliberalen Partikularismus, Tribalismus, unbotmäßigem Fehlverhalten "skurriler Minderheiten" verklärt - unterscheide sich also schlicht unverschämt und illegitim von dominanzgesellschaftlichen Normalisierungsgeboten.
Daniel Loicks "Die Überlegenheit der Unterlegenen"[1] (Opens in a new window) setzt - im Ansatz gelungen - zu einem "Gegenangriff" an. Als Associate Professor für Politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam verfasst er ein flammendes und facettenreiches Plädoyer gegen die sich aggressiv absichernde Ignoranz der "Anti-Woken". Er arbeitet die in marginalisierten Lebensformen enstandenen Potenziale aus und begreift sie als denen der Dominanzgesellschaft überlegen. Gerade in Praxen, in Sicht- und Kooperationsweisen der Ausgegrenzten und Unterworfenen könne sich eben jenes Wissen, jene normativen Erwägungen, jene Ästhetiken und jene affektiven Solidarstrukturen herausbilden, die Gesellschaften als Ganze in bessere verwandeln könnten. Weil sie die blinden Flecken, die ignorierten Sphären, die überschriebenen Schichten gesellschaftlicher Erfahrungswelten zum Sujet erheben, ausleuchten und zu gestalten vermögen.
Ich konzentriere mich im Folgenden vor allem auf die Einleitung, das Kapitel 5 zur "Ästhetik von Gegengemeinschaften" wie auch das Schlusskapitel zur "Politik der Maulwürfe". Dadurch wird mir sicher vieles entgehen. Doch vielleicht gelingt es mir, durch das Herausgreifen von Aspekten wie auch einer Diskussion von Zugängen zum Thema, die ich als problematisch ansehe, diesem insgesamt so zustimmungsfähigen Anliegen Sichtweisen hinzuzufügen, es zu ergänzen. Solche, die sich aus meiner Berufspraxis als TV-Dokumentarist ergeben. Die Auswahl des Ästhetik-Kapitels erfolgt aus diesem Grunde. Im Rahmen unserer Musikdokumentationsreihen verarbeiteten wir viele Aspekte des Wirkens von Gegengemeinschaften. Erkenntnisse, die ich dabei gewonnen zu haben glaube, bilden den Hintergrund für meinen kritische Anmerkungen. Es handelt sich insofern nicht um immanente Kritik, sondern um eine solche, die versucht, den Diskussionskontext zu erweitern.
Den von Loick formulierten Prämissen folge ich. Einer vor Jahrzehnten in Sozial- und Wirtschaftsgeschichte geschriebenen Hausarbeit über Hannah Arendt gab ich den Titel "Die Urteilskraft des Paria" - ein Motto, das auch für mein Arbeiten in den Massenmedien maßgeblich werden sollte und in eine analoge Richtung weist.
Das Anliegen
Loick betont die Schärfe der Sicht Beherrschter auf die Unterdrückungsverhältnisse, in denen wir, in denen sie leben. Wer auf Seite der Herrschaft in deren systemischen Bedingungen buchstäblich wohnt, dem entgeht oft die Brutalität, in der Unterworfene Disziplinierung und Ausgrenzung erfahren.
Insofern bleibt das moralische Urteil der Dominanzgesellschaft zumeist im Ungefähren, Selbstreferentiellen, kann tatsächliche Ungerechtigkeit gar nicht begreifen.
"Mitglieder dominanter Gruppen sind für bestimmte Wahrheiten nicht aufmerksam. Sie betreffen auch die Affektstruktur und das Einfühlungsvermögen: Wer andere beherrscht oder tatenlos Zeuge dieser Beherrschung wird, muss Formen der Abstumpfung, Indifferenz, Kälte oder sogar der leidenschaftlichen Verachtung entwickeln, wie sie in gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zum Ausdruck kommen." (S.147)
So entsteht die relative Armut der Reichen, die zudem ästhetisch, affektiv und epistemisch im Defizitären agieren. Dadurch, dass sie Grenzen ziehen, Differenzen generieren, Macht ausüben und zurichten - um sich von dem abzuschotten, was denen hinter diesen Grenzziehungen widerfährt. Sie produzieren Schattenbereiche, in denen doch zugleich das bessere Leben situiert sein könnte - so dass ihnen Möglichkeiten und Potenziale menschlichen Miteinanders schlicht verborgen bleiben.
Diese zeigen sich in den flüchtigen Freiheiten und militanten Sorgestrukturen von Gegengemeinschaften (S. 150). Da, wo Unterworfene und durch die Macht der Anderen Subjektivierte sich ihrer Situation bewusstwerden können, entfalten sich im besten Fall diese Potenziale in Subkulturen. In der Gospelkirche, bei Work Songs, in queeren Kneipen oder in den Binnensolidaritäten und Freiräume der "Elendsquartiere". Parallel zum puren Überleben mit all seinen kriminalisierten Praxen kann sich so, z.B. im Hip Hop, bei allem reproduzierten Sexismus, ein Überschuss in den Artikulationsformen selbst herausbilden, der mit Sprache, Samples und Sequenzern neue Welten erschafft, in denen - wie in Warren G.s "Regulate" oder LL Cool Js "I need Love" - akustisch Zärtlichkeit sich entfaltet. Oder - wie in Salt'n' Pepas "Push it" - empowernde Weiblichkeit mit Wucht auf die Bühne und in die Charts drängt. Beides geschieht bis heute - so in manchen Tracks von Anderson Paak oder Beyoncé. Diese Beispiele füge ich hinzu. Dazu später mehr.
In Erweiterung von Hegels Schema rund um "Herr und Knecht", das hier nicht eigens referiert werden soll, formuliert Loick folgende Bedingung für die Rekonstruktion der Potenziale von Gegengemeinschaften (S. 15): sie dürfe keiner ökonomistischen Verengung folgen. Vielmehr ginge es um konkrete Subjektivierungsformen unter ebenso prekären wie kontingenten Bedingungen. Personalisierungen anhand von spezifischen Antagonisten seien zu unterlassen - es handele sich um Positionen in einem gesellschaftlichen Beziehungsgeflecht. Herrschaft sei zudem nix Statisches oder Kontinuierliches. Sie sei als eine stetige Modulation, Verschiebung, Verdichtung oder sich ausdifferenzierende gesellschaftliche Formation zu verstehen. All das sind selbst keine normativen Postulate. Sie entfalten sich am konkreten historischen Material bzw. Lektüren von Texten, die sich auf historisches Material beziehen.
Gegengemeinschaften konzipiert Loick als marginalisiert, also ökonomischer, politischer, sozialer oder kultureller Herrschaft unterworfen (S. 16) und "relativ stabile und eingespielte Formen der Sozialität, die auf der expliziten oder impliziten Bestätigung ihrer Mitglieder beruht" (ebd.). Das Buch beginnt mit einem Zitat von W.E.B. Du Bois, in dem dieser seine schwarzen Mitbürger fragt:
"Wenn ihr heute Abend ganz plötzlich zu vollwertigen Amerikaner:innen werden würdet, wenn eure Hautfarbe verblassen würde oder die Farbgrenze (color line) hier in Chicago auf wundersame Weise vergessen wäre, wenn ihr außerdem mit einem Mal reich und mächtig wäret: Was würdet ihr dann wollen? Was wäre euer erster Wunsch? Würdet ihr ein Auto mit den meisten PS fahren? Würdet ihr das prächtigste Anwesen an der Nordküste kaufen? Würdet ihr ein Rotarier oder ein Lion oder ein Was-auch-immer mit dem allerhöchsten Status sein wollen? Würdet ihr die auffälligsten Kleider tragen, die vornehmsten Abendessen geben und die längsten Zeitungsanzeigen schalten? Selbst wenn ihr euch solche Ideale ausmalt, wisst ihr in euren Herzen, dass dies nicht die Dinge sind, die ihr wirklich wollt. Ihr erkennt dies besser als der durchschnittliche weiße Amerikaner, weil wir, die wir in Amerika an den Rand gedrängt wurden, nicht nur eine gewisse Abneigung gegen das Geschmacklose und Grelle haben, sondern auch eine Vision davon, wie die Welt sein könnte, wenn sie wirklich eine schöne Welt wäre (...)."
(S.7 - die Quelle: W.E.B. Du Bois, »Criteria of Negro Art«, in: ders., Writings, New York 1986, S.993-1002, hier: S.994f.)
Diese Perspektive - wir wollen uns nicht "integrieren" in das, was von euch vorgegeben wurde, wir streben stattdessen nach einer besseren, schöneren Welt - ist maßgeblich für die Perspektive von "Die Überlegenheit der Unterlegenen".
Gegengemeinschaften
Gegengemeinschaften, so Loick, verstünden sich implizit oder explizit in Distanz zu dominanten gesellschaftlichen Strukturen. In Anknüpfung an Rahel Jaeggis Konzeption von Lebensformen begreift der Autor sie als Ausführung eines Bündel von Praktiken - gemeinschaftlichen, also geteilten Praktiken, die Gewohnheiten bilden. Sie sind an normativen Leitlinien entlang organisiert als wechselseitige Verhaltenserwartungen und Codierungen dessen, was als gut oder richtig gilt. Loick betont Verwandtschaften dieser Konzeption mit jenen wie der von Subkulturen und Gegenöffentlichkeiten. Die Gegengemeinschaften situieren sich in so vielfältigen und unterschiedlichen Beziehungsformen wie auch Institutionalisierungen wie Verwandtschaft oder Genossenschaft. So seien sie "chronisch schwer zu identifizieren" (S. 19).
Loick deutet sie als "unreine Praxiskontexte, auf längere Dauer angelegte Aushandlungs- und Revisionskontexte" (S. 19), die von Reibung und Konfliktualität gekennzeichnet blieben (S. 20) und diskutiert sie in Relation zu Hegels Konzeption von Sittlichkeit. Sittlichkeit nach Hegel will historisch gewachsene Formen des Zusammenlebens als Entfaltung der Vernunft selbst aufzeigen. Sie ordnet und reguliert Kooperation in einem Set von Normen, Konventionen und geteilten Präferenzen. Soziale Ordnungen somit, die Regeln bereitstellen - solche, die motivieren können, so oder so zu handeln wie auch individuellen Erwägungen anleiten, was richtig sei. Diese wirken dem Subjekt vorgängig als "objektiver Geist" und werden ggf. auch durch sozialen Druck gegen den Einzelnen durchgesetzt.
"Hegel glaubte, dass die Institutionen der europäischen bürgerlichen Gesellschaft eine rationale soziale Ordnung mit einer Freiheit garantierenden Sittlichkeit darstellten. In diesem Buch soll das genaue Gegenteil gezeigt werden: Gerade diejenigen Gemeinschaften, die sich den spezifischen Institutionen der bürgerlichen bürgerlichen Gesellschaft (wie Familie, Eigentum und Nationalstaat) widersetzen, haben eine überlegene Sittlichkeit entwickelt." (S.21)
Im Kontrast zu Hegels Konzeption, die auch einen rigiden konservativen Konventionalismus begründen kann (und das auch tat), setzt Loick den starr werdenden Schemata konkreter mehrheitsgesellschaftlicher Sittlichkeit das Fluide, Flüchtige, ggf. Antikonventionelle von in Gegengemeinschaften wirksamen Codes entgegen. Unter anderem unter Bezug auf Deleuze und Guattari verweist er auf den dynamischen, flüchtigen, konfliktträchtigen und suchenden Charakter gegengemeinschaftlicher Praxen (S. 29).
Majoritäten fixieren das Sein, Minderheiten situieren sich im Werden, kosten das Leben im besten Fall im Sinne seines instabilen Charakters aus und entfalten dabei ihre Kreativität. Sie können heterogene Allianzen eingehen und Überschreitungen initiieren, innerhalb zugewiesener Räume spielen statt nur zu funktionieren, vorgesetzte Werteordnungen angreifen. "Minoritär werden" - im Sinne von Deleuze/Guattari - heißt dabei nicht, sich einer konkreten, von der Mehrheit hergestellten Minderheit zuzuordnen, sondern in steter Transition zu leben. Also nicht das, was ist, zu verdoppeln, sondern es aufzuheben:
"Weil die hegemonialen Normen noch in die dysfunktional gewordenen Institutionen der Ökonomie, Politik und Intimität investiert sind, kann eine Befreiung von Herrschaft nur durch die »Vollbringung«, das heißt durch die sich selbst aufhebende Universalisierung der Praktiken von Gegengemeinschaften erfolgen. Abolition beginnt durch eine Rekonstruktion, durch einen Neu-Aufbau gesellschaftlicher Institutionen ausgehend vom Standpunkt der beherrschten Gruppen (...)." (S. 37)
Der Ansatz
Was aber nun ist der immer schon sozial situierte Standpunkt der Rekonstruktion einer Kritik an den Dysfunktionen? Wie schreibt man also für Suhrkamp als Professor ein Buch über die Artikulation von Gegengemeinschaften von der Harlem Renaissance (Opens in a new window) bis zu Act Up (Opens in a new window) , vom Combahee River Collective (Opens in a new window) biszu Hirja-Kulturen (Opens in a new window) in Pakistan und Indien?
Loick führt aus, wie verschiedene Strategien in der Wissensproduktion in gängigen Methoden dessen, was als Wissenschaft sich behauptet, wahlweise einfach überschrieben und aber ausgegrenzt wurden bis hin zu Epistemiziden (s. 40), also völligen Auslöschungen des Wissens von Kolonisierten und Marginalisierten bis zu Adaptionen und Aneignungen aus institutionell und ökonomisch privilegierter Position: Man holt sich als Professor*in mit Fixgehalt Flüchtlinge ins Seminar, lässt die erzählen und macht daraus ein Buch, für das man auch noch gut bezahlt wird. Sind diese Lehrenden nicht selbst Teil von Gegengemeinschaften oder wenigstens durch diese geprägt, so können
"(...) ihnen relevante Aspekte entgehen – sie haben einen schlechteren Zugang zu subalternen Wahrnehmungen, Interpretationsweisen und Archiven. (Sie wollen ihn häufig auch nicht haben, oder nur in begrenztem Maße, denn sie sind in die etablierten, gesicherten epistemischen Routinen affektiv investiert)." (S.42).
Das münde nicht in Fragen, wer sich zu was denn nun äußern und forschen dürfe, vielmehr habe sich die Theoriebildung zu vergegenwärtigen, dass sie selbst Teil eines gegenhegemonialen Denkens werden könne (S.43). Ein Teil, der zu einer radikalen Transformation des Politischen sodann beitrage. Kann das funktionieren? Die Frage stellt sich auch Loick.
Die skizzierten Prämissen diskutiert Loick auf den Feldern des Wissens, des Normativen, des Ästhetischen wie auch des Affektiven. Die Kapitel zu den jeweiligen Bereichen unterteilt Loick systematisch in voran gestellte Beispiele, eine Diskussion der jeweils in ihnen sich offenbarenden Standpunkte, zumeist an Hegels "Herr und Knecht"-Dialektik orientierten Analysen der Unterdrückungsverhältnisse und dem, was er als "Politik der Maulwürfe" begreift - ebenfalls im Anschluss an Hegel:
"Obwohl er für die Oberwelt lange Zeit unbemerkt ist, ist es der Maulwurf, der die Geschichte macht. Hegel lobt den Maulwurf vor allem für seine Ausdauer und Geduld: Unbeirrt vom eitlen Treiben an der Erdoberfläche wühlt er beharrlich weiter." (S.44)
Ein beharrliches Graben im Dunkeln, das doch neue Wege schafft. Seine Antwort auf Machtphänomene findet er in Praxen der Abolition und somit bisherigen Forschungsfeldern, die er beackerte: Eine Abschaffung von nur der Herrschaft dienenden Institutionen, die durch andere, bessere ersetzt werden müssten.
Loick verbindet zumeist europäische Traditionen, insbesondere der Kritischen Theorie, mit viel vielfältigen Stimme aus dem angloamerikanischen, teils auch afrikanischen Raum wie den erwähnten W.E.B. Du Bois, Aimé Césaire, bell hooks oder Lewis Gordon. Alleine diese systematische Verbindung lohnt die Lektüre, schlägt sie doch Brücken zwischen bisher oft parallel verlaufenden Strängen der Wissensproduktion.
Im Folgenden sei - wie erwähnt - vor allem das Kapitel zur Ästhetik referiert. Im Zuge meiner Arbeit an Musikdokumentationen verarbeiteten wir - immer in Teams - vielfältig auch die Artikulationsformen von Gegengemeinschaften. Sei es in der Geschichte der Soul-Music ("Soul Power"), des Übergangs von "Underground-" in "Mainstream-"kulturen ("Pop 2000 - 50 Jahre Popmusik und Jugendkultur in Deutschland") oder auch des Cool-Jazz ("Birth of ..."). Queere, explizit aus Frauensicht erlebte und schwarze Musikgeschichte in Relation zur Artikulation von "Sexualität" arbeiteten wir in "Sex'n'Pop" heraus - immer in Kommunikation mit Musik- und Kulturwissenschaftlern und zumindest versuchten, den gesellschaftlichen Kontext auch zu erfassen und zu thematisieren. Immer jedoch in Kommunikation auch mit Musiker*innen und Menschen aus Gegengemeinschaften wie z.B. Rezipienten. Wie, das habe ich in meiner Dissertation "Docutimelines" zu rekonstruieren versucht, die sich thematisch durchaus in Nähe zu "Die Überlegenheit der Unterlegenen" situiert.#
Ästhetik des Schönen?
"Schön ist eine Lebensform nicht dann, wenn sie Leben und Form vermittelt oder aneignet, sondern wenn Leben und Form zur Performanz und Expression ihrer eigenen Überschreitung werden. Einen Vorteil dabei, eine solche Überschreitung auszuführen, haben diejenigen Gruppen, deren Leben ohnehin gezwungenermaßen ein Leben des Kampfs und der Improvisation ist." (S. 184)
Zu diesem letzten Absatz des Kapitels hin entwickelt Loick seine Argumentation. Dieser folgt auf einen Abschnitt, in dem Fred Molten berichtet, wie er den "Sound der Revolution" als 10jähriger vernahm. Das schildert er in "In the break". Er vernahm ihn, als er Angela Davis bei einer Rede lauschte. Er meint damit nicht ihre Worte, sondern der Art, wie sie sprach. Wie sie Konsonanten ausklingen ließ. Wie Formen des Gesangs in die Rede Eingang fanden.
Angela Davis' Vater war, wenn Wikipedia nicht lügt, Prediger in einer von ihm geleiteten Kirche in Birmingham, Alabama. Die spezifische Sprech-, fast Singweise im Kontext schwarzer Kirchen in den USA erregte noch viel Widerwille bei der politischen Rechten, als Obama US-Präsident wurde. Sie dockt an eine "Call and Response"-Struktur an, die typisch für den Gospel und infolge auch Blues, Jazz und Soul ist. Der Prediger stellt Fragen an die Gemeinde, die im Chor antwortet. Sie ist deshalb so bedeutsam in schwarzen politischen Bewegungen der USA, weil Kirchen oft der einzige Ort waren, in denen sie historisch überhaupt kommunizieren konnten, dabei immer angewiesen auf mündliche Überlieferungen. Eben deshalb, weil zu Zeiten der Sklaverei manche zwar lesen durften, und dann nur die Bibel, nicht jedoch schreiben. Wir haben solche Zusammenhänge in "Soul Power", einer Dokumentarreihe über die Geschichte des Soul, aufbereitet. Die Struktur gesellschaftlicher Unterdrückung bringt ästhetische Formen hervor, die ein Eigenleben entwickeln. Ihre Genese hört man jedoch mit, wenn man gelernt hat wie. Was Mehrheitsgesellschaftern oft entgeht. Eben darin gründet die "Überlegenheit der Unterlegenen". Eben deshalb konnte Molten diesen Sound überhaupt wahrnehmen. Füge ich im Sinne Loicks hinzu.
Solche Artikulationen sind zentral für seine Argumentation: gerade rund um die schwarzen Kirchen formierten sich Gegengemeinschaften. Sie bildeten zugleich Formen der Opposition zu Jim Crow und Segregation als auch ein Tool zur Integration in die Sittlichkeit der christlichen Mehrheitsgesellschaft, wenn Stufen hin zur Bürgerlichkeit erklommen wurden.
Hier zeigt jedoch zugleich, wie ein und dieselbe Gegengemeinschaft auf zwei Gleisen fährt. Die Integration in den "Anstand" bürgerlicher Lebensformen arbeitet diese Artikulationsformen anders aus als es in gegengemeinschaftlichen Bestrebungen. Letzteres zeigt sich in Musik und Performance von James Brown, der immer auch den Prediger, teils verborgene "Voodoo"-Assoziationen, Anspielungen an das "In-Zungen-Sprechen" und Besessenheit, den König auch in selbstironischen Auftritten zelebrierte, die sich zugleich über rassistische Stereotype lustig machten - und das so, dass es den Weg in die Bürgerlichkeit gerade nicht ebnete. Auf der anderen Seite kultivierte Martin Luther King den Gestus des Predigers mit politischer Wucht zum Marsch in die staatlichen Institutionen hinein. All das sei referiert, um Loick zu erweitern. Die Beispiele stammen nicht von ihm.
Er beginnt das Kapitel, indem er die Hybridität und Diskordanz der Ästhetik von Gegengemeinschaften betont (S. 157). Sie entstanden im Kampf mit sie ausschließenden (oder einschließenden) Dominanzgesellschaften. Der Gospel erfleht den Auszug aus der Sklaverei, wenn "Go down, Moses" angestimmt wurde. Der Backbeat entstand in Worksongs, zum Beispiel beim Verlegen von Eisenbahnschwellen, durch den Rhythmus des Vorschlagshammers - so erklärte es mir einst Eric Burdon in einem Interview. Beispiele, die ich hinzufüge, weil sie mir in dem Buch fehlen, die aber dessen Argumentation durchaus stützen können.
Aber ist das schön, und wenn ja, inwiefern?
Wenn - Beispiel aus einer anderen Gegengemeinschaft der 70er und 80er Jahre, der "Tuntenbewegung", der im weitesten Sinne auch Georgette Dee entstammte - die Diseuse singt "In meinem Garten wächst ein Baum. Daran häng ich die Spießer auf. Doch es gibt so viele Spießer, und die gehen nicht alle drauf", dann singt sie zwar schön - aber über den Schrecken. Es entsteht ein Überschuß über die Erfahrung, die zugleich kultiviert wird.
Im bahnbrechenden "Strange Fruit" von Billie von Billie Holiday geht es ebenfalls um Erhängte - um die weißer Lynchjustiz in den Südstaaten der USA zum Opfer Gefallenen. Sie singt auch "schön" - aber ist Schönheit wichtigstes Kriterium? Es geht ja nicht um die Ästhetisierung des Lynchens. Der Schauder entsteht aus der Traurigkeit des Gesangs und der Verzweiflung des Textes, der noch von Früchten singen muss, wenn es um Mord geht.
Die Überlegenheit der Unterlegenen zeigt sich weniger im Schönen als in der Komplexität. Ein Song wie "Strange Fruit" ist ein guter Beleg dafür, dass Loicks Grundthese zutrifft, eine solche Kraft haben wenige Kompositionen zuvor entfaltet. Eine Form des unterdrückten Wissens unterläuft gängige Praxen des Politischen - weil gar keine andere Wahl bleibt als der Ausweg in den Song unter Bedingungen der Segregation, also die zur Entwicklung eigener Ästhetiken. Es geht nicht um Parteigründungen, Demonstrationen, es wird ein moralischer Appell an Menschenwürde eben ganz anders formuliert als in Politiken üblich. Es ist auch keine "Marseillaise", kein Bewegungssong der Arbeiter. Es unterläuft solche Modi des Musikalischen und wirkt gerade deshalb so tief.
Die Ästhetiken von Gegengemeinschaften sind somit mehrdimensional, verstehen es, Lebensweltliches so zu artikulieren, dass sie symbolische Sprengsätze in den Funktionsweisen administrativer Macht und ökonomischer Systemimperative zünden. "Schön" erscheint mir da zu kurz zu greifen. Gerade da, wo offene Formen der Politik nicht möglich waren, in der Pre-Stonewall-Ära, in der Segregation, entfaltete sich hier ein facettenreiches Spiel, das die Sujets der anderen Kapitel Loicks in sich aufhebt. Ja, es gibt noch ein Kapitel jeweils über das Affektive, die Trennungen sind analytische. Dennoch geht es z.B. in "Strange Fruit" um Wut, um Trauer, um Schrecken, Entsetzen, Ohnmacht, Verzweiflung, und das wird in einer Form dargebracht, die keiner reinen Ästhetik des Schönen folgt - und gerade darin liegt die Überlegenheit der Unterlegenen.
Gegengemeinschaften finde ästhetische Formen, die, sich zwangsläufig bei der Mehrheitsgesellschaft bedienend, über Tiefe und Komplexität verfügen - oder diese gleich völlig in nihilistischer Ironie aufheben wie der schwule Warhol mittels Kommerzaffirmation, die zugleich den Dünkel bürgerlicher Kunstinstitutionen ins Lächerliche zieht. Sie zeigen die Zerrissenheit, sogar die Nicht-Repräsentiertbarkeit schwarzer Körper in der Tradition der europäischen bildenden Kunst thematisieren sie wie die Werke Basquiats. Diese versuchen noch nicht einmal mehr, schön zu sein.
Spiel und Improvisation
Daniel Loick begibt sich nicht über den Weg solcher Analysen zu - mal ab von dem Fokus auf Schönheit - dennoch ähnlichen Resultaten, sondern wählt den über Schiller. Das Spielerische als Vermittlung von Vernunft und Leben zu begreifen kann Wege zu Ästhetiken der Gegengemeinschaften ebnen. Loick begreift Ästhetiken als Teil von Lebensformen und in deren Praxen wirkend. Sie können sich offensiv in Gegnerschaft zu anderen begeben - "nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Gesellschaft, in der er lebt" - und der Sozialdisziplinierung vermeintlich "zivilisierter" Kunst inmitten von "Unterschichten" mit einer Zügellosigkeit begegneten, die Vorbild für viele Gegengemeinschaften sei (S. 163). Sex and Drugs and Rock'n'Roll.
Aus Walter Benjamins Schriften entnimmt Loick das Motiv der Kunstproduktion wie auch -rezeption als Arbeit (niemand wusste das besser als all die schwarzen Musiker, die US-Unterhaltungsindustrien am Laufen hielten) (S.167). Aus Peter Weiss Romanessay "Die Ästhetik des Widerstandes" entleiht er den Gedanken, dass der verkörperte Vor-Schein zukünftiger Befreiung sich in proletarischen Gegengemeinschaften zeige und in deren Konflikthaftigkeit gründete (S. 171).
Wieder irritiert, dass Loick den Weg über Peter Weiss wählt. Klar, im Kontext der akademischen Sozialphilosophie kann man so vorgehen. Das merkt da auch keiner. Man kann sagen, dass sozialphilosophische Ansätze eben in Auseinandersetzung mit bisher veröffentlichtem Texten entwickelt werden. Aber warum keine Feldforschung zitieren? Warum nicht die existierenden Dokumentationen über Arbeiter*innenkulturen aus den 70er Jahren hinzuziehen? In Peter Weiss' Werk artikuliert sich nicht "das Proletariat" selbst. Wird das Unterfangen da nicht widersprüchlich? Kann die "Überlegenheit der Unterlegenen" sich nicht letztlich nur aus der Teilnehmer*innenperspektive Ausdruck verschaffen in einer Sprache, die der Lebensform selbst entstammt und nicht dem Romanessay?
Die für mich faszinierendste Analyse widmet Loick Saidiya Hartmans Werk "Aufsässige Leben, schöne Experimente" (S. 173 ff.). Die Faszination mag sich auch daraus speisen, dass Hartman selbst in den Zusammenhängen aufgewachsen ist, die sie beschreibt. Ganz der Prämisse folgend, dass eben daraus sich die Überlegenheit des Wissens der Unterlegenen ergäbe, dass sie einfach besser wissen und kennen, worüber sie schreiben. Das erfassen können, was der Dominanzgesellschaft entgeht. Loick folgt in seiner Darstellung dabei der von Lewis Gordon formulierten Sichtweise, dass allein schon die Bewältigung des Alltags in deklassierten und entwerteten schwarzen Lebensformen eine gewaltige Leistung darstelle. Dieser Lebensbewältigung selbst sei eine Ästhetik eingeschrieben, die Hartman zur Darstellung bringe. Gerade die oft als "unpolitisch" behaupteten Praxen seien von ästhetischer Wucht und konstitutiv für das, was die Gegengemeinschaften von jungen schwarzen Frauen im New York des frühen 20. Jahrhunderts austesteten: Sexuelle Freizügigkeit, Glücksspiel, Herumstreunen. Stehlen, Arbeitsverweigerung und Träume, die Sehnsucht nach Freiheit - auch Widerstände gegen die Unterwerfung unter die Disziplinarmacht pädagogischer und wohlfahrtstaatlicher Programme. Diese Praxen bezeichnet Hartman als fugitivity, eine Flucht vor den etablierten Subjektivierungsweisen administrativer und ökonomischer Macht.
"Hartman spricht von sinnlichen Erfahrungen, Rhythmen, Sprachen, Tanz, Musik, Leidenschaften. Schließlich impliziert die Beschreibung dieser Praktiken als schön aber auch ein spezifisches Geschmacksurteil über Lebensformen. Ein Teil der Rechtfertigung dieser Qualifizierung liegt in der Bedeutung des Imaginären und der Vorstellungskraft für jede Befreiungsperspektive: Die jungen Frauen erschließen durch »Träume« und »Begehren« Möglichkeitsräume, die einem juridisch-pädagogischen Blick entgehen." (S.175)
Es sei das, was Schiller (ob die jungen Frauen den gelesen haben, wissen wir nicht) als Spiel beschreibe, ein Zusammenwirken von Leben und Gestalt, angetrieben von Vorstellungen eines besseren, freieren Lebens. Die Praxen und Selbststilsierungen der Frauen mündeten nicht in Kunstproduktion, sie machten ihr eigenes Leben zum Kunstwerk. Einem, das sich hegemonialen Sichtweisen auf Kunst entzöge und da situiere, wo Erziehungsmaßnahmen und Kriminalisierungsversuche diese spezifische "Ästhetik der Existenz" disziplinieren wollten und als abseitig, unkultiviert und verdorben diskreditierten. Gerade diese Praxen des Exzesses unterwerfe ein an Inhaftierung orientiertes System der Sozialdisziplinierung (S. 177). Im Anschluss an Fred Morten arbeitet Loick heraus, dass der Umgang mit ästhetischem Material, zu dem auch die Gestaltung des eigenen Lebens gehöre, in Brüchen sich situiere - denen zwischen dominanter und marginalisierter Lebensform. Es bildeten sich Risse, Einstülpungen, Kollisionen, Steigerungen, Schnitte. Zentral seien hierbei Techniken der Improvisation, die Schillers Spiel entsprächen.
Somit: Breakbeat, Inside-Outside-Improvisationen im Jazz, also solche innerhalb und außerhalb der vorgegebenen "westlichen Harmonik". Scratchen mit Vinyl aus dem Second Hand-Laden. Das Adaptieren und dann improvisierende Decodieren von "Standards", also Songs von Cole Porter über Brecht/Weil bis hin zu sentimentalen Schnulzen wie "My foolish" Heart". Die Aneignung auch von Techniken der u.a. über den Pianisten Lennie Tristano vermittelten Zwölftonmusik. Die Anwendung europäischer Kirchentonarten jenseits des Sakralen in Clubs, die Zertrümmerung der westlichen Harmonik durch Ornette Coleman - all das bestätigt diesen Ansatz im Kontext des Jazz. Loick steigt jedoch nicht in das Material hinein. Ich bin mir nur nicht sicher, ob das funktioniert, wenn man das, was praktiziert wurde, nicht auch als Gegenrationalität zu dem akademischen Diskurs über Gegengemeinschaften auffasst - was nur dadurch aufzuheben wäre, dass man in und mit diesen Praxen auch universitäre Reflektionstypen unterläuft, sie modelliert, persifliert, aufgreift und destruiert.
Der Jazz, der in Deutschland selbst zur akademischen Disziplin mutierte, in der Menschen Prinzipien der Tritonus-Substitution und des Quintfalls lernen, ist dafür ein naheliegendes Beispiel. Erweist er sich mittlerweile als eine der wenigen musikalischen Praxen, die auch als "hochkulturfähig" gelten. Was zu Theorien der Improvisation führt wie im Falle von Martin Feiges "Philosophie des Jazz". Ein sehr gutes Buch. Die Praxis jedoch, die Dee Dee Bridgewater uns einst im Interview erläuterte, dass die Destruktion der westlichen Harmonik im Free Jazz Ornette Colemans ein Signal gesetzt habe, sich nicht von Weißen erzählen zu lassen, wie man zu musizieren habe und welche Sprache dabei zu verwenden sei, erreicht es jedoch nicht.
All das verweist auf die Strukturen, die Loick selbst analysiert, die jedoch komplexer werden, steigt man wirklich in das Material hinein, das nicht ohne weiteres übersetzbar ist in die Sprache Schillers. Dass der Rhythmus der Rede bei Angela Davis so zentral ist, wie Loick zitiert, verweist darauf, dass eben die ästhetischen Ausdrucksmittel von Gegenkulturen, gerade jene, die auch wirklich wirkungsmächtig wurden, tatsächlich andere sind als Abhandlungen über sie.
Das mag trivial erscheinen, ist es aber nicht, wenn man z.B. in Kodwo Eshuns "More Brilliant Than The Sun" hineinliest. In diesem Werk müht er sich, eine "jammende" Theoriesprache zu entwickeln, die mit Schiller nicht mehr viel zu tun hat, dafür aber viel mit Archie Shepp und Sun Ra.
Auseinandersetzungen damit fehlen im Werk von Loick, auch mit einem Phänomen wie Disco. Selbst aus der Musik und den Clubs von queeren Latinos und Schwarzen entstanden, in großen Studios wie denen Giorgio Moroders musikalisch nachempfunden, über Africa Bambaata, Kraftwerk integrierend, und andere Musiker zurück in den Hip Hop geflossen, um von da aus die neuen Methoden des Djings bei Larry Levan oder Frankie Knuckles zu inspirieren - das sind andere Bewegungen als jene nur innerhalb von Gegengemeinschaften. So entstand jedoch zusammen mit dem HRNG-Sound von Divine der Soundtrack für eben jene Subkulturen, die unter dem am meisten litten, wogegen Act Up ankämpfte: AIDS.
Pointe bei alldem ist, dass es oft auch Mittel und Produktivkräfte der Dominanzkultur sind, die in alledem angeeignet, variiert, decodiert, deskonstruiert, transformiert werden. Meine Erachtens entgeht durch die strikte Oppositionsbildung, an Kämpfen entlang entwickelt, zwischen Gegengemeinschaft und Dominanzgesellschaft Loick das, was José Esteban Muñoz in "Disidentification" beschreibt: der Platz in der Gesellschaft, zu transformierende Selbstverständnisse wie internalisierte Diskriminierung, also etwas aus dem zu machen, was aus einem gemacht wird, dabei auch noch auf das angewiesen zu sein, was die Macht der Dominanzkultur selbst hervor gebracht, das alles begreift m.E. "Die Überlegenheit der Unterlegenen" nicht vollständig und tendiert deshalb hier und da auch zur Romantisierung der Lebensformen, in die Gegengemeinschaften gewzungen werden.
Ich teile die These, dass sich in diesen Überlegenes zeigt. Die Analyse der Prozesse, in denen das erkämpft wird, orientiert sich jedoch zu sehr am Begriff der Herrschaft in hegelmarxistischer Tradition und ignoriert oft das, was Michel Foucault als Macht beschrieben hat. Deren Strategien, Diskurse, Subjektivierungs- und Problematisierungsweisen wirken auch in Gegengemeinschaften selbst. Nicht nur als Unterdrückungsverhältnis, sondern als etwas, mit dem umgegangen wird. "Subjektivierungsweisen" thematisiert Loick ausdrücklich. Er vernachlässigt jedoch die Bereiche, in denen gerade in der Ästhetik die Vorgaben der Dominanzgesellschaft genutzt und umgedeutet werden - wie sich schon in der Aneignung von Begriffen wie "queer" zeigt -, die zudem als internalisiert Diskreditierung Konflikte innerhalb der Gegengemeinschaften erzeugen. Dadurch fällt die Analyse in manchen Passagen hinter Foucault zurück.
Solche Bewegungen und Entwicklungen des ästhetischen Materials tragen zudem eine teilweise ergänzende Struktur zu jener in eingangs zitierten Passagen aus dem Werk von Du Bois in sich - ein anderes Verhältnis von Gegengemeinschaften und Dominanzkultur als lediglich Gegnerschaft. Motown wirkte auch emanzipatorisch. Aber eben anders. Man kann dann sagen, dass die Musiker*innen aus den Projects, Sozialbauprojekten, in Detroit gar keine Gegengemeinschaften gebildet hätten oder W.E.B. Du Bois verraten, aber ist das schlüssig? Meine These ist eher, dass die auf Integration und die auf Gegnerschaft zielenden Bewegungen sich oft gleichzeitig und ineinander verschränkt formieren. Weil sie gar keine andere Wahl haben.
Ob das nun alles einzufangen ist, wenn man es auf Schiller zurückbezieht? Im Rahmen akademischer Begriffsbildung mit Sicherheit. Es verfehlt dann aber ggf. Dynamiken in Gegengemeinschaften selbst. Die sich ja - im queeren Fall - auch um den ESC gruppieren, nicht nur um das Schuz.
Loicks Bezug auf Hartman arbeitet treffsicher hinaus, wie jenseits der Produktion von Werken sich auch in nichtkünstlerischen Praxen Ästhetik entfaltet - eben im Alltag der Lebensformen selbst. Aber kann man dabei stehen bleiben, wenn von der Kirche bis zur Disco - das "Sanctuary" in New York, ein Club in den frühen 70ern, befand sich sogar in einer Kirche, Faithless produzierten den Hit "God is a DJ" - inmitten dieser Lebensformen von Musikkulturen geprägte Orte zentral auch für Gegengemeinschaften waren? Kino wäre ein anderer, zu erwähnender Fokus, der z.B. in der indischen Diaspora in Großbritannien eine zentrale Rolle spielte.
Mein Entschluss, an eine Kunsthochschule zu gehen und dort im Bereich Künstlerischer Forschung zu promovieren, verdankte sich zunächst dieser Erkenntnis: dass das, was in Philosophie oder Medienwissenschaften über, so würde ich es weiter eher nennen, Subkulturen referiert wird, nicht einfangen kann, was dort geschieht. Nicht, weil ich zur Intellektuellen- oder Wissenschaftsfeindlichkeit tendieren würde, eher, weil eine Transformation der Sprachen Marginalisierter in den akademischen Diskurs gar nicht das treffen können kann, was in deren Praxen und Werken, immer sozial denotiert, artikuliert wird.
Das mündet weniger in eine Kritik Loicks als in die Frage, wie man sich denn solchen Sujets so annähern kann, dass man ihnen gerecht wird. Eigentlich müsste man Arbeiten wie die von Loick resamplen, mit Musik und Bewegtbildern versehen und an den Subjektiven von Mitgliedern der Gegengemeinschaften brechen. Hier und da ist uns so was im Ansatz gelungen in den Doku-Reihen.
Etwas enttäuschend ist so auch, dass Loick das Ästhetik-Kapitel mit Marcuse beendet.
"Statt aber, wie Schiller, die Agenten dieser avantgardistischen Lebensformen in »auserlesenen Zirkeln« zu suchen, sieht der von den globalen Revolten zutiefst beeindruckte Marcuse vor allem in den »Randgruppen« und »Außenseitern« Manifestationen dieser »Neuen Sensibilität«. Sie ist kein Ziel mehr, sondern eine bereits wirkliche Praxis. Rebellische Lebensformen erfinden eine neue Sprache, neue Literatur, neue Musik, neue Körperpraktiken, neues Denken: Die neue Sensibilität drückt sich für Marcuse in der Aneignung des Begriffs »Seele« (soul) durch die schwarze Kultur und ihre »orgiastische« Musik sowie ihr geschmackvolles Essen aus. (S.181-182)"
Das verpufft jedoch, wenn man es nicht am Material erprobt. Marcuse, hier die Gegengemeinschaften der 50er und 60er Jahre reflektierend und auch Angela Davis beeinflussend, setzt sich mit der Entwicklung der aus dem R&B entstandenen Musiken, der Hippies, des Psychedelic-Rock usw. auseinander. Er war zugegen, Zeitzeuge, als vor allem durch schwarze Musiken angeregt die (weißen) Körper sich der Tanzschul-Disziplin entzogen und stattdessen "auseinander tanzten" und headbangten.
Aber wo ist Warhol? Wo Velvet Underground? Wo auch das, was seit den 70ern sich etablierte vom Hip Hop über Synthie Pop bis Jungle, von Ton Steine Scherben bis Rage against the Machine oder Talyor Swift, die sich mit Trump anlegt? Man kann vielleicht behaupten, dass durch den Neoliberalismus sowieso alle Gegengemeinschaften sich aufgelöst hätten, aber stimmt das denn? Tatsächlich ist einerseits zu merken, dass z.B. die Klimabewegung, so sie denn überhaupt Gegengemeinschaften bildet, kaum eigene Soundtracks hervor gebracht hat. Der Jazz in London derzeit ist jedoch aktiv dabei.Musik ist auch nicht das einzige Mittel, eine deviante Ästhetik der Existenz kann sich auch um Lieferdienste herum bilden oder in Chorweiler. In “Die Überlegenheit der Unterlegenen” klafft eine historische Lücke in den Ausführungen zur Ästhetik. Sie bricht Ende der 60er Jahre ab.
Diese Lücke wirkt gravierend, weil die folgende Prämisse, die das Werk bestimmt, zugleich wahr und falsch ist:
"Das Leben der Underdogs und Outsider ist schöner als das der Reichen und Mächtigen. Zum anderen verstehen sich Gegengemeinschaften nicht als defizitär, sondern als avantgardistisch: Sie wollen nicht in die Gesellschaft aufgenommen werden, sondern ihr entkommen." (S.183)
Wenn man sich Bereiche im Hip Hop anschaut, der da soziale Imaginationen artikuliert, ist Status und ökonomischer Erfolg, Reichtum und Macht oft zentral - während Snoop Dogg sich zugleich über Stereotype lustig macht, die Weiße über Sitten und Gebräuche schwarzer Gegenkulturen in ihren Köpfen aufbewahren. Warhol amüsierte sich königlich über das Nachdrucken von Dollarnoten mit Siebruck, affimierte radikal Kommerz. Das etablierte zugleich sein Weg in der Kunstszene, deren Regeln er zugleich änderte - und er betrieb doch zugleich die Factory voller Drag Queens. Basquiat kam aus dem Underground und enterte den Kunstmarkt, ohne sich dagegen zu wehren. Motown, Death Row, Beats Electronic wirkten gerade durch kommerziellen Erfolg. Disco und House, klar an Gegengemeinschaften gekoppelt in den frühen Clubs, im Paradise Garage, im Warehouse in Chicago - wirkten auf Dominanzgesellschaften dahingehend, dass ihre Ästhetiken Räume für Marginalisierte schufen, sich freier bewegen zu können. Auch, weil sie in durchaus kommerziellem Rahmen agierten und mit kommerziellen Produkten spielten. Die Ästhetiken der Gegenkulturen der 60er Jahre wirkten derart mächtig, dass sie kollektiv Körper befreiten - ohne dass allesamt gleich in eine Kommune zogen. Folgenschwer war eher die massenmediale Verbreitung und der Kauf von Platten der Beatles und von Jimi Hendrix. Die inmitten der Kulturindustrie gefertigten Serien auf Netflix & Co schaffen Überlebensfolien für Queers weltweit. Selbst dann, wenn - wie im Falle von "Royal Blue" - auf einmal ein Thronfolger und der Sohn der US-Präsidentin eine Affäre haben. Das aber vielleicht auch, weil es nicht nur schön ist, im Slum zu leben?
Klar, man kann das alles als "progressiven Neoliberalismus" abtun, als "Gegengemeinschaft" gar nicht erst begreifen. Es entstammt aber einem Streben zumindest mancher danach, aus diesen kommend, schlicht ein Stück vom Kuchen abbekommen zu wollen. Weil im "Underground" zu verharren denen in den Koltan-Minen im Kongo vielleicht auch nicht hilft?
Insofern stimme ich Loick hinsichtlich seines "großen Finales" einerseits zu:
"Die Ehe, der Markt und das Parlament etwa sind keine prä-etablierten Container, die von beliebigen Akteur:innen mit beliebigen Inhalten gefüllt werden könnten. Sie sind vielmehr bereits die Form und der Ausdruck heteronormativer, kapitalistischer und rassistischer Herrschaft. Der Kampf um Befreiung kann daher nie einfach (das heißt: nie nur oder vorrangig) ein Kampf um Inklusion oder Integration in diese Institutionen sein. Der Kampf um Befreiung muss immer (das heißt: immer auch und vorrangig) ein Kampf gegen die bestehenden und für andere Institutionen sein. Die Ausgangsperspektive dieses Kampfes ist die der Unterdrückten und ihrer kollektiven Lebenszusammenhänge, das heißt die Perspektive von Gegengemeinschaften. Gegengemeinschaften artikulieren eine Verweigerung gegenüber Forderungen nach und Einladungen zur Integration und Assimilation." (S.249)
Für andere Institutionen, ja.
Aber geht das komplett außerhalb der bestehenden?
Abolition
Loick formuliert zurecht, dass sich in Gegengemeinschaften jene Kriterien herausbilden (können), die Kritik an bestehenden Institutionen formulieren und selbst das Potenzial zur Universalisierung in sich tragen . Aus den Erfahrungen marginalisierter Lebensformen lässt sich lernen, was Leid und Solidarität, was Ausbrechen aus den Disziplinierungen durch ökonomische Systemimperative und administrative Macht ermöglicht und so Vorstellungen von Gerechtigkeit bereitstellt. Solche, die nicht einfach mit weißer Klassenjustiz Gefängnisindustrien etabliert, auf dass manche auch noch gut daran verdienen.
"Das Projekt der Abolition impliziert schon dem Namen nach eine Kritik am Reformismus: Die Befreiung von Herrschaft kann nicht durch graduelle, partielle, schrittweise Verbesserung, sondern nur durch radikale, umfassende und dringende Abschaffung erreicht werden." (S.250)
Aber wie? Loick setzt auf Kampf. In einer Diskussion klassisch marxistischer Ansätze weist er "Arbeit" als alleinigen zentralen Begriff widerständiger Konzeptionen zurück - in interessanter Analogie zu Habermas' "Theorie des Kommunikativen Handelns". Neben "Scheißliberaler!" kritisierte die Linke in den frühen 80ern, dass Habermas Kommunikation statt Arbeit, Verständigungsverhältnisse, aber auch die Kritik strategisch-funktionalistischer Praxen und Organisationsweisen in Wirtschaft und Administration als zentrale in der Gesellschaftstheorie behauptete. Statt rationale Verständigungsleistungen hinsichtlich der Folgeschäden administrativer Macht und ökonomischer Systemimperative in Lebenswelten als Ausweg zu konzipieren, arbeitet Loick das heraus, was Marginalisierte eh alltäglich erfahren - den Kampf um, nein, Anerkennung eben nicht alleine, sondern auch dafür, überhaupt jenen Raum zu schaffen, in dem sich Wissen, die normativen Ansätze, die Ästhetiken und affektiven "Energien" entfalten können. Um sich so als Avantgarde einer besserer Gesellschaft zu erweisen. Einer, in der bessere Institutionen möglich seien (S.265 ff.). Selbstorganisierte Gegeninstitutionen zu den herrschenden könnten den Anfang bilden (S. 259-60, 261) - das formuliert Loick als ein Konzept der "Multiple Powers". So zum Beispiel:
"An die Stelle karzeraler »Lösungen« für soziale Probleme werden etwa der Ausbau der Sorge-Infrastruktur zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse wie Gesundheit und Wohnen, die Garantie materieller Voraussetzungen für demokratische Teilhabe und die radikale Demokratisierung von Entscheidungsfindungsprozessen, etwa durch die Einrichtung von Rätestrukturen, gefordert. Zentral ist dabei, dass diese Errungenschaften nur dann Teil eines abolitionistischen Programm sein können, wenn sie auf authentische Weise unter der Kontrolle der Communities selbst stehen und nicht einfach Teil entweder staatlicher Sozialpolitik oder neoliberaler Individualisierung sind. Gegen-Institutionen werden daher nicht vom Staat gefordert, sondern durch unterdrückte und marginalisierte Gruppen selbst etabliert." (S.259-260)
Das Problem dieser Konzeption ist, dass analoge Praxen und auch Forderungen erschreckend erfolgreich z.B. in Ostdeutschland von der politischen Rechten und Neonazis schon umgesetzt wurden. Ganz explizit als "Sorge"-Projekte - die FDJ verschwand, eine Lücke entstand. In diese stießen die Rechten vor - wir kümmern uns um die Kids, leisten Nachbarschaftshilfe usw.: wir kümmern uns. Auch LGBT-befreite Zonen in Polen folgten diesen Mustern, ebenso die Forderung, nunmehr zur Aufarbeitung der "Corona-Diktatur" Bürgerräte zu etablieren. Oder besten gleich per Plebiszit zur Entschlossenheit zu finden, alle “Artfremdem” zu deportieren.
Das soll gerade kein Hufeisen schmieden. Loick formuliert auf hunderten Seiten überzeugend Kriterien des Besseren, die sich aus Unterdrückungserfahrungen speisen. Zwar greifen selbst das noch ehemalige SED-Opfer auf und wenden es gegen die Linke. Was dabei rauskommt zu universalisieren, das widerspräche jedoch allen Kriterien, die Loick gründlich erarbeitet.
Seine Konzeption des Kampfes zeigt jedoch keine Instanz auf, die das Recht des Stärkeren in die Schranken weisen könnte. Vielleicht habe ich das auch nur überlesen. Diese so uralte Frage der politischen Theorie scheint mir unbeantwortet zu bleiben.
Loick konzipiert Safe Spaces - wie massiv die Mehrheitsgesellschaft gegen solche vorzugehen bereit ist, dass kann gerade im Falle trans nachvollzogen werden, wo solche für die Mehrheitsgesellschaft vor trans politisch gefordert werden. Wie soll es möglich sein, aus eh schon marginalisierter Position dagegen anzukämpfen?
Historisch haben die meisten "gegengemeinschaftlichen" Projekte, Hippie-Kommunen, Christiana, Hafenstraße, die Indie-Label und Läden der Alternativbewegung haben nicht lange überlebt oder aber wurden doch wieder Teil des Systems. Die Medien der Arbeiterbewegung, "Vorwärts" etc., haben an Bedeutung verloren, die taz ist einfach eine bürgerliche Zeitung, das "Freie Senderkombinat" in Hamburg hat kaum Relevanz.
Alternativökonomien rund um Drogenhandel z.B. können tatsächlich als Gegengemeinschaften begriffen werden. Dirk Laabs begab sich einst für unsere Dokureihe "Who's afraid of America" in ein von Gangs regiertes Viertel in den USA - wo lauter Heranwachsende ihr Erwachsenenalter gar nicht erst erreichten. Keine Utopie …
Die Gegengemeinschaften, die am ehesten Räume für Marginalisierte schufen, waren zumeist eher jene, denen es gelang, eigene ökonomische Strukturen aufzubauen, die nicht zugleich auch kriminalisiert werden konnten.
So denke ich, dass ich "Die Überlegenheit der Unterlegenen" definitv ein immens wichtiges Buch ist. Das Grundanliegen, im Wissen, in den Ästhetiken, in Perspektiven auf Normatives, im Affektiven von Gegengemeinschaften jene Kriterien zu entwickeln, wird überzeugend erarbeitet. Das Buch schärft den Blick auf den Horror der Dominanzkulturen, ohne einen “Opferdiskurs” zu führen. Es fordert zu recht Alternativen bereitstellen, die in gegengemisnchaftlichen Praxen gründen und dass sie es sind, die universalisiert werden sollten.
Nur dass man, um es zu vertiefen, sich auch tiefer in deren Erzeugnisse hineinbegeben muss. Mehr Kodwo Eshun statt Schiller könnte vielleicht helfen. Und ich denke, dass mehr Bereitschaft, auch ökonomische Macht anzustreben erforderlich ist, nimmt man das Erarbeitete ernst. Kampf heißt immer auch, Gegengemeinschaften mit Machtmitteln zu versehen. Dass vielen in den USA das gelungen ist, zeigen aktuell die massiven Gegenschläge der Rechten.
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[1] (Opens in a new window) Daniel Loick, Die Überlegenheit der Unterlegenen, Berlin 2024 - alle im folgenden genannten Seitenzahlen beziehen sich auf das, was in der Kindle-Version als Seitenzahl angegeben ist