Zur “Hamburger Schule” anlässlich der Dokumentation “Über den Kiez in die Charts”
Eine Doku provoziert derzeit den berühmten "Sturm im Wasserglas". Den in einer durch und durch selbstreferentiellen Szene. So hagelt es harsche Urteile:
Christian Ihle weist diese Passage als Originalzitat Bernd Begemanns (Opens in a new window) in einem Facebook-Chat aus. Bei X wurde schon gewitzelt, dass jungen Forschern auf dem Feld populärer Kulturen bis dato eine Band mit dem Namen "Die goldenen Orangen" gar nicht bekannt gewesen sei. Denn diese, also die Goldenen Zitronen (Opens in a new window), tauchen in der Dokumentation auch auf. Zusammen mit Ostzonensuppenwürfel machen Krebs. Eine BILD-Schlagzeile, nebenbei erwähnt.
Ich habe beide Bands inmitten der Hafenstraßen-Barrikaden live gesehen. Den Zugang zu dem Terrain an der Balduintreppe flankierten "brennende Ölfässer" wie in einem Hip Hop-Video, das Bronx-Klischees zitiert. So habe ich diese Clips zumindest in Erinnerung. "The Message" von Grandmaster Flash oder "Fight for your right to party" von den Beastie Boys waren zu dem Zeitpunkt bereits erschienen. Wir tanzten auf WG-Parties zu Les Rita Mitsouku und Cameos "Word Up". "I'm your Pusher" von ICE T dürfte sich gerade im Studio befunden haben, um sodann den so genannten "Gangster Rap" mit zu intiieren.
Es geht im Folgenden um die zweiteilige Dokumentation "Hamburger Schule - Über den Kiez in die Charts (Opens in a new window)" . Oder vielmehr um das, was sie thematisiert. Die "Hamburger Schule" eben. Die Doku selbst soll schon aus kollegialen Gründen nur insofern eine Rolle spielen, dass sie Kontextualisierungen andeutet, die sie anschließend nicht einlöst. Anosnten sei sie nicht weiter kommentiert. Solche Kontextualisierungen, die auf Phänomene hinweisen, in den Arten der Musiker*innen, Diskurs, Text und Musik zu konzipieren, kaum eine Rolle spielten. Zumindest keine zentrale. Soweit ich informiert bin. Ich bitte um Korrektur.
Das Konzert der Goldenen Zitronen inmitten der Hafenstraßen-Barrikaden besuchte ich mit einer Freundin, ich nenne sie hier D.. Ein, zwei Jahre danach saßen wir gemeinsam im Dschungel, einer Post-Punk-Kneipe, an der Schanzenstraße. Damals befand er sich noch auf der anderen Straßenseite. D. hatte geschwollene Lymphknoten. Wir alle wussten, was das heißt. Alle gaben Tipps - Vorsicht, nippe lieber nicht mehr an den Gläsern anderer Leute. Solche Ratschläge prasselten auf sie ein. Sie wollte es nicht wahrhaben. Und starb 1994 an den Folgen von AIDS.
Ungefähr zu der Zeit also, als Tocotronic plärrten "Wir wollen Teil einer Jugendbewegung sein" - während sich die Loveparade füllte, auf der auch die von Frankie Knuckles inspirierte Musik zum Tanzen animierte, jenem Frankie Knuckles, in dessen Warehouse in Chicago schwarze Queers zu seinem Track "Tears" auf's Überleben hofften - und "Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk". Zum Gitarrensound.
AIDS taucht sogar auf in der Dokumentation. Folgendermaßen:
"Off-Text: In den Nebenstraßen der Reeperbahn entstanden Kneipen und Clubs, die nichts mit Rotlicht zu tun hatten. Die Angst vor AIDS hatte St. Pauli verändert.
O-Ton Carol von Rautenkranz: Die Krise des Kiezes durch AIDS konnte man überall sehen, das heißt die ganzen Sex-Etablissements wurden weniger und wurden halt umgewidmet.
O-Ton Rebecca Spilker: Und da gab's halt tolle Möglichkeiten auszugehen."
Ich musste an der Stelle laut lachen. Weil es frappierend sich anguckt, dass sterbende Menschen, solche, die ihre Jobs verloren haben, solche, die sich vorm Sterben fürchteten, ja, eine ganze Branche, in der auch Themen wie Machtmissbrauch, Drogenkriminalität, Migration, rund um die Schmuckstraße auch trans eine Rolle spielte, hier mal eben im Falle deren Verschwindens als "Möglichkeit auszugehen" behandelt wird. Eine halbe Generation Schwuler war verstorben, die Nachfolgegeneration, zu der ich gehörte, hatte eine Scheißangst, ständig wurde irgendwer im Bekanntenkreis positiv getestet. Wird nicht erwähnt.
Das ungefähr war der Habitus, den ich damals schon in den Songs der Hamburger Schule zu hören glaubte. Noch eins drauf:
"O-Ton Christoph Twickel: Und wir waren natürlich auch nicht immer willkommen. Also ich erinnere mich an ein Konzert im "Mitternacht", das ja mitten auf St. Pauli ist in der Nähe vom Hans-Albers-Platz, da hat Yo La Tengo gespielt und dann standen wir nach dem Konzert alle draußen rum und dann haben die Prostituierten aus dem Fenster Wasser auf uns gekippt, weil die das Scheiße fanden, dass wir da draußen herumstanden. Weil wir das Geschäft verdorben haben."
Und dann weiter in der Doku. Nächstes Thema wird erzählt. Ja, gehört nicht zur Musik oder zum Thema der Doku. Aber wenn man den Ort schon thematisiert ...
Das Um Mitternacht lag direkt am Hinterausgang der Herbertstraße. Dort hat Domenica Niehoff lange gearbeitet. Eine Persönlichkeit, die in jener Zeit, da die "Hamburger Schule" loslegte, in diversen Talk Shows präsent war, den Ruf von Huren als Arbeiter*innen festigte und sich später für an AIDS Erkrankte einsetzte.
Aber es gab ja nun Raum für coole Kneipen.
ICE T habe ich oben nicht zufällig erwähnt. "I'm your Pusher" trug dazu bei, die höchst ambivalente Figur des Pimp, des Zuhälters, im Hip Hop zu etablieren. Wer damals nicht nur Nirvana oder Bernd Begemann hörte, bekam so etwas mit. Ich habe selbst 1994 bei BRAVO TV eine ICE-T-History gebaut. "The Sinner Loses", ein Song über Drogenkriminalität seines Projektes "Bodycount", das eindrucksvoll Hardcore mit Hip Hop verband, tauchte darin auf.
Klar, man kann auch Blumfelds "Dosis" - "wir tun unser Geld in die Trinkerheilanstalt" - in so eine Richtung hören, "Ich-Maschine" als Album-Titel als kritisch der Ignoranz begegnend lesen, ebenso "Ghettowelt" als Attacke auf Selbstreferenzen und Gefahren des Spießertum rezipieren. Dann, wenn Andere "keine Frau, bloß Mutter" werden könnten, so singt es im Song, um das in inbrünstiger Empörung zum immergleichen Gitarrenriff ins Mikrophon zu bellen.
Klar kann man all das, und es geht auch gar nicht darum, nun plakative Sozialkritik in Texten einzufordern, wobei die Franz-Josef Degenhardts besser war als ihr Ruf. Es geht eher um die Hermetik des Umgangs mit musikalischem und auch sprachlichen Material, das, zwischen Plattitüden gegen Anpassung und Experimentallyrik angesiedelt, sich als etwas von allen internationalen Strömungen Abgekoppeltes noch der Wahrnehmung dessen verweigert, was gerade, bei der Arbeit gestört, zum Wassereimer greift, um sich zu wehren. Um sich anschließend wortreich für Selbstkritik in Sachen Selbstbezogenheit selbstreferentiell zu feiern in manchen Songs.
Die Doku beginnt mit einer Einstellung des Kometen, eine Kneipe in der Gerhardstraße auf St. Pauli. Gegenüber befand sich ein winziger Club mit kleiner Tanzfläche und langer Bar, der erst Or, dann E.D.K. hieß. Das Or wurde von drei Freundinnen von mir eröffnet - 3 Frauen alleine mitten auf dem Kiez: Miss Nico, auch DJ-Legende und bis heute als Künstlerin aktiv, ihre Freundin Lommel, die unter anderem SM-Möbel designte, und meine Freundin Christine - sie machte die Tür.
Rocko Schamoni behauptet den legendären Pudel-Club, Keimzelle der Hamburger Schule, wir erfahren in der Doku, dass auch Helge Schneider dort vorbei schaute, als "gay".
Im Or trafen wir uns tatsächlich und tanzten zu "Cruzified" von der Army of Lovers oder Snap. Es tobte ein pralles queeres Leben auf St. Pauli, in der Holiday Bar, in der Wunderbar, im Purgatory. Nichts von dem war Bezugspunkt der Hamburger Schule. Musikalisch öffneten sich Die Sterne ein wenig in Richtung Dance, hin zu Prinzipien elektronischer Musik auch das "Weiße Album" von Tocotronic dank des Produzenten Tobias Levin. Aber sonst?
Liest man britische Pop-Autoren wie Simon Reynolds, Mark Fisher, Kodwo Eshun, dann ist Breakbeat, Jungle, Drum'n'Bass DER Sound der 90er Jahre. Goldie, Tricky, Massive Attack erlebten sie als relevant. Da haben sich diese Autoren ihr Flirren, ihre Nervosität, ihre Inspiration, ihr Lebensgefühl geholt, das sie in der "Retromania" der Nullerjahre vermissten, dessen Abhandenkommen sie beklagten.
Die Hamburger Schule hat es trotz aller Grunge-Bezüge, auch 90er, oder denen vielleicht zu Pavement & Co geschafft, diese Retromania schon ein Jahrzehnt zu früh vorwegzunehmen und als neu zu verkaufen. Nein, sie haben nicht wie Mark Ronson die alten Sounds aus dem Schrank geholt, um damit dann Amy Winehouse Erfolge zu produzieren. Das, was interessant war in der Hamburger Schule, hatte es zumeist aber bei Fehlfarben, Der Plan oder D.A.F. schon ein Jahrzehnt zuvor gegeben.
Und sie blieben zumeist rockistisch. Soll heißen: sie blieben diesen rythmisch geraden Gitarrensounds und Riffs ohne Groove treu, die selbst Blur 1997 in Tracks wie "Death of a Party" brachen und modulierten in Anspielungen auf Trip Hop-Rhythmen oder in Noise auflösten, zumindest teilweise. Gitarrenrhythmen, denen alles ausgetrieben blieb, was queere oder schwarze oder queere schwarze Szenen seit Jahrzehnten in die Musik eingebracht hatten.
Tocotronic posierten als Jungs, die sich konformen Männlichkeiten entzogen, und machten sich über Grunge-Attitudes lustig. Man hörte das aber nicht in der Musik, am Umgang mit Sprache. Klar, das war der Bruch, die Ironie. Aber eben kein Hauch von Donna Summer oder Frankie Knuckles. Textlich entstanden Meme, die so auch in der Werbung funktionieren würden. Wogegen gar nichts einzuwenden ist, aber die Haltung gab sich doch zugleich als etwas völlig anderes aus.
Deshalb sind diese Auslassungen, all das, was in der Doku ausgespart und übergangen wird, dieses Hinwegspringen über AIDS-Tote, über den ganzen Aktivismus rund um "Hamburg Leuchtfeuer" und "Red, Hot & Dance", AIDS-Benefiz-Veranstaltungen, über das Leben der Anderen auf dem Kiez in den Pornokinos oder der Herbertstraße, auch kein Zufall und hat sich heute z.B. bis in die Fanszene des FC St Pauli hinein als Ignoranz tradiert.
Es behauptete sich als Abschottung gegen die "Diktatur der Angepassten" (Blumfeld), ohne jene, die jenseits von Szene-Riten gegen die Normalitären im Alltag sich durchzusetzen hatten, dabei hörbar zu machen. Es wetterte gegen Rechtsradikale und völkischen Deutschtum, ohne sich mit Quellen, Rhythmen und Sprachformen aus BPoC-Communities künstlerisch auseinanderzusetzen. Ich freue mich über Gegenbelege.
Hip Hop habe ich bis auf ICE-T bisher als etwas, mit dem man sich in den 90ern auseinandersetzen musste, wie auch immer, bisher ausgespart. Ganz zu Beginn dessen, was die Hamburger Schule werden sollte, haben Captain Kirk sich dem geöffnet. Sie tauchen in der Doku nicht auf, auch wenn Tobias Levin, mit dem man sich über alles hier Geschriebene vortrefflich streiten kann, beste Grüße, als eines der Mitglieder auch mal kurz, zu kurz, etwas sagen darf.
Okay, und dann kamen Fettes Brot und die 5 Sterne ... aber das ist ein anderes Kapitel.
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