Zu Tagträumen und Fantasie bei Bloch und Marcuse - und der Netflix-Serie "Dead Boy Detectives"
Ernst Bloch, jüdischer Exilant, jahrelang staatenlos, driftete in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts auf der Flucht vor den Nazis quer durch Europa. Er irrte sich brutal, als er 1935 die stalinistischen Schauprozesse verteidigte. Davon distanzierte er sich sodann deutlichst, um Verzeihung bittend. Anschließend wandte er sich der Kraft des Träumens, der Phantasie, der Zugewandtheit zu einem Noch-Nicht-Seienden, Besseren zu - in "Das Prinzip Hoffnung". Verfasst inmitten finanzieller Nöte im US-Exil betrachtete er das Fantasieren, das alltägliche Imaginieren parallel zur Alltagsbewältigung als produktive Kraft, um Zukunft zu antizipieren, ein Noch-Nicht-Bewusstes ertastend, sich so auf den Weg zu begeben.
"Der Tagtraum kann Einfälle liefern, die nicht nach Deutung, sondern nach Verarbeitung verlangen, er baut Luftschlösser auch als Planbilder und nicht immer nur fiktive."[1] (Opens in a new window)
(Bloch, Bd. 1, S. 96)
Traum avancierte dank Sigmund Freuds "Traumdeutung" zum Sujet in der Philosophie und auch in den Künste, so z.B. jenen der Surrealisten. So diskutiert auch Bloch in seine Ausführungen zum Tagträumen Freud. Er hebt im Gegensatz zur Psychoanalyse die Differenz zwischen Tagtraum und jenen hervor, die in Nächten mit wirren Bildern und fantastischen Imaginationen den Schlaf erfüllen. Ihm zufolge bewege sich die freudianische Psychoanalyse in den Rastern der bürgerlichen Gesellschaft, betrachte Tagträume nur durch die Filter sittsamer Ordnungen als Vorstufe zum nächtlichen Traum.
Tägliche Luftschlösser unterschieden sich jedoch von den im Schlaf imaginierten Labyrinthen, so Bloch. Man habe Einfluss auf sie, könne sie stoppen, variieren und auch als Inspiration begreifen. Sie seien in die Welt eingewoben, in der Mensch sich situiert. Bei jedem Briefträger, jeder Controllerin entwickelten sie sich unaufhörlich als Parallelwelt zu täglichem Stress - auch Künstler könnten sie nutzen.
Bloch erkundet dieses Tasten und Fantasieren des Tagtraums. Er verbucht es nicht unter infantil. Es wirke in ihnen auch kein "Zensor", der unbewusste Vorgänge nur teilweise ins Bewusste drängen ließe, wie Freud dieses bei nächtlichen Träumen behauptete. Bloch zitiert vielmehr Rousseau, aus dem vierten Buch seiner "Konfessionen":
»Ich erfüllte die Natur mit Wesen nach meinem Herzen; ich schuf mir ein goldenes Zeitalter nach meinem Geschmack, indem ich mir die Erlebnisse früherer Tage, an welche sich süße Erinnerungen knüpften, ins Gedächtnis zurück rief und mit lebendigen Farben die Bilder des Glücks ausmalte, nach denen ich mich sehnen konnte. Ich stellte mir Liebe und Freundschaft, die beiden Ideale meines Herzens, in den entzückendsten Gestalten vor und schmückte sie mit allen Anziehungen des Weibs. «
(Bloch, Bd. 1, S. 103)
Bloch bezeichnet diesen Prozess im Rahmen des Tagträumens als Suche nach der "Auswendigkeit ihrer Innerlichkeit" (S. 103). Es projiziert sich Gewünschtes als Nicht-Vorhanden und doch erwünscht in die Wirklichkeit, formt einen Kontrast zu ihr.
"Die Wunschbilder setzen hier sogleich äußere Gestalt, in einer besser geplanten Welt oder auch in einer ästhetisch gesteigerten, in einer ohne Enttäuschung."
(Bloch, Bd. 1, S. 205)
So enthält der Tagtraum im besten Fall Stoff für die Utopie - in kleinen, alltäglichen Entwürfen. Als Vorstufe der Kunst beabsichtige er Weltverbesserung, ein Voran in den Dimensionen der Fantasie. Der Tagtraum dringe ein in Geschichten, Musik und Gemälde - und ja, auch in den Film. Er verweigere sich im besten Fall auch der Entsagung, wenn auch der Realist vor ihnen fliehe und sie sogleich zensiere, als Unsinn abtue.
Was Bloch in diesen Passagen nicht thematisiert, sind von Hass getränkte Gewalt- und Vernichtungsfantasien, solche von Macht und Unterwerfung. In späteren Passagen kommt er darauf zurück. Eher kapitalistisch geprägte Träume von Konsum und dem neuen Smartphone oder einem "freien Unternehmertum", das ausgerechnet mit Elon Musk als Vorbild von Reichtum und Dominanz herbei fantasiert, gibt es ja auch. Das prägt unzählige Videos bei Youtube, die an die Kraft der Visionen vermeintlicher Genies gekoppelt Anleitungen formulieren, wie man auch da hinkommen könne, wo Musks Milliarden sich häufen. Mit solchen Aleitungen verdient ein Andrew Tate sein Geld.
Das, was Tagträume füttert und inspiriert, ist meines Erachtens situiert in einer Mischung aus alltäglichen Erfahrungen und medialem Input. Im Guten wie im Schlechten. Vorstellungen des Guten oder Guttuenden stacheln sie ebenso an wie Angstfantasien vor "Islamisierung" oder Trugbilder einer angeblich Kinder indoktrinierenden LGBT*-Lobby.
Mir erscheint, dass diese in Zeiten von Social Media intensivierte Tagtraumsteuerung politisch unterschätzt wird. Der Social Media Assistent des AfD-Politikers Maximillian Krah hielt jüngst einen Vortrag, von dem wiederum Ausschnitte bei Xwitter kursierten, dass ein großer Teil der Heranwachsenden täglich ca. 90 Minuten Tik Tok nutzten. Man habe also ein sich täglich eineinhalb Stunden öffnendes Fenster, um die Tagträume von Teens mit Inhalten und Ängsten zu füllen.
Diese Tagtraumdynamik kann stärker wirken als Argumente, eben weil sie vorweg ist. Sie ist dem vorgängig, was erst dann in Gründen bereitsteht. Weil sie in das Noch-Nicht-Bewusste eindringen kann und sodann, sich verdichtend, auch Schwurbler und Querdenker zu Handlungen treibt. Es ist diese noch wirre Zone des assoziierenden Ahnens, Verdichtens, Fühlens und manchmal Fürchtens, das auch kreativen Prozessen voran gehen kann - wenn man z.B. eine Dokumentation gestaltet und das Material sich in der Vorstellung manchmal wie von selbst arrangiert. Sie wirkt jedoch auch überall dort, wo politisch Gefährliches rund um Körperlichkeit fantasiert und hinterher geglaubt wird, es könne gerade Grausiges injiziert werden im Falle von Impfungen.
Die imaginativen Energien prägen die Gegenwart von Gesellschaften. Sie können sich an Rationalitäten, also Gründe, koppeln oder sich völlig verselbstständigen bis hin zu Verschwörungstheorien. In ihnen zeigt sich potenziell Raum für Empathie - durch hypothetische, also vorgestellte Perspektivenübernahme der Leidender in anderen Weltregionen können Solidarisierungseffekte entstehen, durch massenmedial verbreitete Informationen initiiert. Sie können aber auch Tagträume einer "Größe" animieren, an der teilzuhaben "Make America Great Again" angeblich ermöglichen würde. Sie wirken einfach. Wenn Kinder spielen, üben sie so Rollen ein.
Das erscheint beinahe trivial, aber wird diese Form des "Tagträumens" nicht dennoch unterschätzt in seiner Wirkung? Man erhebt sich gerne über die, die "Rote Rosen" gucken oder glauben, sich in Popstars zu verlieben. Die dahinter liegenden Bedürfnisse könnten jedoch auf etwas verweisen, was in Vorstellungen einer besseren Gesellschaft aufzuheben wäre. Kapitalismus produziert unaufhörlich Wünsche und neue Bedürfnisse. Diese Dimension zu vernachlässigen und stattdessen ausschließlich auf Gefahren - Klimakatastrophe, Rechtsextremismus, Kriminalität - zu verweisen, das kommt politisch gegen diese Wunschproduktion nicht an.
Es zeigt sich auch in Medienschaffen. Vieles ist Technik, Handwerk, Abarbeiten - dieser Assoziationsraum des unverdauten Tagträumens geht zumeist voran, bevor zur Gestaltung geschritten wird. Wie Gesellschaften funktionieren, das kann man oft daran ablesen, in welchen etablierten medialen Formen dieser "Flow" sich sodann verdichtet. Deutschland ist, ab von den ganzen Pilcher- und Traumschiff- Varianten, wie immer sie aktuell auch heißen mögen, eher von Krimi-Dominanz geprägt. Also: Mustern staatlich wiederherzustellender Ordnung. Visuell folgt die Umsetzung zumeist dem, was Robert Bramkamp den "Canyon des Retro-Realismus (Opens in a new window)" nannte. Dies sind die endlos reproduzierten gleichen Einstellungen, Totale, Halbtotale, Close up, in eintönigem Wechsel, Dialog mit Gegenschnitt, und alles muss so aussehen, wie man das gewohnt aus dem "Tatort" kennt. Die Unterschiede zwischen Daily Soap und 90-Minuten-Fernsehfilm liegen zumeist im Budget, nicht wesentlich in der Bildsprache.
Visuell ausnahmsweise imaginierende Ansätze wie "Babylon Berlin" beschäftigen sich mit der Vorgeschichte des Nationalsozialismus, was wichtig ist, aber eben nicht nur, wo ist die Zukunft?, oder bauen rund um Nietzsche. und Schopenhauerzitate ein dystopisches Rätsel rund um Zeitparadoxe, drei Staffeln lang inmitten Brandenburger Wälder - so die Serie "Dark".
Mir fällt kein deutsches Beispiel ein, in dem im Sinne von Bloch Hoffnung oder Utopie antizipiert würde. Auch in den Medienwissenschaften wäre mir nicht aufgefallen, dass das Imaginäre noch zentral diskutiert würde. In beiden Fällen bitte ich um Korrekturen, falls ich irre.
Im Literarischen drängt parallel aus Frankreich soziologisch reflektierte Literatur, "Autofiction" von Didier Eribon und Edouard Louis, auf den Markt. Sie versteht sich als Ansporn zur politischen Veränderung durch akribische Beschreibung der Realität. Aber wohin denn verändern?
"Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus", so formulierte es Frederic Jameson, und Mark Fisher baute darauf seine Konzeption eines "Capitalist Realism" auf, der nur die herrschenden Prinzipien immer neu reformuliere, so dass keiner mehr sich langweile bei alltäglicher Berieselung, aber alles doch langweilig sei.
Einen Kontrast dazu bieten oft jene Produktionen, die in Teenie-Segmenten einfach den ungebremsten Mut zu Fantasieren haben.
Meistdiskutiertes Beispiel dürfte "Sex Education" als neue Variante alter sexueller Revolution sein - ein Diversity-Festival pubertärer Lüste und Probleme, sie zu leben. Irritierender und spannender ist aktuell die Netflix-Serie "Dead Boys Detectives". Der Ausgangspunkt: zwei Geister gründen ein Detektivbüro, um anderen Gespenstern ins Jenseits zu helfen - und müssen dabei immer aufpassen, dass die Tod, gespielt von einer schwarzen Frau, sie nicht erwischt und selbst hinüber befördert.
Die Serie ist nicht nur charmant besetzt und bildstark. Wie in vielen aktuellen Serien agieren die Schauspieler*innen am Set oft in der Greenbox. Die Szenerie, in der sie agieren, bauen Menschen, die das können, am Computer und setzen sie ins Grün. Man kann sich ganztägig über KI und Entfremdung aufregen; zumindest sind die Animationsprogramme eindeutig Imaginationsräume. Sie ermöglichen noch beinahe biblisch Leben im Inneren von Seemonstern zu zeigen, in deren Magen, so zu sehen in "Dead Boys Detectives" - und das Mutieren eines Katers inmitten von latent ordinär plaudernden Katzen zum Katzengott in menschlicher Gestalt und zudem stockschwul.
Große Menschheitsfragen werden in der Serie verhandelt. Es gibt Himmel und Hölle, in die klassisch nach dem Tode gerät, wer je nachdem gut oder böse als Lebender handelte. Manch einer gerät aber auch in die Hölle, weil er "rein technisch gesehen" einem Dämon geopfert wurde. Dort muss er sich immer wieder neu von einem aus Puppenköpfen bestehenden Spinnenmonster fressen lassen. Die Irrtümer der Bürokratie aufgrund unscharfer Kriterien sind ebenso Thema wie unterdrückte Lüste, und zwei koboldartige Wesen, die Menschen infizieren, um sich von der Zuwendung, die diesen zuteil wird, so lange zu ernähren, bis sie sterben, werden in einem Glasbehälter gefangen und beschimpfen wie Internettrolle ganztägig die Menschen, die sie dort einsperrten. All das ist Teenie-Stoff und doch erfüllt von einem derart lustvollen Mythenmix, dass es inmitten alltäglicher politischer Horrorszenarien erfrischt und Spaß macht, es anzuschauen. Noch dann, wenn ein von einer Hexe herbei gezauberter Pilz aus einer anderen Dimension beinahe die beiden Helden absorbiert.
Eine schöne Pointe zeigt auf, dass Mobber und Schwule, die ihre internalisierte Homophobie sadistisch an anderen ausagieren, in die Hölle kommen: "If you punish yourself, everywhere becomes hell", so lautet eine Dialogzeile. Jene, die gleichgeschlechtliche Liebe leben wollen und suchen, können jedoch aus dem Fegefeuer flüchten. Bei us-amerikanischen Usern auf X führte das zu Xweets, die von tiefen Befreiungsgefühlen angesichts dieser Szenen berichteten nach Jahren evangelikaler Indoktrination.
Lilith als Urgöttin des Schutzes von Frauen tritt auch in Erscheinung. Für Jugend und Schönheitswahn werden Kinder geopfert und Geister gefoltert. Die Serie formuliert zugleich eine Kritik der verwalteten Welt, weil das Jenseits in fehlerhafter Bürokratie erstickt und dabei Unsterbliche psychisch so zurichtet, dass sie kaum Mitgefühl verspüren. Den Übergang in Himmel und Hölle organisiert eine überbordende und tendenziell überforderte Verwaltung. Sie arbeitet noch klassisch mit Karteikästen, Akten und Formularen und kann mit Unschärfen nicht umgehen, will alles vereindeutigen und verdinglicht so gewissermaßen die frisch Verstorbenen.
Kurioserweise passen diese Sequenzen rund um eine rigide Bürokratie als Zugang zum Jenseits mit Motiven der Älteren Kritischen Theorie. In Light-Version, klar. Adorno und Marcuse analysierten diese Mechanismen als "verwaltete Welt", durch und durchzweckrational und instrumentell organisiert.
Marcuse sah in ihr, freudianisch inspiriert, das herrschende Realitätsprinzip wirken. Eines, das Menschen dazu bringe, aus Nutzenkalkül unmittelbare Bedürfnisbefriedigung aufzuschieben und stattdessen den Lohn erst nach der Arbeit und das in einem ständigen Aufschub der Erfüllung nur dosiert zu erleben: Triebverzicht als Bedingung von Kultur. Dennoch rebelliert das Lustprinzip gegen diese Herrschaft der Zweckrationalität, dem "Zwang zum Selbstzwang", wie Norbert Elias es nannte. In Marcuses "Triebstruktur und Gesellschaft" - englisch "Eros and Civilization", ein ansprechenderer Titel, wobei die Erstausgabe 1957 noch "Eros und Kultur" hieß - ist es das Lustprinzip, das sich in Fantasien zeige als Wiederkehr des Verdrängten unter Bedingungen des herrschenden Realitätsprinzips.
Psychoanalytische Filmdeutungen sind ja mit guten Gründen out (und eine detektivische Traumdeutung wie in Hitchcocks “Spellbound” würde wohl auch niemand mehr ins Bild setzen); dass Kino, Fernsehen und Streamingdienste derart viel filmische Fantasien von Mord, Totschlag, Horror, Krieg, Gemetzel, Zombie- und sonstigen Apokalypsen so penetrant zelebrieren, könnte ein Hinweis darauf sein, dass nicht alles in diesen Ansätzen falsch ist - sind eben diese, mal ab von Zombies, im realen Weltgeschehen häufig aufzufindenden Prozesse doch zugleich das, wovor die bürgerliche Welt sich durch Selbstkontrolle zu schützen sucht. Meistens.
In allen möglichen Varianten der "Love Story" tritt das Realitätsprinzip in Konflikt mit dem Ausleben genussorientierter Fantasien. Wo ich schon bei Teenie-Serien bin: In "Young Royals" trifft der Thronfolger Schwedens auf einen Mitschüler aus "unteren Schichten", verliebt sich, beginnt eine Affäre und wird infolge mit für Prinzen geltenden Realitätsprinzipien konfrontiert. Wie gerade soziale Gegensätze jene Konflikte generieren, die in Liebesgeschichten verhandelt werden, braucht hier nicht durchdiskutiert werden; noch die Anleitung für Drehbuchautoren, zwischen "want" und "need" in der Figurenentwicklung zu unterscheiden, dem, was diese bewusst oft in Nutzenkalkülen anstreben und dem, was sie tatsächlich brauchen, um sich wohlzufühlen, spielt arg abgespeckt mit diesem Gegensatz. Marcuse zufolge ist das Lust-Ich machtlos eingeschlossen in die Korsette des Realitäts-Ich:
"Durch die Organisation des Lust-Ich in ein Realitäts-Ich wird die Phantasie als abgetrennter seelischer Vorgang geboren - und wird zu gleicher Zeit in den Hintergrund gedrängt. Die Vernunft siegt: sie wird lustlos, aber nützlich und "richtig"; die Phantasie bleibt lustvoll, aber sie wird nutzlos und unwahr - ein bloßes Spiel, Tagträumerei."[2] (Opens in a new window)
(Marcuse, S. 125)
Filmisches kann man, es passiert nur erstaunlich selten, in einem solchen Sinne begreifen - auch da, wo Angstlust wirkt. Slasher-Streifen könnte niemand ertragen, wenn angenommen würde, dass da Reales zu sehen sei. Welche gesellschaftlichen Kräfte in diesen wirken, mal ab von Wes Cravens postmodernem Spiel um Plot-Prinzipien in "Scream", das ist gesellschaftlich schon interessant. Ich tippe wie beim Fußball auf Angstbewältigung: auch dort kann Schreckliches geschehen und das eigene Leben geht doch weiter.
Seltsamerweise wurden dennoch oft eher realistische Filme als Blaupausen für die Analyse des Mediums als solchem verwendet, sei es bei Bazin, bei all den Analysen des italienischen Neorealismus oder dem "Direct Cinema" folgenden Ansätzen der Dokumentarfilmtheorie, mag durch Tarantino, Lynch und andere auch ein Wandel des Denkens eingetreten sein.
Zumindest proklamieren gerade progressive Ansätze dennoch oft das Gebot des "Realistischen" - aber warum eigentlich? Wieso Tolkien Meloni überlassen, anstatt zumindest die Verfilmungen als ziemlich miese Fantasien herauszustellen, Imaginieren als Möglichkeit auch utopischen Denkens jedoch zugleich zu suchen und zu fordern?
"Dead Boys Detectives" ist eine Comicverfilmung. Die Figuren stammen aus dem "Sandmann"-Universum Neil Gaimans. Zwei Verstorbene spuken wie geschildert durch die Welt und lösen Fälle, in denen Geister in fürchterlichen Situationen feststecken - sie erleben zum Beispiel in Endlosschleifen die eigene Ermordung immer wieder neu. Weil diese auf Video gebannt wurde und das den Übergang ins Jenseits verhindert. Fast ein Witz über Medien: Video verhindert die Erlösung.
Comics spielen auf internationalen Märkten eine große Rolle im Anstacheln von nicht nur Teenager-Fantasien. Die Figuren tauchen in Social Media-Universen wie im Falle von ASMR bei Youtube wieder auf, werden in Bits & Pieces bei Xwitter, Instagram und Tik Tok gesampelt und zirkulieren so in Lebensformen als neue Mythologien. Diese diskutieren in ihren Geschichten Gut und Böse, Leben und Tod, Sex und Entsagung, Macht und Ohnmacht, Helden- und Schurkentum.
Viele der ostasiatischen Serien basieren auf Mangas oder Webtoons und arbeiten mit so obskuren Fantasien wie jenen, dass ein Schüler per App sich als Zuhälter betätigt, um so seinen Schulbesuch zu finanzieren ("Extracurricular"). Oder sie erschaffen Antihelden, die als Serienkiller ausschließlich Serienkiller ermorden ("A Killer Paradox"). In diesen Produktionen, beide bei Netflix anzuschauen, ist es die Notwendigkeit zur Kriminalität im alltäglichen Kapitalismus, die in Widerstreit mit oft traditionaler Moral tritt und die Story antreibt. Eine politisch gewichtige Konstellation.
Explizit politische Wirkung entfalten die "Black Panther"-Comics, die in afrofuturistischen Sphären eine eigene Mythologie entwerfen. Ich durfte neulich im Zuge der Dreharbeiten zu einem Film über Roy Lichtenstein, indem auch Comic als Genre eine große Rolle spielte, Aletha Martinez (Opens in a new window) interviewen, die an "World of Wakanda" mitgezeichnet hat und reflektierte, wie ihre Alltagswelt als schwarze Frau in New York auf die Figurenkonstellationen wirkt inmitten eher industrieller Fertigungsweisen. Wieder trifft hier der in Form gebrachte Tagtraum der Zeichnerin auf mediale Mythologie.
Handsignierte Originalzeichnung von Aletha Martinez, die sie mir zum Abschied schenkte
Realitätsprinzipien formen so die marktkonforme Gestaltung, und doch sieht man in jedem Bild das sie transzendierende Lustprinzip.
"Die Phantasie sieht das Bild der Wiederversöhnung des Einzelnen mit dem Ganzen, des Wunsches mit der Verwirklichung, des Glücks mit der Vernunft. Für das geltende Realitätsprinzip ist diese Harmonie ins Reich der Utopie entrückt, aber die Phantasie besteht darauf, dass es Wirklichkeit werden muß und kann: daß hinter der Illusion ein Wissen steht. Die Wahrheiten der Vorstellungskraft werden erst realisiert, wenn die Phantasie selbst Form annimmt, wenn sie ein Universum der Wahrnehmung und des Verständnisses - ein subjektives und gleichzeitig objektives Universum - schafft. Das geschieht in der Kunst."
(Marcuse, S. 126-27)
Das, was Marcuse schrub und was auch Slogans wie "Fantasie an die Macht" noch in den 60ern inspirierte, scheint mir in vielen Produktionen der "Trivialkultur" stärker zu wirken als in mancher als "kritisch" geltenden Kunst. In Comic-Universen entwickelten sich rund Batman, Spiderman und andere komplette Mythologien, oft auch reaktionäre, in denen auch gesellschaftliche Konflikte diskutiert werden. Man könnte da mitspielen, und ja, viele machen das auch schon, seltsam unbemerkt vom politischen Diskurs.
Gilles Deleuze bezeichnet in "Das Zeit-Bild" das Fabulieren als widerständigen Akt der Unterworfenen, die in dominanten Zeichenregimen keinen Raum für ihre Artikulation fänden.
"Der spezifische Vor-Schein, den Kunst zeigt, gleicht einem Laboratorium, worin Vorgänge, Figuren und Charaktere bis zu ihrem typisch-charakteristischen Ende getrieben werden, zu einem Abgrund oder einer Seligkeit des Endes."
(Bloch, Bd. 1, S. 11)
Als ich mir mit viel Spaß "Dead Boys Detectives" anschaute, packten mich selbst Tagträume. Sie handelten davon, Bloch und Marcuse wieder ernst zu nehmen und auf die Kraft des Imaginären in der Utopiegestaltung zu setzen. Mut dazu haben, das Realitätsprinzip zu kappen und stattdessen einfach ganz auf das Spielen zu setzen ... mit den Mitteln wuchernder Fiktionen.
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[1] (Opens in a new window) Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1976, alle Seitenzahlen im Folgenden beziehen sich auf diese Ausgabe
[2] (Opens in a new window) Marcuse, Herbert, Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1979, Bd. 5 der Gesammelten Schriften; alle Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe