Zum 40. Todestag von Michel Foucault
Ein einziges Gewimmel und Gewusel elektrisiert erscheinender Menschen präsentierte sich mir - das Foyer vor einem der großen Hörsäle im Erdgeschoß des "Philosophenturms" der Hamburger Universität. Büchertische voll mit Titeln wie "Überwachen und Strafen" und "Sexualität und Wahrheit" standen herum.
Es begab sich so im Herbst 1988, ein Streiksemester. Mein erstes. Eingeschrieben für Französisch mit Philosophie als Nebenfach kannte ich Foucault lediglich aus dem Brief eines Freundes aus Freiburg. Er hatte eine Fotokopie des berühmten Bildes eines kahlen Hinterkopfes, eben der Foucaults, mit ein paar Zitaten des Philosophen auf das Briefpapier geklebt. Nun geriet ich zufällig mitten hinein in einen Foucault-Kongress, der, wie ich nach Jahrzehnten erfuhr, von meinem späteren Doktorvater Hans-Joachim Lenger mitorganisiert worden. Dieser leitete Ende der der 80er Jahre die HfbK-Studentenzeitung "Spuren".
Für die Foucault-Rezeption in Deutschland ist das keine Randanekdote; an "richtigen" Universitäten in richtigen "Disziplinen" galt Foucault zu jener Zeit oft noch als Schmuddelkind, da die Kunsthochschulen sich den "Postmodernen" und "Poststrukturalisten" bereits geöffnet hatten und mit ihnen vehement gegen den Übervater Habermas pubertierten. Hans-Joachim Lenger verstarb plötzlich, als ich gerade an meiner Dissertation saß. Man spürte ihm manchmal die nie ganz verheilten Wunden an, die Habermas damals dem Denken einer ganzen Generation zugefügt hatte. Sie waren doch gerade dabei, ein neues, frisches, radikales Denken zu erkunden. Habermas verurteilte dieses als jedoch als "jungkonservativ", "relativistisch", "kryptonormativistisch"", "präsentistisch".
Ich weiß nicht mehr, wer es war; irgendjemand zog mich aus dem Foyer im Phil-Turm in einen Hörsaal, wo ich Herbert Schnädelbachs Vortrag "Das Gesicht im Sand - Foucault und der anthropologische Schlummer" lauschte. Ich verstand nichts und es zog mich doch in den Bann, wie Schnädelbach in den Höhen der Abstraktion humorig auf der Philosophiehistorie surfte wie andere auf Meereswellen und nicht mit Pointen geizte, die ich allerdings erst Jahre später verstand.
Sujet war das "anthropologische Viereck", das Foucault als instabile, oszillierende und aporetische Struktur der Wissenssysteme der Moderne in "Die Ordnung der Dinge" diagnostiziert hatte. Nach dem Zeitalter der Repräsentation in der Klassik, so Foucault, sei dieses Wissenssystem in sich zusammengebrochen und an dessen Stelle das Denken rund um den "Menschen" als Träger des Wissens getreten. Eine Zäsur, die nicht nur die Philosophie, sondern auch die Wirtschafts- und Sprachwissenschaften als historisches A Priori prägte und die Wissensfiguren einer linearen, progressiven Geschichte wie auch des "Menschen" als Gegenstand der Forschung und zugleich deren Voraussetzung hervorgebracht habe. So changiere die Wissensproduktion permanent zwischen den Bedingungen der Erkenntnis und dem, was erkannt wird, um im Empirischen das finden zu wollen, was Empirie erst ermögliche. Ein "Dogmatismus, der sich spalte, um in sich selbst eine Stütze zu finden", so Foucaults Urteil. Diese Kreisbewegung münde in Konzeptionen des "Menschen in der Geschichte", einer Geschichte, die auch noch als Richter auftrete.
So z.B. formulierte es in einer Entgegnung auf Foucault explizit Jean-Paul Sartre und berief sich auf DIE GESCHICHTE im Singular. Der war ja auch gemeint, der Sartre. "Die Ordnung der Dinge" bildete 1966 einen Frontalangriff auf das "dialektische Universum der Temps Modernes", jener Zeitung, die Sartre herausgab. Das Buch amüsiert sich beinahe höhnisch über Varianten des Marxismus, wie Sartre sie in der "Kritik der dialektischen Vernunft" ausgearbeitet hatte. Dieser bezeichnete im Gegenschlag "Die Ordnung der Dinge" als "Geologie" statt Philosophie. "Die Ordnung der Dinge", ein ungeheuer schwieriges Buch, avancierte zum Bestseller, eben weil es als frontale Attacke auf Sartre als Übervater der politischen Philosophie Frankreichs gelesen wurde.
Schnädelbachs These war, dass Foucaults Diagnose lediglich auf einen schmalen linkshegelianischen Strang moderner Philosophie zuträfe und die Frage sich stelle, ob nicht vielmehr Foucault der Schlafende sei. Die Pointe bildete jedoch ein Seitenhieb auf "die Frankfurter", zu jener Zeit Habermas und Karl-Otto-Apel, da auch diese sich im Foucaultschen "Katastrophenviereck" bewegen würden.
Zwei Hauptseminare bei Schnädelbach halfen mir dabei, die Foucault-Lektüren zu vertiefen - eines zu "Die Ordnung der Dinge", eines zu den "Schriften zu einer Theorie der Macht". Er selbst war eher Kantianer, überzeugter Rationalist, der sich mit dem Denken seines Lehrers Adornos komplett überworfen hatte und dem erweiterten Habermas-Umfeld zuzuordnen war. Axel Honneth bezeichnete ihn in einem persönlichen Gespräch als einen der besten Philosophielehrer jener Jahre. Ich kann das bestätigen; die Seminare waren Ereignisse. Ich lernte, wie man "Kontrahenten" gründlich deuten, von ihnen lernen kann, wie es möglich ist, faire und beeindruckte Lektüren von Denkern zu praktizieren, denen man final gar nicht zustimmen würde - so würde ich zumindest Schnädelbachs Sicht auf Foucault rückwirkend einordnen.
Für mich bildete das Denken Foucaults ein gleichermaßen verstörendes wie faszinierendes Erweckungserlebnis. "Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man aufruft, ist in sich das Resultat einer Unterwerfung, die tiefer ist als er", dieses auf S. 42 der Taschenbuchausgabe von "Überwachen und Strafen" aufzufindende Zitat änderte so ziemlich alles, was ich bis dahin gedacht hatte. In "Sexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen" attackierte Foucault den Freudomarxismus eines - explizit - Wilhelm Reich und - implizit - Herbert Marcuse. Ein Freudomarxismus, der im familiären Umfeld, in dem ich aufwuchs, eine so große Rolle spielte. Was eine Befreiung!
Meine Lektüren destillierten die folgenden zentralen Annahmen aus dem Werk: Subjektivität ist ein Effekt von Machttechnologien. Diskurse Formationen entfalten Machtwirkungen. Mit anderen Worten: in Disziplinen, auch wissenschaftlichen, generiertes Wissen nicht etwa über Schildkröten oder Quantenphysik, sondern Menschen, formt Selbstverständnisse von Personen und Institutionen, leitet deren Handeln und formt gelebte Körperlichkeit im Sinne gesellschaftlicher Nützlichkeit. Die so oft vor lauter Diskursanalyse übersehenen, zentralen Passagen in "Überwachen und Strafen" zur Körperdisziplinierung, erschien mir als jemandem, der schlicht gerne tanzen ging, ziemlich plausibel.
Die im Freudomarxismus verbreitete Annahme, dass hinter Manifestem immer Latentes lauere - sich verbergende Sexualität im Sinne der Freudschen Psychoanalyse zum Beispiel -, das nur Experten deuten könnten, die sodann intervenieren und das auch dürfen, ja, staatlich durchsetzen können, brannte sich mir ebenso ein wie ein Verständnis dafür, dass das Abweichende, Andere, Anormale, Delinquente gesellschaftlich produziert würde, um so die Masse zu normalisieren.
Macht ist nicht repressiv, sie unterdrückt nicht, sie arbeitet produktiv, generiert Systeme, in denen Individuen durch institutionalisierte Außenperspektiven überhaupt als zu kontrollieren hergestellt werden - so ungefähr das, was ich zu lernen glaubte. Macht sorgt für Internalisierungen solcher Außenperspektiven, implementiert sie in Selbstdefinitionen und schürt Ängste davor, abzuweichen von dem, was als Norm gilt. Aber eben nicht als moralische Norm, sondern solche, die einfordert, wie Menschen zu sein hätten. Die Sichtbarkeit für Institutionen und Architekturen der Macht produziert konformes Verhalten. So, stark verdichtet, meine Foucault-Lektüren.
Das stand völlig quer zu linken Theorien jener Jahre, die von Unterdrückungssystemen ausgingen. Es passte aber ziemlich gut zu meiner Erfahrung, wenn CDU-Vertreterinnen in Fernsehsendungen proklamierten, dass Schwule ja nicht glücklich sein könnten. Weil sie die Erfüllung eines "normalen" Heterolebens nicht erlebten. Es passte dazu, nach meinem Coming Out mit Narzißmusvorwürfen und der Freudschen Neurosenlehre konfrontiert zu werden, weil diese psychoanalytischen Deutungen zu jener Zeit noch als sehr populär wirkten.
Es passte aber auch dazu, als ich später damit konfrontiert wurde, wie man als BRAVO TV-Redakteur zu sein und sich zu Menschen zu verhalten habe und was dabei für diskursive und visuelle Regeln zu befolgen seien, um die BRAVO WELT zu erzeugen.
Das Spätwerk von Foucault, in dem er sich in die Antike zurückbegab, um dort Erfahrungen aufzuspüren, die mit unserer klinisch geprägten Sichtweise auf "Homosexualität" wenig zu tun hatten noch dann, wenn gleichgeschlechtlicher Sex praktiziert wurde, erfuhren noch wenig Rezeption in jenen Jahren. Im Mittelpunkt standen vor allem "Überwachen und Strafen" und "Sexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen". Auch in diesen Fällen setzte die Rezeption in Deutschland Ende der 80er Jahre erst ein, nachdem zunächst hart bekämpft wurde, was aus Frankreich über den Rhein drang.
Viele Professoren begannen gerade erst, sich mit Foucault zu beschäftigen, so dass ich in einem Sozial- und Wirtschaftsgeschichtsseminar zu "Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit" noch für Hans-Jürgen Goertz, Koryphäe rund um die Täufer, als Foucault-Experte galt.
Habermas schlug in seinem "Philosophischen Diskurs Moderne" heftig zu, auf Derrida und Foucault ein in hermeneutisch wenig fairen Lektüren. In den Schnädelbach-Seminaren, in denen diese Kritiken auch referiert wurden, machten sich alle darüber lustig, wie man denn bitte einen solchen Vernichtungsversuch so gestalten könne, dass alles auf die "Theorie des Kommunikativen Handelns" zuliefe, Habermas eigene Konzeption, und nur auf die.
Habermas' Kritik initiierte eine Lesart, die bis heute auf Susan Neiman oder Yascha Mounk wirkt: Foucault habe Vernunftkritik und Gegenaufklärung betrieben. Tatsächlich bestimmte er in seinem ersten großen Werk "Wahnsinn und Gesellschaft" den Wahnsinn als das "Andere der Vernunft". Die von mir damals gelesen Werke konnte ich auch dann, wenn ich mir Mühe gab, beim besten Willen nicht als Vernunftkritik lesen. Was er untersuchte, waren historisch spezifische Rationalitäten. So, im Plural, begriff er es selbst in einem Interview mit Gérard Raulet, den ich viel später bei der Produktion einer Dokumentation über Jürgen Habermas für ARTE interviewen durfte. Auch er, selbst eher konservativ orientiert, wundert sich bis heute über Habermas' Lesart von Foucault - wie auch all die anderen französischen Denker*innen, die ich für den Film interviewen durfte. Foucault machte ja klar, dass er spezifische Zeiträume durchaus vernünftig erforschte. Er wandte sich gegen eine Moral, die für alle gilt, meinte damit aber nicht die formale Gleichheit kantischen Typs, sondern spezifische Sets von Codes, die Verhalten normalisieren. Und schilderte, dass Disziplinen und Macht die an Gerechtigkeit orientierten Konzeptionen der Aufklärung de facto historisch unterliefen, wenn Menschdefinitionen und ähnliche Konzeptionen aus den Human- und Sozialwissenschaften in Institutionen wirkten.
Das erwähnte Interview Raulets mit Foucault erschien in der oben erwähnten HfbK-Zeitung "Spuren", den Cassettenrecorder bediente der ebenfalls erwähnte Hans-Joachim Lenger.
Gespräche als Medium ist so wichtig im Falle Foucaults, weil die studentische Rezeption stark durch die poppigen Interview-Bändchen von Merve angeleitet wurde - "Mikrophysik der Macht", "Von der Freundschaft " zum Beispiel. Sie bedeuteten uns so viel, weil hier Brücken zur Aktualität geschlagen wurden. Foucault hat sich in seinen Schriften mit Ausnahme zu posthum veröffentlichen Vorlesungen zu den "Anormalen" und zum Neoliberalismus, die wir noch nicht kannten, selten über das 19. Jahrhundert hinausbewegt.
In den Merve-Bändchen stellte er pointierte Bezüge zu einer Diagnostik der Gegenwart her. "Von der Freundschaft" enthielt u.a. zwei Texte, einen mit dem Titel "Ein ganz harmloses Vergnügen" (Zitat: “Homosexuelle, so eine psychiatrische Abhandlung, begehen oft Selbstmord. “Oft” gefällt mir ausgezeichnet. Stellen wir uns also lange, schmächtige Jungen mit viel zu blassen Wangen vor; unfähig, die Schwelle zum anderen Geschlecht zu überschreiten, stehen sie ein Leben lang immer wieder an der Schwelle des Todes, um sie sogleich wieder zu verlassen und die Tür geräuschvoll zuzuschlagen”, M. Foucault, Von der Freundschaft. S. 55), ein Interview zudem, überschrieben mit "Von der Freundschaft als Lebensweise", die beide zuerst in der französischen Schwulenzeitung "Gai Pied" erschienen waren. Tatsächlich hatte auch Sartre dieser Zeitung ein Interview gegeben, mit Foucault betrat jedoch ein offen schwuler philosophischer Weltstar die Bühne queerer Medien und wies zudem radikal alle Zuschreibungen und Diskreditierungen durch die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft zurück.
Es gelte nicht, in sich ein schwules Begehren erst zu entdecken und sodann zu befreien, sondern sich als schwul zu erfinden. Das sind ziemlich Sartrische Gedankengänge; der Mensch erschafft sich selbst durch Handlung. In den späten 80ern, frühen 90ern bildeten diese Interviews für uns eine Sensation. In einem anderen, im selben Band abgedruckten Gespräch diskutiert Foucault über "Geschichte und Homosexualität" nicht in dem Sinne, dass er verschiedene Epochen der Unterdrückung ein und derselben Praxis unterscheidet. Vielmehr mutiert Sexualität selbst zu etwas Historischem, statt als ewiger, natürlicher Trieb insgeheim den Menschen zu regieren. Konkret: zu einem bürgerlichen Konzept des 19. Jahrhunderts. Für die Queer Studies liegt in diesem Gedanken der zentrale Impuls. Einer, der sich zudem in einer ganz anderen Geschichtsschreibung situiert als bis dahin unter postmarxistischen Studierenden populär. Einer, die Brüche, Diskontinuitäten, Verschiebungen, auch Vergessen thematisiert, statt hegelmarxistischem Fortschrittsglauben zu folgen.
Foucault hat dabei nie die Idee des Fortschritts als solchem abgeräumt. Er hat lediglich Geschichte nicht als dessen automatische Entfaltung verstanden, sondern analysiert, wie je bestimmte Wissensbereiche in je spezifischen Zeiträumen strukturiert waren. Das zieht sich durch sein Gesamtwerk; es ist eine Arbeit in den Archiven, inmitten oft als abseitig betrachteter Quellen - seine Arbeit bestand darin, sie anders zu deuten als in Schemata, die gerade denen in den Kram passen, die Machtausübung legitimieren wollen.
Diese Interviewbände dürften auch den immensen Pop-Appeal Foucaults in jenen Jahren erklären. Selbst Tocotronic schleppten die Merve-Bändchen in ihren Taschen (in einer Zeit vor dem Smartphone) mit sich herum, Jochen Distelmeyer mühte sich, Foucault-Thesen in Texte zu pressen.
In meinem Erleben mixten sich die Theoreme eher mit der Erfahrung in schwulen House-Clubs. Hier hatten wir keine andere Wahl, als uns als schwul erstmal zu erfinden. Es gab keine Vorbilder außer denen im Fummel, in Leder oder der "Clones", der Schnurrbartträger, die sich ja allesamt auch erfunden hatten mit viel Kreativität. Tanz jenseits heteronormativer Codierungen brach Körperdisziplinierung auf, und die Prinzipien elektronischer Musik attackieren auch Vorstellungen des Subjekts als Zentrum des Musikschaffens. Bei Foucault waren Subjekt bis zum Ende der 70er sowieso Effekte von Machttechnologien; dann kann man sich auch der Macht der Musik hingeben, allemal besser als der des Staates. Auch so ließe sich Macht verflüssigen. Die Praxen bis hin zur Loveparade erscheinen mir retrospektiv unterschätzt.
Es gab damals viele Projekte rund um House-Music und Techno - bis hin zu Snap - die Musik nicht mehr als Ausdruck von Subjektivität verstanden, sondern die Namen änderten, wenn der Sound sich entwickelt hatte, die aber auch keine Bands waren. Einst als "Produzentenpop" verschrien, boten sie hier die Möglichkeit, sich Zuschreibungen, dem, was Adorno als identifizierendes Denken begriff, kurzerhand zu entziehen im Tanz und in der Anonymität der Sounds und Beats per Minute aufzugehen, jeder Normalisierung entronnen. Nicht zufällig gab Foucault auch anonym und maskiert Interviews.
Er war zudem auch einer der ersten Prominenten, die an den Folgen von AIDS verstarben. Er liebte die Saunen und Badehäuser in San Francisco, hatte dort eine Szene jenseits des in Frankreich in der Schwulenszene üblichen Jugendkultes entdeckt. Man merkt diese Befreiung vom Konservatismus Frankreichs auch der seltsam heiteren Grundstimmung jener Texte und Interviews an, die im Umfeld seiner späten Seminare in Berkley entstanden. Er hat es dort wohl sehr genossen. Dann hat es ihn, sehr früh und doch wie beinahe eine ganze Generation Schwuler, erwischt.
Nicht nur, aber auch deshalb wirkten die Impulse seines Denkens so stark auf die Anti-AIDS-Aktivisten von Act Up ein. Ihm ist zu verdanken, dass diese Grenzziehungen zwischen hetero und homo als nicht einfach etwas "Natürliches", sondern als Effekt von humanwissenschaftlichen begründeter Outcastproduktion in Gesellschaften verstanden werden konnten. Seine These ist, dass das, was als normal gilt, gar nicht groß thematisiert wird. Stattdessen richtet sich der Scheinwerfer auf die Anormalen. Was Sujet wird ist, was als Problem begriffen wird. Um es zu lösen. Z.B. durch Elektroschocktherapie in den 60er Jahren, wenn gleichgeschlechtliche Gelüste ausgetrieben werden sollten.
Auch radikale Problemlösungen schienen der Rechten in den 80ern legitim. US-Präsident Reagan und seiner Gattin war es jahrelang ziemlich schnurz, ob da nun massenhaft so called "Homosexuelle" verreckten oder nicht. Sie erwähnten es nicht und ließen keine Forschung fördern. Die setzte Act Up durch. Filme des New Queer Cinema, "Spoon", "The Living End", thematisieren das Klima jener Jahre.
Foucault avanciert in der endlosen Buchproduktion der politischen Rechten rund um "woke" auch heute noch regelmäßig zum "amoralischen Homosexuellen", der eine partikularistische "Identitätspolitik" initiiert habe, in der skurrile Minderheiten es wagten, in eigenen Worten eigene Sichtweisen zu formulieren. Letztlich geben diese Autor*innen ihm recht, was seine Diagnose der Normalisierung und gesellschaftlichen Gleichschaltung durch jene betrifft, die im Zentrum der Macht sitzen und diese gegen Minderheiten nutzen. Das, was Foucault beschreibt, diesen wahlweise regulierenden, therapierenden und alle sich dem Diktat des Normalen Entziehenden Sanktionen unterwerfenden oder aber exkludierenden Zugriff auf gesellschaftliche erst hergestellte Andere, reproduzieren diese Autor*innen der "woke"-Kritik.
Umgekehrt ist gerade diese Erfindung einer fixen Identität, die "den Homosexuellen" definiere, genau das, wogegen er anschrieb. Faschismus sei nicht, Sprechen zu unterdrücken, sondern zum Sprechen zu zwingen - z.B. beim "Coming Out". In den frühen 90ern habe ich Foucault nicht "identitätspolitisch" gelesen: es ginge doch vielmehr darum, diese Grenzziehungen zwischen normal und anormal zu unterlaufen, Praxen der Lust nicht ausschließlich genital zu begreifen, sie allem Denken rund um Fortpflanzung zu entziehen und vielmehr als eine nicht etwa identitäre, sondern wahlweise kreative oder kontemplative Praxis zu begreifen, deren Erregungspotenziale sich gerade aus dem Überwinden gesellschaftlicher Zurichtungen speist.
In schwuler Pornographie wird das verständlich, wenn besonders schwulenfeindlich konnotierte Orte - Militär, Fußballumkleidekabinen, Schule -, ja, sogar dort stattfindende Demütigungen in der Inszenierung orgiastisch überwunden werden. Das, was das Bürgertum als "Sexualität" definierte und zu regulieren versuchte, ist eingewoben in soziale Konstellationen und nicht Ort des Natürlichen noch da, wo "Sexualität", wie es sich gehört, der heterosexuellen Fortpflanzung dient. Dort bleibt sie u.a. eine Inszenierung sozialer Verhältnisse und Machtkonfigurationen. Das sind nicht 1 zu 1 die Themen von Judith Butler, hier setzt sie aber an in ihrer Vorstellung von Geschlechter-Performances.
Foucaults eigene Praxis in Gefangeneniniativen bestand darin, Häftlinge eine Stimme finden zu lassen, einen Rahmen für eigene Artikulation zu schaffen aus seiner Position gesellschaftlicher Macht heraus. Als Professor an einer der angesehensten Bildungsinstitutionen Frankreichs, dem Collége de France, verfügte er über solche Möglichkeiten. Aus manch postkolonialer Sicht wurde dieses selbst als paternalistisch begriffen; bei der Rechten mutiert es zum Vorwurf einer Vergötzung der Outlaws als Attacke auf universelle Moral. Eine, die diese Autor*innen dann wohl nur als Unterdrückung devianter Sichtweisen fassen können.
Foucault stieg im Gegensatz dazu in die Archive hinab, suchte z.B. Prozessakten gegen Homosexuelle noch in den 50er Jahren, in denen diskreditierende Stereotype zum Standard der Ausführungen von Gutachtern und Staatsanwälten gehörten. Denen war es egal, was über allgemeine Menschenwürde in Verfassungen steht. Sie sahen sich wie selbstverständlich befugt, Persönlichkeiten herabzuwürdigen und interessierten sich nicht für abstrakte Rechte unter Berufung auf Kant. Diese bleiben blind auf dem Terrain, das Foucault untersuchte.
Dass insbesondere Foucaults Schrift "Die Ordnung des Diskurses" auch auf der Rechten so eifrig adaptiert wurde - ähnlich wie die Hegemonie-Konzeption von Gramsci - liegt meines Erachtens daran, dass er in dieser Schrift die Referenzen kappt. Er analysiert dem Titel getreu immanente Ordnungen in wissenschaftlichen und öffentlichen Äußerungen, Mechanismen, die festlegen, was sagbar ist und was nicht, wie Ausschlüsse produziert werden und dem Diskurs immanente Prinzipien festlegen, was als wahr und falsch gilt. Ohne Bezüge auf das, was er ansonsten in seinen immer materialreichen Schriften entfaltet.
In diesen sucht er Anleitungen zu Beichtpraxen auf, Modelle, wie die Pest aus Städten ferngehalten wurde, architektonische Entwürfe, Gerichtsakten, antike Traumdeutungen - in alledem verschwindet die Welt jedoch nicht. Die soziale Welt der in Fabriken in Gesten zerlegten und neu zusammen gesetzten Körper nicht etwa auf dem Fließband, sondern dieses bedienend, der disziplinierten Kinder, der penetrierten Jünglinge ist eine reale, durchdrungen von Praxen der produktiven Macht, der Beobachtung, des Reguliert- und Kontrolliertwerdens.
Es gibt bei Foucault auch kein Außerhalb der Macht, alle sind immer schon drin und können Herrschaft nur verflüssigen, wenn sie Gegenmacht entfalten.
Problematisch werden seine Texte dann, wenn sie auf die reine Immanenz des Diskurses setzen. Eben da kann die politische Rechte ansetzen, indem sie alles z.B. rund um Klimawandel, "woke", "Postkoloniales" nur als diskursiv zu entlarven betrachtet und selbst auf alle Bezüge auf Tatsächliches verzichtet, um frei flottierend im Hintergrund ökonomische Macht auszuüben und administrative anzustreben. Sie erklärt, so stand es jüngst in einer Kolumne, Fakten zu Ideologien und Ideologien zu Fakten.
Foucault hingegen war kein Ideologiekritiker. Er untersucht die Entstehung und teilweise auch Funktion von komplexen Weltdeutungsmustern, die das produzieren, was uns etwas als real erscheinen lässt. Wie wir es einordnen. Wie wir es deuten. Wie dabei das Normale und das Anormale generiert werden.
Das ist durchaus ein Unterfangen im Sinne Kants, der die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis untersuchte. Diese werden bei Foucault in das Gesellschaftliche verlegt, aber anders als bei Marx. Der sah in der Dialektik von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen, die sich dann im Mensch als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse "widerspiegele" und Entfremdung erzeuge, die gesellschaftliche Bedingung, das Sein, das Bewusstsein präge. Bei Foucault handelt es sich um ein Netz von Praxen und Diskursen, die immer auch auf Körper wirken und Körperverständnisse hervorbringen, sich verdichtend zu Netzen der Macht - Blickregime, Disziplinierungen, Verfahren der Wissensproduktion. Das Denken rund um das, was das Bürgertum als "Sexualität" begriff, diente dabei Foucault zufolge zugleich der Absicherung des Bevölkerungswachstums, das für die Industrialisierung nötig war.
Es ist funktionalistische Vernunft, die Foucault untersucht, ohne dass die Herrschenden eindeutig zu identifizieren wären. Gerade die Rolle der Könige und Fürsten wird durch eine anonyme Macht ersetzt, wo der Polizist, der Psychiater, der Sozialarbeiter ein jeder, eine jede sein kann, eingespannt in ein Netz von Praxen und Diskursen und diese exekutierend.
Macht ist produktiv - das ist ganz buchstäblich zu verstehen. Es bildet sich in Gesellschaften etwas heraus, was vorher nicht da war. Das Gefängnissystem zum Beispiel. Die Klinik. Die Psychiatrie. Foucault rekonstruiert solche Prozesse als erst punktuell hier und da entstehend, dann sich miteinander vernetzend, verdichtend, bis immer mehr Bereiche in Gesellschaften nach diesem Prinzip funktionieren. Ganz ohne, dass das vorher irgendwer so geplant hätte.
Verhältnisse wie den Stalinismus oder Nationalsozialismus begreift Foucault als Herrschaft, als derart verdichtete Macht, dass sie keine Gegenmacht mehr hervorbringen kann.
Der oben erwähnte Vortrag von Herbert Schnädelbach bildete so für mich den Startpunkt einer Reise durch ein Werk, das zu den wichtigsten des 20. Jahrhunderts zählt. Sehr viele Texte sind seitdem aus dem Nachlass erschienen; nun gerade "Der Diskurs der Philosophie", zuvor bereits ganzen Reihen von Vorlesungsmitschriften und auch der 4. Teil von "Sexualität und Wahrheit" über das christliche Verständnis des Fleisches.
Mir erscheint manches davon die Rezeption eher verwässert und multipliziert zu haben, als sie zu pointieren. Manche leiten dann aus einem kurzen Text, z.B. den zu den Heteropien, den anderen Orten, das Gesamtwerk Foucaults ab, andere unterlaufen die Kritik der Macht, indem sie den Begriff der Gouvernementalität, Regierungsweisen, aus den Vorlesungen entnehmen und so eher zu tradierten Vorstellungen der Herrschaft zurückkehren. Dritte kleben an den Vorlesungen zum Neoliberalismus aus den späten 70ern, ohne die Frage zu stellen, wieso nun gerade aus denen kein Buch entstanden ist. Anders als im Falle der Vorlesungen zur Biopolitik, die in den Schlusskapiteln von "Sexualität und Wahrheit 1: Der Wille zum Wissen" eine Verdichtung erfuhren. Auch die Vorlesungen zur "Hermeneutik des Subjekts" lassen sich zu seinem Spätwerk rund um antike Lüste in Beziehung setzen; und das sollte man auch tun.
Insofern schadet ein "Zurück zu den Hauptwerken!" der Rezeption Foucaults nicht. Das verhindert auch Lesarten wie jene Susan Neimans, die aus einem Youtube-Video - Foucault im Gespräch mit Noam Chomsky -, einem Aufsatz (jenem zu Kants "Was ist Aufklärung?") und ein paar oberflächlichen Lektüren des Anfangs von "Überwachen und Strafen" das ganz große Fallbeil bastelt.
Bei Herbert Schnädelbach hätte Susan Neiman lernen können, wie man solche Denker auch gründlich lesen kann.
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