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Echt jetzt? Wie wir Realität (ver-)schieben

Neulich schlug ich einem Freund vor, das Wort Meinung durch Anschauung zu ersetzen. Damit wollte ich zum Ausdruck bringen, wo meine Meinung zu den Dingen wurzelt: in einem Normenset, das ich in meiner Jugend ausgebildet habe und seither angebaut und relativiert, umbenannt und an die Zeiten angepasst, aber niemals verlasse. Anschauung klingt tiefgreifender als Meinung. Wichtiger. Richtiger.

Trotzdem: Eine Anschauung drückt meine subjektive Position zur Wirklichkeit aus. Ich habe den Begriff in einem Zusammenhang aufgebracht, in der es - natürlich - um die Frage ging, “wie Rechte reden (Opens in a new window)” und wie wir damit umgehen im privaten Diskurs*. Im Umgang mit der Bedrohung von rechts bin ich ganz “Subjekt” - ich fühle mich negativ betroffen von der Phantasie eines reineren Deutschlands. Ich persönlich hätte nur Nachteile, würde sich das rechte Denken in seiner umstürzlerischen Variante durchsetzen. Es ist das Argument, mit dem ich am weitesten komme in Diskussionen. Wohl weil die rechte Rhetorik andockt an den emotionalen Befund der “Abgehängten”. Menschen, die nicht mehr en vogue sind und solche, die es nie waren in unserer schicken Postmoderne. Wenn ich sage: für mich hat so ein Szenario ausschließlich Nachteile, ist das stärker als jedes Argument. Was uns auch eint: Diese Menschen vermissen widerspruchsfreie Umstände. Ich auch?!? Es gehört zu meiner postmodernen Existenz, mich pragmatisch eingenistet zu haben in der Dialektik des Seins (nichts halbes, nichts ganzes). Kinder und seinen Job lieben, Künstlerin ohne Werk (noch!!), rational deutsch.

Eine klare gesellschaftliche Ordnung von rechts ist für Menschen wie mich nachteilig. Im Extremfall, der gerade auf dem Tisch liegt, würde meine Identität so aussehen: Kinder und seinen Job lieben, Künstlerin ohne Werk (noch!!), rational und deutsch. Was auch immer rational dann heißen mag.

Offenkundig bedroht, schreibe ich seit Wochen einen Essay, um meine Anschauung zu diesem Thema theoretisch zu untermauern (folgt). Es ist mir offenbar wichtig, dass meine Anschauung sich verorten lässt in grundsätzlichen Erwägungen. Dass ich meine Anschauung “intersubjektiviere”.

Das gibt mir Sicherheit. Irgendwie logisch. Ich bin nie aus der wissenschaftlichen Denke ausgestiegen, obwohl ich nicht an einer Universität arbeite*. Ich bin akademisiert worden mit den harschen Kommentierungen von Professor*innen, wenn ich nicht wissenschaftlich (logisch) argumentiert und belegt habe. Die Wissenschaft in ihrer kühlen Zickigkeit (man solle sich ja nicht einbilden, es zu wissen ohne es gründlich untersucht zu haben. Alles könne auch anders sein!) fehlte mir schnell in meinem Berufsleben: Hitzige Debatten, der der am lautesten schreit, hat recht. Argumente - jetzt machs nicht kompliziert, Mensch. Ich war frustriert, aber auch deshalb, weil diese hierarchische Art, als Gruppe zu denken, funktioniert hat.

Das war 2011, die Finanzkrise hatten Politik und Wirtschaft gerade so weggelächelt - letztere mit viel Geld von ersterer. Rückblickend würde ich sagen: es war schon Verunsicherung im System. Irgendwas stimmte vielleicht grundsätzlich nicht? Meiner Beobachtung nach - subjektiv, auch wenn manche es mittlerweile “anekdotische Evidenz” nennen, good ol’ twitter joke - passiert aber: wenig. Entscheidungen wurden am Zweifler vorbei noch massiver durchgedrückt. Lächelnd, aber ja.

Stattdessen haben wir uns auf Nebenschauplätzen getummelt: Anträge für Fördermillionen geschrieben, Fake-Produkte entwickelt und irgendwas mit New Work gemacht.

Das mit den Nebenschauplätzen ist wichtig. Denn auf den Nebenschauplätzen bewegt sich heute auch die Politik (hier gehts zum letzten Politikpodcast des DLF, wunderbar energische Debatte): diese Zulage streichen oder jene, 2,15 Euro mehr oder weniger, darf der das jetzt noch sagen oder nicht?

Über all das, und auch, ob ich jetzt noch mitlaufen darf, wenn auf einer Demo auch Spinner dabei sind (Diskussion seit Pegida, nicht wahr?), wird unglaublich ausführlich diskutiert. Es ist ein greifbares Problem und Thema, dank Social Media reden ja auch alle mit, falsch: entsteht der Eindruck, alle reden mit (Dominik Ruisinger folgen, mein Feed to go, um zu erfahren, wo es hingeht mit uns und Social Media) und diese Illusion eines demokratischen Diskurses vermittelt uns den Eindruck, wir müssten uns auch dazu verhalten. Obwohl es uns vielleicht egal ist, wir dazu keine Meinung haben und wir wirklich besseres zu tun hätten.

Wir hätten Besseres zu tun. Oft wird der deutsche Perfektionismus für unser “stuck in the middle”-Problem genannt. Ich glaube eher, dass wir Diskussionen ausweichen: worauf einigen wir uns denn? Die Probleme sind heute sichtbar kompliziert - und das liegt ausschließlich daran, dass wir einen Weltbild-Clash haben. Für die einzelnen Gruppierungen ist es nämlich nicht kompliziert, ich greife zwei Beispiele voraus, die meine Leser*innen kennen und in der sie sich wohl verorten.

Weltbild A: Das Anthropozän-Modell: Menschen hinterlassen einen Fußabdruck auf der Welt. Derzeit keinen guten. Wir schaden der Natur um uns und setzen unsere Vision einer demokratischen, weltoffenen Gesellschaft nur unzureichend um. Das hängt miteinander zusammen. Daher: transformative Forschungsansätze umsetzen, die darauf abzielen, dass wir möglichst demokratisch und möglichst klimaneutral leben. Denn wir sind nicht die einzigen auf der Welt.

Gefahr: Unser Leben der tausend Widersprüche setzt sich fort. Entweder “you get it” oder halt nicht. Sorry.

Weltbild B: Das darwinistische Modell: Der Stärkere gewinnt. Immer. Das ist die Realität, alles andere ist Augenwischerei. Wenn die Mehrheit der Starken Klimaschutz etc will: bitteschön. Aber lasst uns nicht die Wirklichkeit verbieten, um zum Ziel zu kommen. Eine Welt mit weniger Regeln bringt die Wahrheit schneller ans Licht. Daher: Empirie ohne (normative) Fesseln.

Gefahr: Die ewig gleiche Hierarchie - bis zum Tod.

Ich gebe offen zu: heute würde ich mich für verrückt erklären, mit einem Business-Modell an den Markt gehen zu wollen, in dem ich mehr Wissenschaft in lebensweltliche Entscheidungen bringen wollte. Entlang solcher Bruchlinien, die in vielen kleinen Verästelungen verläuft, wird auch unser Produkt betrachtet. Letztes Jahr habe ich einen etwas provokanten Beitrag geschrieben, mit wem wir bei 20blue arbeiten wollen. Heute würde ich sagen: mit wem wir arbeiten können.

Einer Verengung bei der Ausgangsfrage, absolut üblich bei lebensweltlichen Fragen und die Denkweise, die Unternehmen weit bringt: zügig entschieden, klar entscheiden, ist der Gretchenmoment für uns: Können wir hier mitgehen?

Unsere Antwort darauf ist mittlerweile: Die Prüfung dieser Hypothese muss am Anfang stehen. Ist sie belastbar? Können wir die eigentliche Fragestellung überhaupt beantworten?

Daher liebe ich unseren Global Claim Check. Wir schauen, ob du das machen kannst, was du verbessern musst. Konkret, aber systematisch. Die Ergebnisse sind nach Maßgabe des Möglichen vergleichbar (Die Kategorien von Wahrnehmung sind interkulturell schwer vergleichbar, aber das ist ein anderes Thema).

Oder unsere Wesentlichkeitsanalyse. Wir sammeln Daten und werten sie so aus, dass jeder nachvollziehen kann, wie du zu deinen “wesentlichen” Themen gekommen bist als Unternehmen. Denn machen müsst ihr es eh.

Schwieriger wird es mit offenen Recherchefragen. War die Bruchlinie für mich bislang übersichtlich: Wir beantworten nur, ob etwas so ist, nicht, dass etwas so ist, so ist der Standpunkt mit der Apokalypse im Nacken verschoben: Welches ob meinen wir? Da das Gefühl von (oder für manche Gefasel vom) Weltuntergang jede Faser unserer Wirklichkeit durchdrungen hat, ist es eine Realität, die zu ignorieren, Unternehmen Millionen kosten kann und Parteien Wahlen.

*Den verlinkten wöchentlichen Newsletter “Wie Rechte reden” vom Journalistenduo Maria Timtschenko und Johannes Giesing empfehle ich aus vollem Herzen. Er ist gut geschrieben, on the point und vermittelt mir das Gefühl, Bescheid zu wissen. Mit 6 Euro pro Monat ein Schnäppchen (man kann auch kostenfrei abonnieren, aber das empfehle ich hier jetzt nicht :)).

Das, was ich heute bin, nannte man früher “Emanze”: eine Person, die das Nicht-Gelungene in ihrem Lebenslauf auch einem Missverständnis zu ihrer Person zuschreibt: Einer Wahrnehmung -wieder ein subjektiver Begriff - der Gesellschaft über Frauen (mit Kindern). Ich hätte also rein gar nichts dagegen, wenn die Gesellschaft aus sich heraus, also auch ohne regulierende Tätigkeit von Staatsseite, mehr für die Frage nach einer gerechteren Sozialordnung interessieren würde. Mehrfach beobachtet: das Erklimmen einer hierarchisch vorteilhaften Position drängt diese Auseinandersetzung in den Hintergrund.

*Geschrieben: im April 2024. Seit Juni 2024 arbeite ich tatsächlich in Teilzeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Innovationsprojekt.

Topic 20blue outlooks

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