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Neurodiversität in der Psychiatrie: Der blinde Fleck bei der Erkennung von Autismus und ADHS



Einführung

Neurodiversität ist ein Konzept, das die natürliche Vielfalt menschlicher Gehirne und Denkweisen anerkennt. In der Psychiatrie und Psychotherapie wird dieses Verständnis jedoch häufig von defizitorientierten Diagnosen und stereotypen Vorstellungen überschattet. Besonders betroffen davon sind Autismus und ADHS – sowohl bei den Patienten als auch bei den Fachkräften selbst.

Eine qualitative Studie von Doherty et al. (2024) beleuchtet, wie autistische Psychiater ihre eigene Neurodivergenz und die ihrer Patienten erkennen. Diese Erkenntnisse sind ein Aufruf an die psychiatrische Praxis, die Ausbildung, Selbsterkenntnis und Diagnostik neurodiversitätsfreundlich zu gestalten. Ich denke, für ADHS bzw. AuDHS sieht es ähnlich aus.

Immer häufiger wenden sich erfreulicherweise jedenfalls Kolleginnen und Kollegen an mich, weil sie sich mehr oder weniger überraschend im Neurodivergenz-Spektrum wiedererkennen.

Die Studie: Erkenntnisse und Herausforderungen

Die Studie untersuchte die Erfahrungen von acht autistischen Psychiatern in Großbritannien. Von ihnen hatten sieben erst im Erwachsenenalter ihre autistische Identität erkannt. Besonders drei Auslöser führten zur Selbsterkenntnis:

  1. Diagnose der eigenen Kinder: Viele Teilnehmer berichteten, dass sie Parallelen zwischen den autistischen Merkmalen ihrer Kinder und ihrem eigenen Verhalten erkannten.

  2. Begegnungen mit autistischen Patienten: Einige reflektierten ihre eigene Neurodivergenz, als sie sich in den Verhaltensweisen ihrer Patienten wiederfanden.

  3. Selbstreflexion: Durch die Beschäftigung mit subtilen Präsentationen, insbesondere bei Frauen, kamen einige zu einem neuen Verständnis ihrer eigenen Identität.

Ein Teilnehmer der Studie fasste die Herausforderung treffend zusammen:
„Wenn wir uns selbst nicht als autistisch erkennen, wie sollen wir dann unsere Patienten genau diagnostizieren?“

Die Rolle von Stereotypen und Ausbildungsdefiziten

Die Studie identifiziert stereotype Vorstellungen und eine defizitorientierte Ausbildung als zentrale Hindernisse für die Selbsterkenntnis und Diagnostik.

  • Fokus auf stereotype Merkmale: Die medizinische Ausbildung konzentriert sich oft auf klassische autistische Präsentationen, die vor allem bei männlichen Patienten auftreten. Subtilere Muster, wie sie häufig bei Frauen vorkommen, bleiben unbeachtet.

  • Multiple Neurodivergenzen: Die Annahme, dass Autismus und ADHS sich ausschließen, führte lange dazu, dass ihre Koexistenz selten erkannt wurde.

  • Defizitorientierung: Autismus und ADHS werden häufig mit schweren Beeinträchtigungen assoziiert, was erfolgreiche Fachkräfte davon abhält, diese Diagnosen bei sich selbst in Betracht zu ziehen.

Die Teilnehmer berichteten, dass diese veralteten Konzepte nicht nur die Selbsterkenntnis erschweren, sondern auch die Fähigkeit beeinträchtigen, Patienten zu diagnostizieren, deren Symptome ihren eigenen ähneln.

Eigene Symptome pathologisieren

Ein zentrales Problem ist die Tendenz, eigenes neurodivergentes Verhalten als Symptome anderer Störungen zu pathologisieren. Viele Psychiater und Psychologen bewerten Eigenschaften wie sensorische Empfindlichkeiten, sozialen Rückzug oder Hyperfokus als Anzeichen von Burnout, Depression oder Angststörungen, anstatt sie als neurodivergente Merkmale zu betrachten.

Ein Beispiel aus der Studie beschreibt einen Psychiater, der seine sensorische Überempfindlichkeit jahrelang als Zeichen mangelnder Resilienz wahrnahm, bis er durch die Begegnung mit einem autistischen Patienten begann, sein eigenes Verhalten neu zu bewerten.

Fallbeispiel: Die späte Selbsterkenntnis von Dr. Sophie Berger

Dr. Sophie Berger, eine fiktive Psychologin, illustriert diese Dynamik:

Sophie war bekannt für ihre analytischen Fähigkeiten und ihren Perfektionismus. Doch sie fühlte sich oft durch soziale Interaktionen überfordert und zog sich nach intensiven Sitzungen in völlige Isolation zurück. Ihre Vergesslichkeit und das ständige Chaos in ihrem Alltag schob sie auf Stress und Überarbeitung. Erst die Diagnose ihres zehnjährigen Sohnes Julian, der sowohl autistische als auch ADHS-Merkmale zeigte, brachte sie dazu, Parallelen zu ihrem eigenen Leben zu erkennen.

Nach einer diagnostischen Abklärung stellte sich heraus, dass Sophie selbst autistisch war und ADHS hatte. Diese Erkenntnis veränderte ihr Leben und ihre Arbeit: Sophie begann, neurodivergente Perspektiven in ihre Therapieansätze zu integrieren, und konnte ihren Patienten nicht nur besser helfen, sondern auch selbst ein erfüllteres Leben führen.

Chancen eines neurodiversitätsfreundlichen Ansatzes

Die Studie von Doherty et al. zeigt, dass die Selbsterkenntnis autistischer Psychiater mehrere Vorteile bietet:

  • Verbesserte Diagnostik: Teilnehmer berichteten von einer gesteigerten Fähigkeit, subtile Präsentationen von Autismus und ADHS bei Patienten zu erkennen.

  • Bessere therapeutische Beziehung: Die persönliche Erfahrung mit neurodivergenten Herausforderungen führte zu einem stärkeren Einfühlungsvermögen und einem vertrauensvolleren Umgang mit Patienten.

  • Positive Selbstwahrnehmung: Die Erkenntnis, dass sie nicht „defizitär“, sondern einfach anders sind, stärkte das Selbstbild der Teilnehmer und verbesserte ihre Lebensqualität.

Ein Teilnehmer beschrieb diesen Wandel so:
„Es ist ein lebensverändernder Unterschied, wenn man erkennt, dass man nicht ein gescheiterter Neurotyp ist, sondern ein erfolgreicher Autist.“

Empfehlungen für die psychiatrische Praxis

Die Ergebnisse der Studie und die Fallbeispiele verdeutlichen die Notwendigkeit systematischer Änderungen:

  1. Reflexion der eigenen Neurodivergenz: Fachkräfte sollten ermutigt werden, ihre eigenen neurodivergenten Eigenschaften zu hinterfragen, um blinde Flecken in der Diagnostik zu vermeiden.

  2. Neurodiversitätsfreundliche Ausbildung: Curricula sollten die Vielfalt von Autismus und ADHS präsentieren und subtile Präsentationen, insbesondere bei Frauen, berücksichtigen.

  3. Stärkung von Peer-Support-Netzwerken: Gruppen wie Autistic Doctors International bieten Raum für Austausch und Selbsterkenntnis.

  4. Integration von lived experiences: Neurodivergente Fachkräfte und Patienten können wertvolle Perspektiven in Ausbildung und Praxis einbringen.

  5. Sensibilisierung für multiple Neurodivergenzen: Diagnostische Ansätze sollten die häufige Koexistenz von Autismus und ADHS stärker berücksichtigen.

  6. Supervision ohne Pathologisierung: Supervision sollte neurodivergentes Verhalten nicht als Störung deuten, sondern als Teil der Vielfalt menschlicher Erlebnisse anerkennen.

Die Integration eines neurodiversitätsfreundlichen Ansatzes in die Psychiatrie und Psychotherapie ist entscheidend, um blinde Flecken in der Diagnostik zu überwinden. Die Selbsterkenntnis neurodivergenter Fachkräfte kann nicht nur ihre Lebensqualität verbessern, sondern auch die Versorgung ihrer Patienten nachhaltig transformieren.

Mit einer umfassenderen Ausbildung, stärkeren Peer-Netzwerken und einem stärkenbasierten Ansatz können Psychiater und Psychologen nicht nur die Herausforderungen der Neurodivergenz meistern, sondern auch die Vielfalt menschlicher Erfahrungen feiern.

Quelle: BJPsych Open (2024) 10, e183, 1–8. doi: 10.1192/bjo.2024.756

LG Martin
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