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Wenn Gewicht politisch ist

Kampf für mehr körperliche Diversität

Obwohl sich dicke Menschen oft diskriminiert fühlen, ist das Thema in der Gesellschaft kaum präsent. Dramaturgin Silke Merzhäuser und Performerin Katharina Bill wollen daran mit ihrem neuen Podcast FETT (Opens in a new window)etwas ändern. Wir haben mit ihnen gesprochen.

Von Anne Klesse, Hamburg

Für Ihren gemeinsamen Podcast FETT (Opens in a new window) haben Sie bislang fünf Folgen veröffentlicht, die bei Spotify und anderen Anbietern zu hören sind. Wie kam es dazu?

Silke Merzhäuser: Wir sind bei „werkgruppe2“ vier Frauen, die zusammen Theater- und Filmprojekte, also unterschiedliche Formate des Storytellings, entwickeln. Uns interessieren Themen, die virulent in der Gesellschaft sind, aber zu wenig Aufmerksamkeit erhalten. Ich habe das Buch „Hunger“ der US-Autorin Roxanne Gay gelesen. Sie ist selbst hochgewichtig und schildert ihre Erlebnisse bezüglich ihres Körpers sehr eindrücklich. Mir ist aufgefallen, dass das Thema Gewichtsdiskriminierung im deutschsprachigen Raum kaum diskutiert wird.

Katharina Bill: Ich selbst beschäftige mich schon lange mit Mehrgewichtigkeit – aus der Betroffenenperspektive. Zu dem Thema habe ich viel recherchiert und gemerkt, ich möchte mich engagieren, aber ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Als Kind habe ich viele Diskriminierungserfahrungen gemacht. Die Außenperspektive fiel mir schwer. Das Konzept der „werkgruppe2“ passte da perfekt. Wir haben zusammen entschieden, dass wir einen Kurzfilm machen wollen – als Teil eines Theaterstücks. Als das Drehbuch stand, ist die Idee eines zusätzlichen Podcasts entstanden.

Katharina Bill, Sie sprechen im Podcast mit Kulturschaffenden über die fehlende körperliche Diversität in Ihrer Branche. Diversität ist zwar in vielen gesellschaftlichen Bereichen Thema, bezieht sich jedoch so gut wie nie auf Körperformen. Wie nehmen Sie das im Film- und Theaterbereich wahr – in einer Branche, in der es per se viel um die Optik geht?

Silke Merzhäuser: Aktuell passieren viele Veränderungen, Ensembles stellen sich diverser auf, Produktionsfirmen für Film und Kino verpflichten sich zu mehr Diversität oder Fernsehsender entwickeln Auflagen, etwa Quoten. Doch es ist komplexer – auch die Stoffe und Perspektiven, die und aus denen erzählt wird, müssen sich ändern!

Katharina Bill: Körperliche Diversität steht ganz unten auf der Liste der Diversität, vor allem beim Film. Im Theater ist es schon ein bisschen vielfältiger.

Zwar gibt es immer mal TV-Sendungen, die absichtlich vielfältiger besetzt sind, etwa die letzte „Germanys next Topmodel“-Staffel, die mit „curvy models“ und „best agerinnen“ warb. Auch in Unterwäsche-Werbung sind mehr unterschiedliche Körper als früher zu sehen. Doch die letzte Studie der MaLisa-Stiftung von 2021 zur audiovisuellen Vielfalt im Fernsehen und Kino in Deutschland zeigte, dass Frauen noch immer überwiegend jung und schlank gezeigt werden. Im Gegensatz zu männlichen Protagonisten waren sie in den untersuchten Medien nie übergewichtig und fast dreimal so häufig sogar sehr dünn...

Silke Merzhäuser: Das ist das Problem: Das deutsche Fernsehen ist ohnehin schon wenig divers – und hochgewichtige Körper kommen so gut wie nie vor, außer, es geht explizit um das Thema Gewicht.

Katharina Bill: Dicke Körper werden besonders marginalisiert, weil die westliche Gesellschaft ein Problem mit dicken Menschen hat. Im Englischen gibt es den Begriff der „Fat Phobia“. Fat Phobia ist in der Gesellschaft fest verankert und spiegelt sich auf den Bühnen und vor den Kameras wider. Das hat nicht nur damit zu tun, dass es visuelle Medien sind. Es ist offenbar total okay, Fett und Fette zu hassen: das eigene Fett und das anderer.

Dicksein verbinden viele Menschen mit undiszipliniertem Verhalten. Und Disziplinlosigkeit gilt als schlechte Eigenschaft. Hochgewichtigen Menschen werden vermutlich oft Verhaltensfehler unterstellt, so nach dem Motto „würdest du dich besser verhalten, wärst du nicht dick“?

Katharina Bill: Auf jeden Fall. Hinter diesem Denken steckt unsere europäische, protestantische Erziehung. Disziplin und Verzicht sind als Tugenden stark in unserer Gesellschaft verankert. Alles, was davon abweicht, wird kategorisch abgelehnt. Fakt aber ist, dass nicht jeder Mensch in einem dünnen Körper steckt, ganz im Gegenteil. Es war auch noch nie so. Tendenziell wurden die Menschen über die letzten Jahrhunderte größer, breiter und schwerer. Ich glaube, das ist ein alter Kodex, eine religiöse Idee, die in uns steckt. Wenn ich selbst der Meinung bin, mich die ganze Zeit zu kasteien, weil ich Gemüsesaft trinke und Salat esse, kann ich mich darüber definieren: Ich schaffe etwas, das andere nicht schaffen. Da spielt ein Lustfaktor mit.

Gwyneth Paltrow spielte vor 20 Jahren in „Schwer verliebt“ mit Hilfe eines sogenannten Fatsuits eine hochgewichtige Frau. Aktuell trägt Renée Zellweger einen in ihrer neuen Serie „The thing about Pam“. Was halten Sie von dünnen Schauspieler*innen in Fatsuits?

Katharina Bill: Über dieses Thema habe ich lange nachgedacht. Für mich ist das Fat Shaming. Fat Phobia hat sich aus dem Rassismus entwickelt. Sabrina Strings erklärt in ihrem 2019 erschienenen Buch „Fearing the Black Body – The Racial Origins of Fat Phobia“ den Zusammenhang zwischen den von weißen Männern verordneten Diäten der englischen weißen Oberschicht, dem zeitgleichen Sklavenhandel und der damit einhergehenden Abwertung schwarzer Menschen, insbesondere schwarzer Frauen, die als „fett“, „wild“ und „unkontrolliert“ stigmatisiert wurden. Insofern ist Fat Shaming eine Mehrfachdiskriminierung. Fatsuits machen das sehr deutlich. Meistens sind Rollen, für die sie eingesetzt werden, in die Kategorie „Fat is funny“ einzuordnen. Eine Zeit lang war es en vogue, über das Fettsein den Kapitalismus und die Wachstumsgesellschaft zu erzählen. Auf der Bühne wurde das dann von jemandem im Fatsuit dargestellt, die oder der ununterbrochen gegessen hat. Da könnte ich heulen. Das gleichzusetzen verschärft die Thematik extrem.

Bei einer repräsentativen Befragung 2015 im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes berichteten Menschen mit hohem Gewicht auch davon, dass sie bei Ärzt*innen medizinisch nicht angemessen untersucht oder behandelt wurden, diskriminierende Erfahrungen Behörden gemacht und sogar körperliche Gewalt in der Öffentlichkeit erlebt haben. „Ihnen werden Dinge nicht zugetraut und ihnen wird die gleichberechtigte Teilhabe verwehrt“, heißt es im Bericht (Opens in a new window) dazu. Diskriminierung aufgrund von äußerlichen Merkmalen solle daher im „Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz“ (Antidiskriminierungsgesetz) verboten werden. Doch das ist bis heute nicht passiert...

Katharina Bill: Ja, ich weiß nicht warum. Ich schätze, weil in unserem mindset „fat“ einfach „bad“ ist und eine Gleichbehandlung in den Augen vieler einer Akzeptanz von Fett gleichkäme. Wir sollten versuchen, Fett nicht mit „krank“ gleichzusetzen. Denn solange alle bei Fett an „Diabetes" oder „Schlaganfall“ denken, werden fette Menschen weiterhin als krank eingestuft. Klar ist: Die wenigsten Menschen wollen fett sein – ich übrigens auch nicht. Niemand hat sich den eigenen Stoffwechsel, Traumata und vieles mehr ausgesucht.

Sie sagen, Gewicht ist politisch. Warum?

Silke Merzhäuser: Gewicht geht mit einer Kategorisierung einher. Mit einer stereotypen Beurteilung. Diese hat schnell etwas Anklagendes und wird mit vielen Diskursen vermischt. Gewicht wird oft mit dem Thema Gesundheit verbunden. Es wird selbstverständlich gesagt: Dicksein ist ungesund. Dabei muss das Thema viel individueller betrachtet werden.

Katharina Bill: Gesundheit ist ein individueller Wert. Abgesehen davon kann man sich ja die Frage stellen: Ist Gesundheit überhaupt unser oberstes Ziel? Was bedeutet es, wenn wir uns ausschließlich über Gesundheit definieren, was macht das mit Menschen, die mental oder körperlich nicht gesund sind? Das Menschenbild, das dahinter steckt, ist schmerzhaft.

Silke Merzhäuser: In anderen Bereichen wird kaum über Gesundheit geredet, beispielsweise beim Arbeitspensum oder der Belastung alleinerziehender Mütter. Man könnte viel darüber sprechen, wie ungesund unsere Lebensumstände sind. Aber dass es ausgerechnet immer das Dicksein ist, das ist fatal.

Katharina Bill: Gewichtsdiskriminierung gibt es in vielen Bereichen: Ein hoher BMI kann Hindernis für eine Verbeamtung sein, fette Menschen werden keine Models, keine Stewardessen. Eine Untersuchung des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (Opens in a new window) zeigte, dass angestellte Frauen mit höherem Körpergewicht in Deutschland weniger verdienen als Frauen mit niedrigem Körpergewicht – bei gleicher Qualifikation.

Was muss sich ändern?

Katharina Bill: Für Film und Theater könnte ich mir eine Quote für körperliche Diversität vorstellen. Es gibt zwar erste Aktionsbündnisse in der Branche, aber bisher hat sich nicht viel verändert. Solange das Gewicht nicht im Antidiskriminierungsgesetz steht, ist es schwer, frontal anzugreifen. Das Thema braucht mehr politische Sprengkraft.

Silke Merzhäuser: Und es braucht viel mehr Lobbyarbeit, nicht nur von Betroffenen. Unser Podcast hat bisher nur fünf Folgen, wir denken über eine Fortsetzung nach. Das Thema braucht viel mehr Aufmerksamkeit. Wir versuchen, bei Besetzungen für unsere Theater- und Filmprojekt bewusster darauf zu achten, verschiedene Körper sichtbar zu machen und zu reflektieren, welche Charaktere wie besetzt werden. Und in Arbeitszusammenhängen keine Art von Fat Shaming zu tolerieren – das ist das Mindeste.

Hat die Beschäftigung mit dem Thema bei Ihnen etwas verändert?

Katharina Bill: Für mich hat es alles verändert. Vorher war ich wie in einem Dunstnebel auf dieser komischen „Liebe dich selbst“-Schiene. Jetzt verstehe ich viel mehr, auch meine eigene Biografie. Der Nebel lichtet sich, ich weiß jetzt, welche Themen ich bearbeiten möchte. Deshalb bin ich dem Projekt sehr dankbar, dass wir zusammen diese Schritte gegangen sind. Für mich persönlich ist das ein Anfang, von dem aus ich weitergehen werde.

Silke Merzhäuser: Auch bei mir hat sich viel verändert. Wie ich über Körper spreche, ich bin jetzt viel sensibler. Oder frage mich, ob es überhaupt nötig ist, über Körperformen zu sprechen. Ich glaube, dass es uns allen nicht gut tut, den Fokus darauf zu legen. Körpergewicht sollte keine Kategorie sein, die unser Miteinander bestimmt. Natalie Rosenke, die sich selbst als Fettaktivistin bezeichnet, hat mal gesagt: Es hilft, nicht über Gewicht zu reden. Ich finde, das ist eine gute Strategie.

Silke Merzhäuser studierte Politische Wissenschaft, Literaturwissenschaft und Sozialpsychologie an der Universität Hannover. Sie arbeitete als Dramaturgin am Luzerner Theater und am Deutschen Theater in Göttingen. Seit 2009 ist sie als Dramaturgin Teil der „werkgruppe2 (Opens in a new window)“, einem freien Künstlerinnenkollektiv, und realisiert unterschiedliche Projekte. Der Kurzfilm „Anna“, in dem Katharina Bill die Hauptrolle spielt, hatte am 30. Mai 2022 Weltpremiere beim Krakau Filmfestival im Internationalen Wettbewerb.

Katharina Bill (Opens in a new window) schloss 2013 ihr Studium an der Universität Hildesheim als Szenische Künstlerin ab und arbeitet seither als freie Performerin. Zu sehen war sie unter anderem in Inszenierungen an der Kaserne Basel, dem Schlachthaustheater Bern und dem Theater Bonn. 2021 entwickelte sie gemeinsam mit dem Künstlerinnen-Kollektiv „werkgruppe2“ den Kurzfilm „Anna“, in dem sie die Protagonistin spielt. Daraus entstand die Idee, die Sichtbarkeit und Darstellung dicker Körper in einem Podcast weiter zu besprechen: Im Podcast „FETT“ hatte Katharina Bill in bisher fünf Folgen zu dem Thema unterschiedliche Gesprächspartner*innen.

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