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Wenn nichts mehr ist wie vorher

Long Covid – zurück in ein anderes Leben

Ann-Marlene Henning, eine der bekanntesten Paartherapeutinnen Deutschlands, leidet bis heute an den Nachwirkungen ihrer Covid-19-Infektion. Die Erfahrung hat ihr Leben und die Wahrnehmung ihres eigenen Körpers auf den Kopf gestellt – und eine harte Lektion über die Endlichkeit des Seins erteilt.

Von Anne Klesse, Hamburg

„Psychologen gucken dir in den Kopf, Sexologen in die Hose. Herzlichen Glückwunsch! Ich tue beides.“ Mit diesem Spruch begrüßt Ann-Marlene Henning Besucher*innen auf ihrer Homepage (Opens in a new window). Er passt zu der lockeren, direkten Art der 58-Jährigen. Henning studierte Neuropsychologie, Sexologie und arbeitet als Sexual- und Paarberaterin.

Als solche trat sie regelmäßig in der ZDF-Doku-Reihe „Make Love (Opens in a new window)“ auf, hatte acht Jahre lang einen eigenen Sexologie-Video-Blog (Opens in a new window), hostete einen Paartherapie-Podcast (Opens in a new window) und schreibt Bücher (Opens in a new window) – bislang hauptsächlich zu sexueller Aufklärung, zuletzt jedoch über eine sehr persönliche Zeit: „Dass der Kaffee nicht mehr schmeckt, ist mein kleinstes Problem. Leben mit Long Covid“ erschien 2022 im Piper Verlag (Opens in a new window). Henning hatte Covid-19 und ist eine von weltweit Millionen Menschen, die auch lange Zeit nach ihrer Infektion noch an etlichen Symptomen leiden.

Je nach Studie variiert die Zahl der Betroffenen, zudem sorgen die Virusvarianten und Immunisierungsgrade der Bevölkerung für Unterschiede. Beides scheint auch Auswirkungen auf Long Covid zu haben. Laut Robert Koch-Institut (Opens in a new window) liegt der Anteil der betroffenen Erwachsenen, die milde Verläufe hatten und nun an Long Covid leiden, zwischen 7,5 und 41 Prozent. Die Zahlen unterscheiden sich weltweit je nach Datenbasis und Studienmethodik. Von denjenigen, die mit Covid-19 sogar in der Klinik lagen, behielten knapp 38 Prozent Langzeitfolgen zurück.

Auch für Deutschland sind die Zahlen je nach Ergebung unterschiedlich. Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung dokumentierte im ersten Quartal 2021 für sechs Prozent der Versicherten einen Long-Covid-Zustand. Allerdings war das Phänomen damals noch nicht allen Ärzt*innen bekannt, die tatsächliche Zahl dürfte höher gewesen sein. Long Covid, so viel steht fest, ist die neue Volkskrankheit. Dabei gilt nicht jede oder jeder, der*die ein bisschen Husten zurückbehält, gleich als Long-Covid-Patient.

Dafür müssen laut Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO drei Monate nach Infektion Symptome wie Fatigue – also krankhafte Erschöpfung –, Kurzatmigkeit, neurokognitive Störungen (zum Beispiel Konzentrations-, Wortfindungs- und Gedächtnisschwierigkeiten) und anderes auftauchen, mindestens zwei Monate lang andauern und nicht durch eine alternative Diagnose erklärbar sein. In der Praxis bedeutet das oft: Beruf und Alltag nicht mehr in gewohnter Weise nachgehen zu können.

Alles geht nur noch in Zeitlupe

Henning hat Schmerzen – „ständig“, sagt sie. In den Muskeln, den Knochen. Aufstehen aus dem Sitzen oder Liegen gehe nur noch langsam, wie auch vieles andere: Sie könne einfach nicht mehr schnell sein. Vorher war das möglich. Vorher, das war vor dem 5. November 2021. Henning hatte sich in den ersten Tagen ihrer Corona-Infektion lediglich ein wenig schwach und kränklich gefühlt, dann fieberte sie jedoch. „Dass Gefäße und Lunge beteiligt sind, war mir klar, aber dass häufig auch das Gehirn angegriffen wird, fand ich erst später heraus.“

Hamburg, die Stadt, in der sie als junge Frau Neuropsychologie studiert hatte, war lange Zeit Wahlheimat der Dänin. 2006 eröffnete sie in Hamburg-Eppendorf, einem Stadtteil mit vielen Parks und Gründerzeithäusern, ihre Praxis für Beratung in Beziehungsfragen. 2020 kaufte sie mit ihrem Partner ein Haus in ihrer Heimat, seither pendelt Henning zwischen der Hansestadt und dem zweieinhalb Stunden entfernten Haderslev im dänischen Südjütland.

Ihre Corona-Isolation verbrachte sie allein in den Hamburger Praxisräumen, in denen sie ein Bett stehen hat. Irgendwann verschlechterte sich ihr Zustand so, dass sie den Rettungsdienst rief. Ihr Brustkorb habe sich schwer angefühlt, erinnert sie sich, die Sauerstoffsättigung in ihrem Blut lag nur noch bei 88 Prozent – alles unter 90 Prozent ist gefährlich.

Henning war nicht geimpft, sie ist es bis heute nicht. Sie habe einfach Angst davor, sagt sie. Auf der Intensivstation wurde sie immer schwächer, nach zwei Wochen versagte ihre Lunge, sie wurde ins Koma versetzt. Was das bedeutet – für Patient*innen, aber auch für Angehörige – wurde Henning erst Monate später bewusst. Ihr Lebenspartner sei anfangs weinend zusammengebrochen, wenn sie über die Zeit sprachen.

Albträume und Angst, für immer einzuschlafen

Ann-Marlene Henning ist es gewohnt, jederzeit über ihren Körper selbst zu bestimmen. Im Krankenhaus ging das nicht. Zwölf Tage lang lag sie im Koma. Sie habe viel geträumt, hauptsächlich Albträume. Zurück zu Hause habe sie abends oft nicht einschlafen können. „Ich spürte eine merkwürdige Unruhe, wie so ein dunkles Gefühl der Gefahr“, erinnert sie sich. „Ich hatte Angst, für immer einzuschlafen.“

Am Nikolaustag wachte sie aus dem Koma auf. Sie habe geweint, vor Erleichterung. Aber „wach“ bedeutete nicht etwa „wie vorher“. Sie hatte einen septischen Schock erlitten, war immer noch sehr schwach, konnte sich kaum bewegen, nicht einmal ihre Bettdecke wegtreten oder einen Nagelknipser zusammendrücken. „Ich dachte, dass meine Kraftlosigkeit und meine Immobilität durch das Liegen entstanden waren und sich alles in den nächsten Tagen bessern würde“, schreibt sie in ihrem Buch. Doch ihre Muskeln und Nerven sind geschädigt. Als sie Wochen später zum ersten Mal wieder auf eigenen Beinen stehen konnte, kamen ihr die Tränen.

Ihr Körper sei während der gesamten Krankenhauszeit „ein Schlachtfeld“ gewesen. Dabei legt Henning auf ihr Äußeres großen Wert, schminkt sich gerne und sucht ihre Outfits gezielt aus. Als sie im Klinikbett das erste Mal einen Spiegel in die Hand gedrückt bekam, habe sie sich erschrocken: „Haare auf der Oberlippe, Rötungen und Schwellungen im Gesicht. Dazu hatte ich ja wochenlang nicht geduscht – es war ein Graus.“ Ihr Körper funktionierte nicht mehr wie vorher und er sah auch nicht mehr so aus. Auch in ihrer Weiblichkeit und Sexualität habe sie sich erst langsam wiederfinden müssen. Früher färbte sie sich die grauen Haare – „damit bin ich jetzt durch.“ Sie möchte mehr zu ihrem Alter und den damit verbundenen körperlichen Veränderungen stehen.

Henning hat als Freiberuflerin finanziell immer für sich selbst gesorgt. Zuletzt pendelte sie zwischen Hamburg und Dänemark oft an einem Tag hin und zurück, beriet vormittags Paare in ihrer Praxis, gab nachmittags ein Talkshow-Interview, fuhr dann mit dem Auto nach Haderslev, um mit ihrem Partner zu Abend zu essen. Die Hilfslosigkeit und Fremdbestimmung, die sie in den insgesamt anderthalb Monaten Klinikaufenthalt spürte, ist besonders schwer für sie zu verarbeiten.

„Ich weiß jetzt, dass von einem auf den anderen Tag alles vorbei sein kann.“ Diese Erkenntnis macht sie nachdenklich. Ihr zwei Jahre jüngerer Bruder ist im vergangenen Jahr gestorben. „Die Endlichkeit ist zur Tatsache geworden“, sagt sie. Trotzdem, so hofft sie, möchte sie auch noch mit 85 auf dem Sofa sitzen und mit Leuten sprechen. Selbstständig arbeiten bis ins hohe Alter – darauf waren ihre Lebens- und auch die Finanzplanung ausgelegt. Nun fürchtet sie die Altersarmut. Ein Thema, das sonst erst viel später präsent geworden wäre.

Positiv denken – trotz allem

Gleichzeitig bleibt es ihr wichtig, Hoffnung zu bewahren und positiv zu denken. Sie macht sich in letzter Zeit viele Gedanken über die Theorien des amerikanisch-israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky. Er gilt als Begründer der Salutogenese, seinem Gegenentwurf zur Pathogenese, der Entstehung und Entwicklung von Krankheiten. Dieser Perspektivwechsel hin zur Konzentration auf das Gesundbleiben fehlt Henning in der gesellschaftlichen Debatte.

„Antonovsky sprach von Resilienz, vom Kohärenzgefühl und damit über den Schlüssel zur Gesundheit, zu dem gehört, dass der Mensch seine Welt verstehen muss. Wenn er das nicht tut, wird er krank.“ Pandemie, Krieg, Inflation – da ist zurzeit vieles, das die Menschen nicht verstehen können, ist Henning überzeugt. Die grundsätzliche Verunsicherung, die sie selbst erlebt hat, mache sie manchmal handlungsunfähig. Ihr Fazit: „Ich glaube, so geht es vielen.“

Bei der Genesung half Henning, dass sie sich immer schon viel mit dem menschlichen Körper beschäftigt hatte. Wochenlang musste sie Übungen machen, um wieder richtig atmen zu können. Das Haar ist nachgewachsen, ihre Haut verheilt. Die Muskeln funktionieren wieder weitgehend. Es geht voran. Der Geschmackssinn und die Kraft sind aber bis heute nicht ganz wieder da. Als Therapeutin arbeitet sie bisher nicht wieder. Bald will sie in einer neuen Praxis in Norddeutschland neu starten.

Ann-Marlene Henning ist ein anderer Mensch geworden durch die Coronavirus-Erkrankung. Sie sei vorsichtiger geworden. Das Leben erscheint ihr weniger planbar. Sie genießt ihren ruhigen Alltag in Haderslev, mit Außenkamin und Hund. Mit ihrem Partner, als Grafiker ebenso selbständig wie sie, hat sie abgemacht, dass, wenn es finanziell eng werden sollte, „wir zwei Zimmer mieten, Mützen stricken und dann eben nur noch Leberwurstbrote essen.“ Eine für sie, trotz aller Ironie, irgendwie tröstliche Aussicht.

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