Gegen die Erwartungen
LGBTQ in Japan
Karen Yamaguchi ist nicht-binär und leidet unter den oft noch strengen Geschlechternormen Japans. In der Schule darf sie keine Hosen tragen. Heute geht sie Musikerin und Produzentin ihren eigenen Weg.
Von Eva Casper, Kyoto
In ihrer Schulzeit vermeidet es Karen Yamaguchi, die Mädchen-Toilette zu benutzen. „Es fühlte sich nicht richtig an“, erzählt sie. Auf die Jungs-Toilette kann sie aber auch nicht gehen. Sie hat ja den Körper eines Mädchens. Yamaguchi lebt nicht weit von der Schule entfernt. Wenn sie es nicht mehr aushält, geht sie bei sich zu Hause auf die Toilette. Es ist aber nicht das Einzige, was sie stört. Viele Schulen in Japan haben strenge Kleidervorschriften: Mädchen müssen Röcke und Jungs Hosen tragen.
Doch Yamaguchi fühlt sich darin unwohl. Und auch bei der Frisur gibt es wenig Freiheit: Die Haare müssen für Mädchen mindestens Nackenlänge haben. Sie will sie lieber kürzer tragen. Wenn Mädchen in ihrer Klasse breitbeinig dasitzen, weisen die Lehrer*innen sie zurecht: Das gehöre sich für Mädchen nicht. Yamaguchi entwickelt mehr und mehr das Gefühl, dass ihr Geschlechterklischees aufgezwungen werden, dass sie an der Schule eine Person sein muss, die sie nicht ist. „Ich hatte das Gefühl, dass meine eigenen Wünsche und Bedürfnisse weniger wichtig sind als das, was die Gesellschaft von mir verlangt.“
Es sind nicht nur die Klischees, die sie stören, die Yamaguchi das Gefühl geben, anders zu sein: Sie liebt Frauen. Doch das behält sie lange für sich. Als Teenagerin hat sie einen Klassenkameraden, der offen mit seiner Homosexualität umgeht – und sich deswegen viele Beleidigungen anhören muss. Der Junge habe die dummen Sprüche immer weggelacht, erzählt Yamaguchi. Doch sie will nicht das Gleiche durchmachen müssen. Sie hält ihre Sexualität und ihre Beziehungen geheim – und leidet darunter.
Mit Musik das Schweigen brechen
Die Musik hilft Yamaguchi durch diese schwere Zeit. Mit sechs Jahren fängt sie an, Schlagzeug zu spielen, mit etwa elf oder zwölf Jahren greift sie zur Gitarre. Mit 14, 15 beginnt sie, eigene Songs zu schreiben. Die Musik ermöglicht ihr eine neue Art, sich mitzuteilen. Yamaguchi verbrachte ihre ersten Lebensjahre in England. Als sie sieben Jahre alt war, kehrte die Familie zurück nach Japan. Sie habe damals kaum Japanisch gekonnt und sich deswegen oft ausgeschlossen gefühlt, erzählt sie. Hinzu kam ihre Unsicherheit wegen ihrer Geschlechtsidentität.
„Mein ‚Anderssein‘ hat dazu geführt, dass ich meine Gefühle für mich behalten habe“, schreibt die heute 24-Jährige auf Instagram über diese Zeit. „Aber in den Songs, die ich geschrieben habe, konnte ich mich verletzlich zeigen – und frei sein.“ Ihren Schmerz darüber, ihre Beziehungen nicht offen leben zu können, verarbeitet sie in dem Song „Hideaway“, zu Deutsch „Versteck“. Dort singt sie: „Die Leute sagen, es ist schwer, verliebt zu bleiben. Aber es ist noch schwerer, wenn niemand weiß, was wir sind.“
Lange glaubt Yamaguchi, dass sie transgender ist. Dass sie zwar im Körper einer Frau geboren wurde, sich aber als Mann identifiziert. Doch das ändert sich, als sie mit etwa 15 Jahren eine Beziehung mit einem Mädchen hat. Sie habe das Gefühl gehabt, dass das Mädchen von ihr erwartete, sich wie ein klischeehafter Mann zu verhalten: keine Emotionen zu zeigen und grundsätzlich weniger die Gefühlsarbeit der Beziehung zu übernehmen. „Ich hatte das Gefühl, eine Rolle in einer TV-Serie zu spielen.“ Da merkt sie, dass es nicht darum geht, ein Mädchen oder ein Junge zu sein. Sie ist „etwas dazwischen“, wie sie es nennt.
Über die LGBTQ-Szene auf YouTube findet sie schließlich ein Wort dafür: nicht-binär. Es bezieht sich auf Menschen, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordnen. Im Japanischen ist dafür die Bezeichnung „X-Gender“ gebräuchlich. Manche nicht-binäre Menschen möchten nicht mit den Pronomen sie oder er angesprochen werden. Yamaguchi verwendet die Anrede sie. Im Japanischen werden Pronomen allerdings weniger häufig verwendet als im Deutschen. Zudem haben Wörter kein Genus. Grundsätzlich findet Yamaguchi Pronomen aber nicht so wichtig. Nicht die Wörter seien das Problem, sondern die Rollenbilder: etwa, dass Frauen schwächer seien als Männer.
In Yamaguchi wächst der Wunsch nach Veränderung. In ihrem letzten Schuljahr startet sie gemeinsam mit einer Freundin eine Petition, um die Regeln für die Schuluniformen zu ändern. Ein paar Jahre später habe die Schule diese tatsächlich angepasst, erzählt Yamaguchi. Sie geht nun immer offener mit ihrer Sexualität um. Gegenüber ihren Eltern hat sie das Thema zwar nie direkt angesprochen, doch sie glaubt, dass die das ohnehin „immer gewusst haben“. Sie habe immer das Gefühl gehabt, dass sie ihr indirekt mitteilen: Es ist ok, wenn du Frauen liebst oder ein Mann sein willst. Sie wüssten auch, dass sie jetzt mit einer Frau zusammen ist.
Nach ihrem Schulabschluss geht Yamaguchi für ein Jahr in die USA, um am „Berklee College of Music“ in Boston zu studieren. Dort lernt sie eine andere Welt kennen. Alle seien sehr offen mit ihrer Sexualität umgegangen. Sie sagt rückblickend: „Ich war dort normal.“ Im Jahr 2020 kommt eine Bekannte auf Yamaguchi zu, um eine Doku über sie zu drehen. Sie stimmt zu, in der Hoffnung, dadurch eine Veränderung in der Gesellschaft anstoßen zu können. Dass die Menschen mehr darüber erfahren, was es bedeutet, nicht-binär zu sein – ohne jedoch zu ahnen, wie viel Aufmerksamkeit das Video auf sich ziehen wird.
Im November des gleichen Jahres erscheint es auf Yahoo! News, eine der führenden Nachrichtenseiten in Japan. Der Titel: „Rebel without a label.“ Es geht um ihre Musikkarriere – und um ihre Geschlechtsidentität. Yamaguchi stellt darin keine konkreten politischen Forderungen, aber sie spricht an, dass Japan ein Problem mit Gleichberechtigung hat.
Gegenwind aus der Gesellschaft
Die Reaktionen auf die Doku waren „sehr gemischt“, sagt Yamaguchi. Es gab viele Menschen, die sie unterstützten, aber auch Gegenwind: Etwa, dass sie unproduktiv sei, weil sie als lesbische Person keine Kinder zur Welt bringt. LGBTQ-Menschen als Sündenböcke für die schwindende Geburtenrate: Ein Vorwurf, den auch schon einige japanische Politiker*innen öffentlich geäußert haben. Die Kommentare auf den Artikel hätten sie verletzt, sagt Yamaguchi. Sie beginnt aber auch, ihre Strategie zu hinterfragen: Ist es im Kampf für Gleichberechtigung hilfreich, konfrontativ zu sein oder verhärtet es nur Fronten?
Yamaguchi wünscht sich durchaus Veränderungen, mehr Unterstützung von der Politik: zum Beispiel das Recht zu heiraten, Kinder zu adoptieren oder Leihmutterschaft. Sie selbst wisse zwar noch nicht, ob sie mal heiraten oder Kinder bekommen möchte, doch überhaupt die Möglichkeit dazu zu haben sei wichtig. Das Problem: In all diesen Punkten sei die Regierung noch nicht einmal bereit, zu diskutieren. Umfragen deuten darauf hin, dass LGBTQ-Menschen in Japan das Gefühl haben, nicht offen mit ihrer Sexualität umgehen zu können.
In einer Studie des „Japan LGBT Research Institute“ von 2019 antworteten 78 Prozent der Befragten, dass sie noch kein Coming Out hatten. Die Menschenrechtsorganisation „Amnesty Internationa“l sieht in einem Bericht aus dem Jahr 2020 „die weite Verbreitung homophober und transphober Ansichten in Japan“ als Grund für die Angst vieler LGBTQ-Menschen, sich zu outen. In einer Studie der OECD rangiert Japan auf dem zweitletzten Platz, was den gesetzlichen Schutz von LGBTQ-Menschen betrifft. So gibt es etwa bis heute keine umfassenden Antidiskriminierungsgesetze. Dadurch fehlt den Betroffenen die rechtliche Handhabe, sich gegen Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung zu wehren.
Mehr Rechte für LGBTQ
Gleichzeitig gibt es aber auch Fortschritte. Zahlreiche Gemeinden geben gleichgeschlechtlichen Paaren die Möglichkeit, ihre Partnerschaft zu registrieren, wodurch sie zumindest in einigen Bereichen die gleichen Rechte wie Eheleute bekommen, beispielsweise ein Besuchsrecht im Krankenhaus. Allerdings hat ein Gericht in Tokio vor Kurzem eine Klage auf ein Recht für die gleichgeschlechtliche Ehe abgewiesen. In seinem Urteil deutete das Gericht zwar an, dass das entsprechende Gesetz unfair sei, wenn es nur eine Ehe nur als Verbindung zwischen beiden Geschlechtern definiert und damit gleichgeschlechtliche Paare ausschließt.
Die LGBTQ-Community hofft indes, dass sie nun mehr Druck auf die Politik ausüben kann. Auch wenn die Veränderungen leiser daherkommen als anderswo, es tut sich was. Etwas, das nicht von einer lauten, sichtbaren Masse angestoßen wurde, sondern eher im Kleinen. Derzeit steht Karen Yamaguchi im Übrigen weniger im Rampenlicht und ist mehr als Songschreiberin und Produzentin aktiv. In ihrer Wohnung in Tokio hat sie ein eigenes Tonstudio. Vor Kurzem schrieb sie die Texte für zwei Lieder des weltweit sehr berühmten Animes „Attack on Titan“. Auf die Weltbühne strebt sie aber erstmal nicht.
Die Reaktionen, die sie damals auf ihre Doku bekommen hat, haben ihr auch gezeigt: Laut und konfrontativ sein ist eine Möglichkeit, seine Rechte einzufordern – aber es ist nicht ihr Weg. Sie arbeite für einige sehr bekannte Gruppen in Japan, die viele Fans haben wie zum Beispiel die südkoreanische Girlgroup „Twice“. So erreiche sie auch viele Menschen mit ihrer Musik, „unabhängig von ihrem Geschlecht oder ihren Werten“. Alles, was sie tun könne, sei, ihre Meinung zu erklären und zu hoffen, dass andere es verstehen. Und damit eine Veränderung anzustoßen: Schritt für Schritt. Sie glaubt, dass es nicht sinnvoll ist, anderen Menschen den eigenen Willen aufzuzwingen – genauso wenig, wie sie zu zwingen, einen Rock zu tragen.