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Gerettete Erinnerungen

Jeder Ort in Hamburg, jedes Schicksal ist ein Anker, der mich mit dieser Stadt verbindet. Mit jeder neuen Geschichte, die ich erfahre, schlage ich mehr und mehr Wurzeln zwischen den ehemals fremden Pflastersteinen. 

In meiner alten Heimat kenne ich jede Strasse, meine Nachbarn, ihre Stories, die die Orte dort gespeichert haben. Je mehr sie sich mit der Zeit veränderten, desto tiefer setzte sich ihre Geschichte in meinem Kopf fest. Die Erinnerung wird zur Bindung und zum Halt. Als ich vor über 20 Jahren ausgewandert bin, hat die Bindung Risse bekommen, ich musste eine Lösung dafür finden, denn ohne Halt kommt man nicht weiter. Jetzt wohne ich schon lange nicht mehr dort, im bergigen Süden Kasachstans, ohne Pflastersteine und mit kaum asphaltierten Wegen, sondern hier in Hamburg. Da gab es keine Rückblicke über diese neue Heimat  … 

Irgendwann merkte ich, dass ich mir gezielt Erinnerungen aneigne. Ich bin hungrig nach Anekdoten, Geschichten und Archivbildern dieser Stadt. Meine eigenen Erlebnisse und das Wissen über die Vergangenheit verflechten sich zu einer neuen Bindung, die mir wieder Halt bietet.

Diese Geschichte hier ist besonders, denn es geht um einen Hamburger, der vergessen werden sollte. Jemand wurde mit Absicht entwurzelt und ist daran gestorben. Das hat mich wahnsinnig berührt. Ganz aktiv wurde seine Geschichte, wie auch vieler anderen, von den Nazis aus den Archiven Hamburgs getilgt und beinahe ist es gelungen. Zum Glück hat man es nicht zugelassen. 

Noch bis zum 3. Januar kannst Du das Schicksal eines jüdischen Fotografen Max Halberstadt im Museum für Hamburgische Geschichte verfolgen. Sein Nachlass ist seit der Entstehung in den 20-er Jahren unerkannt fast täglich in den Medien zu sehen. In Zeitungen, Büchern, Zeitschriften und Filmen. Hauptsächlich ist es das Bild von Sigmund Freud, seinem Schwiegervater. Wenn man in den Ausstellungsraum rein kommt, hat man das Gefühl, es geht um Freud. Die Erscheinung von Max Halberstadt tritt extrem zurück hinter dem imposanten Porträt des ersten Psychoanalytikers, der Dich aus fast allen Ecken anschaut. Selbst auf dem Bild, das den Fotografen beim Betrachten der belichteten Glasplatte zeigt, dachte ich zuerst, es wäre Freud, der sein eigenes Abbild begutachtet. 

Ein Mann mit ruhigem, sanften Blick und einem – typisch für die Zeit – imposanten Schnurrbart schaut mich an. Seine Geschichte finde ich spannend. Denn abgesehen davon, dass er das berühmteste Foto von Freud gemacht hat, war er auch noch Werbe- und Reportagefotograf, Werbegrafiker und ein erfolgreicher Kreativer – würde man heute sagen. Wenn man seine Arbeit betrachtet, lernt man viel über die Entstehung der Werbebranche, Pressefotografie, Entwicklung der Fototechnik aber auch über die Geschichte Hamburgs. Denn er hat viele Alltagsszenen festgehalten. Vom Fischmarkt, Hafen, Alster, Inneneinrichtung reicher Hamburger, Kinderporträts, Schauspieler:innen, jüdische Gemeinde, den jüdischen Friedhof in Altona. Es gibt ein dickes Band aus dem Jahr 2009 voll mit seinen Fotos des Friedhofs und nirgends taucht sein Name auf.

Die Wiederentdeckung verdanken wir einem Zufall, erfahre ich in der Ausstellung. Ich finde sie sehr gelungen. Man sieht nicht nur Originale und Exponate aus dem Leben der Familie, sondern kann auch eintauchen in die Räume und die Atmosphäre dieser Zeit. Der Boden ist mit einer Karte der Hamburger Innenstadt bedruckt, auf dem einzelne Punkte der Geschichte markiert sind: das Atelier des Fotografen im Neuen Wall 54, Adressen, an denen die gezeigten Aufnahmen entstanden sind. Dokumente sind auf riesige Bahnen abgedruckt, die von der Decke bis weit über den Boden reichen. Stellwände mit Fotos von Räumen in Originalgröße, in die man fast eintreten könnte.

Ich brauche fast zwei Stunden, um mir alles anzuschauen und zu lesen, bevor ich anfangen kann zu zeichnen. Danach möchte ich noch zu einem Vortrag über eine andere vergessene Fotografin. Es ist nicht viel los, nur ein Paar einzelne Besucher sind da und ein Museumsmitarbeiter schaut ab und zu nach dem Rechten als eine imposante, laute Stimme meine Aufmerksamkeit lenkt. Ein grauhaariger Mann im schwarzem Rollkragenpulli und grauem Jackett betritt mit einer kleinen Gruppe die Ausstellung und erzählt etwas gehetzt über die Hintergründe und Einzelheiten. Ich spüre, dass er etwas damit zu tun hat und fange an, Gesprächsfetzen aufzuschreiben:

„ … Eva Halberstadt (Tochter des Fotografen) lebt noch mit 96 top fit in Johannesburg.“

„ … Auf einmal kriege ich einen Anruf: Hi, do you know what ‚Gewerbeanmeldungsschen‘ is. It sounds like ‚Verkehrsordnungsamt‘ … “

„Kurz vor der Eröffnung kommt ein Paket an, wir wussten erstmal nicht was das ist. Dann haben wir es aufgemacht. Es war eine Leica, ein Abschiedsgeschenk der Kollegen … Hier ist sie, schauen Sie, die Innschrift … “

Später erfahre ich, dass ich einer Kurzführung des Kurators der Ausstellung, Dr. Wilfried Weinke, beiwohnen durfte.

Nach der Ausstellung gehe ich zu dem Lesungssaal, in dem der Vortrag über Ursula Wolff-Schneider – eine der ersten Fotojournalistinnen, statt findet. Ich erkenne den Gastgeber, Herrn Weinke, der die Ausstellung vorhin „gestürmt“ hat und auch die Gruppe wieder. Dr. Martin Malte Blumenthal wird als Vortragender vorgestellt. Er erzählt über die Fotografin, die mit ihren Bildern die Presselandschaft Hamburgs der 20-er und 30-er Jahre geprägt hat, die aber ebenfalls wie Max Halberstadt komplett in Vergessenheit geraten ist. Auf einer Zuhörerbank sitzt sein ca. achtjähriger Sohn. Ich wünschte, mein Sohn wäre auch hier. Ich höre zu und zeichne.

Die Adresse Neuer Wall 54 suche ich Tage später auf, um zu schauen, wie es auf mich wirkt. Dieser Teil der Stadt mit teueren Markenläden und Privatarztpraxen hat mich nie angezogen. Auch jetzt fühle ich mich hier fehl am Platz. Die Nummer 54 ist ein Neubau, wie die meisten Bauten hier. Ich ärgere mich über die Baustelle, die mir die Sicht auf die Fassade verdeckt. Dahinter befindet sich ein Laden mit dem edlen Namen "Illums Bolighus • By Appointment to Her Majesty The Queen of Denmark" … Aha, sagt mir nix. Den Namen muss ich erstmal googeln, es gibt einen Onlineshop mit Vasen, Möbeln und Hausschuhen. Gegenüber steht ein Ständer auf dem Gehweg, der die Passanten wohl rein locken sollte. Darauf ein Satz, der mir auch nichts sagt, aber ganz interessant sich in meine Geschichte einfügt: „Shaping new Tomorrow“. Ich lasse es einfach so in meinem Kopf stehen. Stelle mir nur vor, wie die Strasse vor 100 Jahren auf mich gewirkt hätte. Wahrscheinlich wäre es ebenfalls befremdlich. 

Es war trotzdem spannend die Geschichte an Ort und Stelle, in der sie statt gefunden hat, in der Gegenwart aufleben zu lassen. So stelle ich mir oft die zerbombte Innenstadt vor, die ich von alten Fotos kenne oder den Hauptbahnhof, während ich auf einen Zug warte – laut, dampfend, mit hetzenden Reisenden in langen schwarzen Röcken und Zylinderhüten. Machst Du das auch manchmal?

Tschüss, bis nächste Woche!

Julia Zeichenkind

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Museum für Hamburgische Geschichte:

Der Fotograf Max Halberstadt

"...eine künstlerisch begabte Persönlichkeit“

7. Mai 2021 bis 3. Januar 2022

https://shmh.de/de/max-halberstadt (Öffnet in neuem Fenster)

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