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Verbindungen und Blockaden

Es ist dunkel und kalt draussen. Ich sitze in meinem unaufgeräumten Wohnzimmer, vor mir ein Glas Weißweinschorle, und rede mir gut zu. Ich bin müde. Seit über einem Monat habe ich keine Reportage mehr veröffentlicht und es fühlt sich nicht toll an. 

Es gibt nur ein Thema, über das ich schreiben möchte – meine Gedanken und Empfindungen zum Krieg in der Ukraine. Noch bevor ich über etwas anderes schreiben kann, muss ich es los werden. Ich zeichne wie besessen die friedliche Realität um mich herum. Die Realität in mir drin hat nichts damit zu tun und ich weiß nicht, wem ich glauben soll.

Mach es trotzdem! sage ich mir immer wieder. Bleib dran! Fang wieder neu an! Erzähle, was dich bewegt! 

Am Rande: James Bar Bowen und Jan-Roelof Bathoorn im Café Feuerwache, eine Location in Hamburg, die noch vor der Roten Flora besetzt wurde und keine — wirklich null —  Internetpräsenz  hat

Auftritt von Isabella Francine - Troubadour im Café Feuerwache

In meinem Kopf drehen sich tausend Themen und keins davon kann ich richtig in Worte oder Striche fassen. Ich habe Zweifel, ob Dich das interessiert und ob ich das veröffentlichen soll. Deswegen sitze ich hier in meinem chaotischen Zimmer mit meinen chaotischen Gedanken und schreibe einfach, nur um zu schreiben. Wenn mein Kind bei seinem Vater ist, gehe ich raus und lasse mich von der Realität berieseln, wie mit Fernsehen …

Mach einfach weiter!

Heulen, kickern, reden und tanzende Menschen Zeichnen im Roschinsky´s

Als ich vor über 20 Jahren nach Hamburg kam, hatte ich kaum Verbindungen zu dieser Stadt. Zunächst bin ich ziellos durch die Gegend geirrt. Bin mit der Bahn von einer Endhaltestelle zur nächsten gefahren, habe in sechs verschiedenen Stadtteilen gewohnt, bin zehn Mal umgezogen. Mit jeder neuen WG, jeder neuen Wohnung entstanden neue Verbindungen zu Menschen und Stadtteilen. Diese Verbindungen haben es mir erlaubt, einen Boden unter den Füßen zu finden, Wurzeln, die ich durch die Übersiedlung aus Kasachstan verloren habe, zu schlagen und mich sicherer zu fühlen. Diese Erfahrungen sind in allen meinen Zeichnungen dabei. Sie haben nicht nur meine Integration hier, sondern auch meinen Zeichenstil geprägt – vielfältig, emotional, ehrlich und offen. Hier habe ich gelernt tolerant und gut zu anderen und zu mir selbst zu sein.

Zeichnen, um überhaupt unter Menschen sein zu können

Meine Familie und Freund:innen sind auf der ganzen Welt verstreut. Die Hälfte meiner Schulklasse aus Kasachstan ist jetzt in Deutschland. Viele sind in Kasachstan geblieben, wie meine Grundschullehrerin, zu der ich immer noch Kontakt habe. Wir hatten eine WhatsApp-Gruppe, in der wir uns austauschten. Fast alle meine Schulfreund:innen in Russland und in Deutschland unterstützen Putins „Friedensmission“. Als eine der Freundinnen ganz stolz eine Liste der ukrainischen Städte gepostet hat, die durch „uns“ Russen bereits eingenommen wurden und der Post mit einem GIF von einem zufrieden zuprostenden Putin von einem Freund hier in Deutschland kommentiert wurde, wurde mir schlecht … Ich habe Angst vor dem Krieg … bin unendlich traurig und geschockt über die Grausamkeit, die gerade in der Ukraine stattfindet. Als eine meiner besten Kindheitsfreundinnen über das flüchtende ukrainische Folk geschimpft hat, habe ich die Gruppe verlassen. Ich hielt es nicht mehr aus und habe jetzt ein schlechtes Gewissen. Dass ich nicht jeden Tag mit ihnen geredet, nicht jeden Tag diskutiert habe … 

Meine Oma (Halbukrainerin) und die jüngste Tante – als ich noch nicht geboren war – in Kasachstan.

Täglich entstehen Milliarden Verbindungen durch das Internet. Wir werden mit Infos aller Art überschüttet. Meine Eltern ziehen sich den ganzen Tag russische Nachrichten rein. Im Internet gibt es Unmengen sich widersprechender Botschaften. Mein Kopf schwillt vor lauter Informationen, die es mir nicht erlauben zu erkennen, was stimmt und von welchen Interessen die Nachrichten beeinflusst werden. Was ich aber aus Beobachtungen und aus meiner eigenen Erfahrung sagen kann, ist: Die Menschen in Russland sind sehr vielschichtig und unterschiedlich. Sie sind auf einen starken Zusammenhalt angewiesen und sehr verwundbar. Der Zusammenhalt wurde schon immer durch die Kontrolle „von Oben“ und Gewalt aufrecht erhalten. Feind- und Freundbilder, Werte wie Ehre, Familie und Tradition erlauben eine Klarheit, Orientierung. Viele brauchen „Unsere“ und „Feinde“. Das wird schamlos und manipulativ von einer korrupten, kaltblutigen, verlogenen Regierung ausgenutzt. Der Zugang zu vielen unterschiedlichen und sich widersprechenden Informationen und die Armut erschweren die Orientierung und verstärken die Rückkehr zu den tradizionellen Werten. Viele Russen haben mit Freuden die westlichen Social-Media-Kanäle aufgegeben und ich kann es ihnen noch nicht mal verübeln. Aber dass in meiner Heimat Zustände zurückkehren, die wir aus den 30-er bis in die 70-er Jahren kennen, aus der Zeit von Zensur und Stalins Repressionen, hätte ich nie für möglich gehalten. 

Ich finde schon lange – schon seit dem ich hier in Deutschland in Ruhe reflektieren durfte, ohne dass mir jemand irgendwelche Schuldgefühle einreden konnte – dass der Nationalismus nicht eine Erfindung aus Deutschland ist. Das habe ich tatsächlich gedacht, das wurde uns so beigebracht, nicht direkt natürlich. Eine kleine Anekdote: als einem Schulfreund in der zweiten Klasse klar wurde, dass er Deutscher ist, hat er geweint. Er sagte "Ich bin kein Deutscher, ich bin doch kein Faschist!". 

In der sowjetischen Schule habe ich gelernt, dass alle Nationen gleichberechtigt sind. In der Realität gab es in Kasachstan, in Russland und auch in allen anderen Republiken schon immer einen harten Nationalismus und Rassismus. Wir haben immer nach Nationalitäten unterschieden, wenn wir über eine Person etwas erzählt haben. Nationalität steht in jedem Pass, zusätzlich zur Staatsangehörigkeit. Auch heute ertappe ich mich dabei, Menschen, die ich beobachte, nach ihrer Herkunft einzuschätzen und bis vor Kurzem war das eine meiner ersten Fragen an eine unbekannte Person im Gespräch. Dass meine Mutter Angst vor Menschen mit dunklerer Farbe hat … ich dachte, sie ist hier aus Entfremdung so geworden. Die Wahrheit ist, sie ist genau so geblieben, wie sie war. Es fällt jetzt nur mehr auf, in einer (noch) nazifeindlichen Umgebung.

Dass meine Freunde und Verwandte in Russland sich für Putin aussprechen kann ich verstehen, aber nicht gut heißen. Ich bin jetzt für sie eine Verräterin und damit habe ich kein Problem. Dass meine Migrant:innenfreunde und meine Eltern hier in Deutschland das tun, verstehe ich überhaupt nicht. Ist es eine Art, Verbindungen aufrecht zu erhalten? 

Dunkle Gedanken im Lunacy

In diesen Tagen reißen viele Verbindungen ab, aber irgendwie entstehen keine neuen. Ich hoffe, das ändert sich. Ich versuche gerade es zu verarbeiten, ohne mich komplett zu blockieren. 

Bis bald!

Julia Grübelkind

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