Liebe Leser:innen,
es ist ein fantastisches Smalltalk-Thema hier, egal ob es um kaputte Straßen, teure Broadway-Tickets oder fehlenden Unterricht in der Pandemie geht. Ein Wort genügt, um alle zum Nicken zu bringen: „Unions!“
Gewerkschaften gelten im rauen US-Kapitalismus seit Langem als Hindernis, geschaffen von Menschen, die nur oberflächlich arbeiten, um bald wieder Aufträge zu bekommen (Schlaglöcher!), die teuer sind (Platzanweiser:innen!) oder die sich einfach generell vor Arbeit zieren (Lehrer:innen!). Die Krux dabei: In Umfragen erkennen die Menschen die positiven Auswirkungen von Gewerkschaften auf den eigenen Betrieb an, für das ganze Land aber empfanden sie diese eher als negativ. Doch zuletzt wuchs in Umfragen die Einsicht, dass zu viel Macht in den Händen der Großkonzerne und ihrer Manager:innen möglicherweise ein Problem sein könnte. Und doch erlebte die Gewerkschaftsbewegung in der vergangenen Woche eine empfindliche Niederlage, denn in Alabama scheiterte krachend eine Abstimmung unter den Mitarbeitenden im Amazon-Lager - einen Betriebsrat wird es dort nun genauso wenig geben wie an irgendeinem anderen Standort des Internetriesen.
Für den Newsletter heute habe ich mir das Verhältnis der US-Amerikaner:innen zu ihrer Arbeit und ihren Arbeitgeber:innen angeschaut.
Let's go.
DIE POLITIK - WAS DAS LAND PRÄGT
Mehr Macht durch Corona? Warum Arbeitnehmer:innen in den USA so selten in Gewerkschaften und Betriebsräten organisiert sind und wie sich das möglicherweise ändert
1. Worum ging es bei der Amazon-Abstimmung?
Amazon betreibt in der Kleinstadt Bessemer im US-Bundesstaat Alabama eines von mehr als 100 Fulfillment Centern des Landes, hinzukommen deutlich mehr Lager. In den vergangenen Wochen stand Bessemer kurz davor, das erste Logistikzentrum der USA mit eigenem Betriebsrat zu werden. Die Gewerkschaft verlor die Abstimmung aber deutlich. Rund 5.800 Arbeiter:innen waren wahlberechtigt, 3.215 haben eine Stimme abgegeben, 1.798 waren gegen den Betriebsrat, fasst Buzzfeed News (Öffnet in neuem Fenster) kurz zusammen.
Das Ergebnis scheint überraschend, denn seit Jahren gibt es Kritik an den Arbeitsbedingungen bei Amazon, die angeblich auch dazu führen, dass wegen des hohen Akkordtempos manche Lagerarbeiter in Flaschen urinieren. Außerdem soll Amazon die Mitarbeiter gezwungen haben, während der Arbeit Anti-Betriebsrat-Videos zu schauen und es tauchte eine seltsame Armee an Twitter-Bots auf, die mit Stock-Fotos und immergleichen Messages Amazon als Arbeitgeber feierten, mehr bei Geekwire (Öffnet in neuem Fenster). Obendrauf schaltete das Unternehmen eine Webseite mit der Behauptung, dass Arbeiter künftig 500 Dollar jährlich Betriebsrats- und Gewerkschaftsbeiträge drohten, obwohl in Alabama Gewerkschaften die Mitarbeiter nicht zu solchen Beiträgen zwingen können.
Doch The Nation (Öffnet in neuem Fenster) beschreibt, dass auch die Gewerkschaft hinter dem Betriebsratsstreit einige Fehler gemacht habe, beispielsweise habe man die Zahl der Mitarbeiter falsch eingeschätzt und sich nicht früh genug um ein Stimmungsbild unter ihnen gekümmert.
Möglicherweise werden die Gewerkschaften das Wahlergebnis anfechten, fürs Erste haben sie aber einen Rückschlag erlitten. Recode (Öffnet in neuem Fenster) beschreibt, dass dennoch an anderen Standorten ähnliche Initiativen laufen.
2. Welche historischen Gründe gibt es dafür, dass Gewerkschaften so schwach sind?
In der New York Times (Öffnet in neuem Fenster) arbeitet Historiker Erik Loomis heraus, dass die letzte große landesweite Reform zugunsten der Arbeitnehmer:innen der Fair Labor Standards Act im Jahr 1939 gewesen sei. Dieser brachte den bundesweiten Mindestlohn, Rechta uf einen Acht-Stunden-Tag, bezahlte Überstunden und das Ende für die meisten Formen von Kinderarbeit. Vor allem in einzelnen Betrieben habe es aber seitdem durch die unternehmerfreundliche Besetzung von Aufsichtsräten eine Machtverschiebung gegeben, heißt es weiter. Es sei inzwischen extrem schwer, Betriebsräte zur Bündelung von Arbeitnehmer:innen-Interessen zu gründen.
Auch der Guardian (Öffnet in neuem Fenster) beschreibt ausführlich, wie seit Jahrzehnten die Position der Arbeitgeber:innen gestärkt wird. Aktuell sind rund 10,5 Prozent aller US-Arbeiter:innen in einer Gewerkschaft organisiert, ein nur noch halb so großer Anteil wie vor 35 Jahren, schreibt Gallup (Öffnet in neuem Fenster).
Bei History (Öffnet in neuem Fenster) gibt es einen Abriss zur Geschichte der Gewerkschaften, in dem unter anderem herausgearbeitet wird, wie zu keinem Zeitpunkt mehr als rund ein Drittel aller Arbeitnehmer:innen unter Rahmentarifverträge zu Arbeitsbedingungen und Bezahlung fielen. Stattdessen ist es Konsens, dass unternehmensfreundliche Politik zu mehr Arbeitsplätzen und besserer Bezahlung führen.
Generell sind die Vereinigten Staaten ein Land mit schwächeren Rechten für Arbeitnehmer:innen, beispielsweise bei Kündigungsschutz oder fehlender Elternzeit. Garantierten und bezahlten Mutterschaftsurlaub gibt es keinen, ein Job muss lediglich zwölf Wochen freigehalten werden. Einen Überblick hat der Guardian (Öffnet in neuem Fenster).
Der Pacific Standard (Öffnet in neuem Fenster) schreibt deshalb, die Schuld am Bedeutungsverlust der Gewerkschaften liege bei „Globalisierung, Politik und der amerikanischen Psyche“.
3. Was denken US-Amerikaner:innen über Gewerkschaften?
Dieses arbeitgeberfreundliche Bild widerspricht eigentlich der hohen Meinung, die US-Amerikaner:innen von Gewerkschaften haben, denn zuletzt befürworteten sie 65 Prozent aller Befragten bei Gallup (Öffnet in neuem Fenster). Höher lag dieser Wert zuletzt vor 54 Jahren (Öffnet in neuem Fenster). Besonders unter Demokraten gibt es viel Zustimmung und im Amazon-Streit hatte sogar Joe Biden öffentlich die Gewerkschaft unterstützt.
CNBC (Öffnet in neuem Fenster) sieht deshalb Zeichen für einen möglichen Mentalitätswandel und glaubt, dass immer krassere Vermögensunterschiede und Corona gut für Arbeitnehmer:innenrechte sein könnten. Die Pandemie habe vielen vor Augen geführt, wie wenig Schutz sie am Arbeitsplatz genießen, heißt es dort.
DIE MENSCHEN - WER DAS LAND PRÄGT
Die bisher 403 Menschen, die des Capitol-Aufstands beschuldigt werden
Als am 6. Januar Tausende das US-Parlamentsgebäude Kapitol gestürmt haben, sind fünf Menschen gestorben. Die Ermittler:innen betrachten den Aufstand als inländischen Terrorismus, der eine der größten Ermittlungen in der Geschichte des Landes ausgelöst hat. Weil zu selten in der öffentlichen Debatte nachverfolgt wird, was aus solchen Großereignissen wird, haben mich diese Woche die Folgen der Gewalt interessiert.
NPR hat eine fantastische Datenbank (Öffnet in neuem Fenster) mit allen Vorwürfen, den bekannten Verbindungen zu Militär und rechten Terrorgruppen und mit all jenen Aussagen von mutmaßlichen Täter:innen, die erklären, dass sie sich von Donald Trump zur Gewalt angestiftet fühlten.
Die allermeisten von ihnen werden vermutlich Deals oder Schuldbekenntnissen zustimmen, um Prozessen und Verurteilungen zu entgehen.
Gestern hat der erste Beteiligte seine Schuld eingeräumt, ein Gründungsmitglied der rechten „Oath Keepers“. Mehr dazu hat Reuters (Öffnet in neuem Fenster).
DIE (POP-)KULTUR - WORÜBER DAS LAND SPRICHT
The Improvement Association
Vor einigen Jahren hatte ich in Stuttgart mal die Gelegenheit, zwei Tage lang „Stringer“ für zwei US-Journalisten zu sein. Ich war Fahrer, Übersetzer und Helfer vor Ort für Zoe Chace und Robert Smith von „Planet Money“, eine Art brand eins zum Hören im öffentlich-rechtlichen Radio NPR. Wer es nicht kennt: Eine der tollsten Miniserien dort war Planet Money Makes a T-Shirt (Öffnet in neuem Fenster), in der man fantastisch lernt, wie die weltweite Bekleidungsindustrie funktioniert.
Beide haben damals eine Beitragsserie zur Schuldenkrise in Europa recherchiert und wir sind durch Baden-Württemberg in Richtung Frankreich gefahren, weil sie dort europäische Freizügigkeit für Arbeitnehmer:innen erklären wollten. Arbeitsthese: „Im Elsaß kann man das perfekte Leben haben: In Deutschland arbeiten und in Frankreich essen und leben.“
Für mich war es sehr spannend, solch versierte internationale Kollegen zu erleben und zu sehen, wie die beiden im Auto extrem smart ihre Themen diskutiert haben - nur um dann im Gespräch mit badischen Firmenchefs auf naiv zu schalten, um alle nötigen Antworten und Erklärungen auf Band zu bekommen. Jahre später bin ich noch einmal zufällig in die beiden bei einer Veranstaltung reingelaufen, es war ein schönes Wiedersehen.
Chace hat inzwischen Planet Money verlassen und arbeitet für das von der New York Times aufgekaufte Team des Podcast-Hits „Serial“. Jetzt hat sie ihre eigene neue Audio-Serie und sie bietet die Chance für ein tiefes Eintauchen in US-Lokalpolitik. In The Improvement Association (Öffnet in neuem Fenster) geht es darum, was der republikanische Dauervorwurf vom Wahlbetrug eigentlich wirklich vor Ort bedeutet.
Chace reist nach Bladen County in North Carolina, einem der extrem seltenen Orte, in den tatsächlich ein Betrug in einer Größenordnung von einigen hundert Stimmen nachgewiesen wurde. Er ging zugunsten der Republikaner und so nutzen beide Parteien den Fall für ihre Zwecke: Die Demokraten, um die Durchtriebenheit des politischen Gegners zu unterstreichen, die Republikaner, um das Problem Wahlbetrug aufzublasen (während sie auslassen, dass es ihre eigenen Leute waren).
Mit von der zweiten Dosis leicht impfgeschädigtem Arm kann ich tippen: Vielen Dank fürs Lesen diese Woche. In den kommenden Tagen melde ich mich etwas früher mit einigen Zahlen zur Debatte um die gravierende Polizeigewalt. Im Prozess gegen Derek Chauvin (der Polizist, der George Floyd tötete und so die riesigen „Black Lives Matter“-Proteste des vergangenen Sommers auslöste) sind für Montag die Schlussplädoyers vorgetragen.
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Bis nächste Woche, best from NYC,
Christian