Und wieder 48 Stunden
Liebe Leser:innen,
zu Beginn der Woche habe ich mich an diesen Filmtitel aus dem Jahr 1990 erinnert gefühlt: 48 Stunden sind natürlich im großen Weltenlauf eine lächerliche kurze Zeitspanne – nicht aber in den Vereinigten Staaten, wo Donald Trumps Wahlkampfmaschine auf Hochtouren dröhnt und eine monumentale News-Story auf die nächste auswirft. Geplant und ungeplant sorgt er für exakt das gleiche Chaos und jene Angst um die demokratische Zukunft der USA, die auch seine erste Amtszeit prägten.
Innerhalb von nur zwei Tagen wurde Trump Opfer eines Mordanschlags, gewann dank einer wohlwollenden Richterin einen vorläufigen Freispruch in seinem Geheimdokumente-Strafprozess und stellte seinen Hardliner-Vizekandidaten vor. Heute geht’s hier um alles drei.
Wie stets: Danke fürs Lesen.
Let's go.
VERSTEHEN
Drei Ereignisse für die Geschichtsbücher
Kurz nach 18 Uhr Ortszeit am Samstagabend sind bei einer Wahlkampfveranstaltung in Pennsylvania Schüsse auf Donald Trump gefallen. Er wurde am Ohr verletzt, ein Besucher wurde getötet, der mutmaßliche Täter wurde von Scharfschützen umgebracht.
Montagmorgen entschied dann Richterin Aileen Cannon in Florida, den Prozess zu den Geheimdokumenten zu beenden, die Trump nach dem Ausscheiden aus dem Amt mit in sein Privatanwesen Mar-a-Lago genommen hat. Ihr Argument: Sonderermittler Jack Smith hätte vom Kongress statt vom Justizministerium (DOJ) eingesetzt werden müssen, weil es die Verfassung der USA so fordere – dabei ist es seit 30 Jahren üblich, dass das DOJ die Sonderermittler verpflichtet.
Montagnachmittag verkündete Trump in seinem Online-Netzwerk Truth Social, dass J.D. Vance sein Kandidat für die Vizepräsidentschaft sei. Der 39-Jährige ist ein Hardliner, der Joe Biden für das Trump-Attentat verantwortlich macht, mit extremen Aussagen zu Abtreibungen auffiel und sich sicher für ein Ende der Ukraine-Hilfen der USA einsetzen würde.
Hier einige Gedanken zu diesen drei historischen Ereignissen:
Niemand kennt die Folgen des Trump-Attentats für die Wahl.
Schnell hieß es vor allem in deutschen Medien, dass Trumps gereckte Faust und das dazugehörige ikonische Foto ihm nun sicher die Wahl gewinnen würden. Das ist in meinen Augen unzulässig selbstsicher, denn einerseits weiß niemand, welche anderen Überraschungen in den dreieinhalb Monaten bis zur Wahl noch passieren und andererseits ist völlig unklar, wie Trumps Reaktion auf die Tat beim Volk ankommen. Klar, die Geste ist kämpferisch, aber eine schnelle Rückkehr zur aggressiven Spaltungs-Rhetorik der vergangenen Jahre könnte auch schnell wieder Wähler verprellen.
Trump hat politisierte Gerichte auf seiner Seite – er hat sie selbst besetzt.
Nach der Supreme-Court-Entscheidung, Trump für manche Taten im Zusammenhang mit dem Kapitol-Sturm Immunität zuzusprechen, weil diese in seiner Amtszeit als offizielle Akte geschahen, hat Aileen Cannon erneut eine extrem politische Entscheidung gefällt. Die in Trumps letzten Amtstagen 2020 ernannte Bezirksrichterin aus Florida war bereits zuvor damit aufgefallen, den Fall mit Verfahrensfragen so zu verschleppen, dass er kaum noch eine Chance hatte, vor der Wahl verhandelt zu werden. Nun folgte sie einer abstrusen Theorie, die möglicherweise von höheren Gerichten wieder aus dem Fenster geworfen wird. Sicher ist das aber nicht, denn Cannon wurde zu ihrer Entscheidung wohl von einem Vermerk des extrem konservativen Supreme-Court-Richters Clarence Thomas inspiriert. Bis zu einer Revisions ist die Wahl ohnehin sicher vorbei.
Trumps Vize-Kandidat ist kurzfristig eine verpasste Chance.
Nach allem, was die üblichen Edelklatsch-Reporter von Times und Co. darüber schreiben, wie Trump sich für J.D. Vance entschieden hat, war es wohl keine taktische Abwägung mit Blick auf den November. Stattdessen gilt die Nominierung des jungen Radikalen als Zeichen dafür, dass Trump von einem Sieg 2024 ausgeht und Vance als Ziehsohn für 2028 positionieren möchte, der dann die MAGA-Politik fortführt. Für diese These spricht, dass der Senator aus dem ohnehin republikanischen Ohio kaum Wähler:innen der Mitte erreichen dürfte oder das Ergebnis in seinem Heimatstaat kippen kann. Für 2024 ist das erst einmal eine verpasste Chance des Trump-Teams – aber sie zeigt, wie siegessicher die Kampagne ist. Mit seinen 39 Jahren und der Nähe zur Tech-Branche dürfte Vance vor allem junge Männer ansprechen, die zum verlässlichen Pfeiler der Partei werden sollen.
VORAUSSCHAUEN
Kommt die Biden-Debatte am Wochenende zurück?
Am anderen politischen Lager fragen sich alle, ob Joe Bidens schlechte Leistung in der TV-Debatte schon vergessen ist, oder ob der Druck auf den 81-Jährigen noch einmal erhöht werden kann, sich doch noch als Präsidentschaftskandidat zurückzuziehen.
Dienstagmorgen kam die Meldung, dass eine Gruppe aus Kongressabgeordneten der Demokraten den Parteiapparat darauf drängen möchte, die Online-Nominierung Bidens aufzuschieben. Bisher ist geplant, dass diese formelle Bestätigung schon vor dem Parteitag Mitte August virtuell stattfinden soll, wodurch Bidens parteiinterne Gegner nur noch wenig Zeit hätten, ihn doch noch von einem Rücktritt zu überzeugen. Die Kalkulation lautet, dass die aktuelle Woche dem Republikaner-Parteitag gehört und erst Ende Juli noch einmal eine Offensive gegen Biden starten könnte. Zunächst war die virtuelle Nominierung für den 7. August angesetzt, bei einem Treffen an diesem Freitag könnten sich die Organisatoren aber sogar auf Drängen Bidens für einen noch früheren Termin entscheiden.
Aktuell ist es überraschend, wie statisch der Wahlkampf in den Umfragen (Öffnet in neuem Fenster) verläuft: Trumps Schuldspruch im Schweigegeldprozess hat ihn kaum Unterstützung gekostet, Bidens TV-Duell brachte Trump nur einen kleinen Zuwachs. Üblicherweise sorgt aber ein Parteitag für ein kurzes Zwischenhoch in den Umfragen. Damit könnten aus den aktuell zwei Prozentpunkten Vorsprung der Republikaner in landesweiten Umfragen vielleicht fünf oder sechs werden und es wird sich zeigen, ob das genug ist, um bei Biden den Eindruck zu erzeugen, dass er den Rückstand nicht mehr aufholen kann.
VERTIEFEN
Erhellende Texte zu den drei historischen Ereignissen der vergangenen Tage
Lesetipps zum Attentat:
Bei Vox erklärt Andrew Prokop (Öffnet in neuem Fenster), dass es nicht möglich ist, die Wählerreaktionen auf das Trump-Attentat vorherzusagen. Im Atlantic beschreibt David Frum (Öffnet in neuem Fenster), wie unfähig die USA sind, eine nuancierte Debatte darüber zu führen, dass es eben Trumps Rhetorik ist, die ein Klima der Gewalt schafft. Adam Server (Öffnet in neuem Fenster) ergänzt: Das Attentat ändert nichts daran, wie verurteilenswert Trumps bisherige Taten waren und wie gefährlich für die Demokratie seine künftigen Plänen sind. A.R. Moxon (Öffnet in neuem Fenster) zählt dicht gedrängt auf, wie häufig der Ex-Präsident seit Jahren zu Aggression und Spaltung aufruft.
Lesetipps zum Ende des Geheimdokumente-Prozesses:
Mother Jones (Öffnet in neuem Fenster) beleuchtet, wie die floridianische Richterin Aileen Cannon die Begründung ihrer Entscheidung vom erzkonservativen Supreme-Court-Richter Clarence Thomas übernommen hat.
Tiefer mit der Politisierung des Obersten Gerichtshofs und mit den oft vorgeschobenen Argumenten der radikalen Richter beschäftigen sich zwei lesenswerte Bücher: Michael Waldman schreibt in „Supermajority” allgemein über die Arbeit des Supreme Court in den vergangenen Jahren. Er fasst seine Thesen bei C-Span im Podcast After Words (Öffnet in neuem Fenster) zusammen. Madiba K. Dennie hat ein Buch über die umstrittene Rechtsauslegung „Originalism“ veröffentlicht, deren Befürworter alle Entscheidungen daraus ableiten wollen, was die US-Gründungsväter wortwörtlich in die Constitution geschrieben haben. Sie sagt über ihr Buch „The Originalism Trap“ in einem Interview bei Salon (Öffnet in neuem Fenster), dass dies eine vorgeschobene Theoretisierung sei, die vor allem weißen Männern hilft, sich an ihre Macht zu klammern.
Lesetipps zur Nominierung von J.D. Vance:
Zack Beauchamp beschreibt bei Vox (Öffnet in neuem Fenster) die düster-radikale Weltsicht des möglichen Vizepräsidenten.
Beim Atlantic (Öffnet in neuem Fenster) hat Tim Alberta Einblicke in Trumps Wahlkampf-Strategie bekommen und erklärt, dass dessen Team weniger auf die Frauen aus der Vorstadt setzt, sondern stattdessen unzufriedene junge Männer erreichen will, die bisher nicht gewählt haben – mit Erfolg.
ANDERSWO
Neue Arbeit von mir an anderer Stelle
Die vergangenen zwei Wochen waren auch für mich voll mit journalistischer Arbeit, vieles davon steckt hinter Paywalls. Frei verfügbar ist aber der Podcast „Bei Burger und Bier“ (Öffnet in neuem Fenster) mit Kollege Bastian Hartig und mir.
In der am Montag erschienenen Folge beleuchten wir das Attentat, ich erzähle, wie ich beim Republikaner-Parteitag 2016 mit Geert Wilders bei den „Twinks for Trump“ war und wir überlegen, ob Joe Biden doch noch geht.
https://burgerundbeer.podbean.com/ (Öffnet in neuem Fenster)Zum Abschied und zur Inspiration noch der Blick auf ein kreatives Leben: Am Wochenende starb Bill Viola, einer der weltweit prägenden Videokünstler überhaupt. Für dpa habe ich einen Nachruf geschrieben, unter anderem veröffentlicht bei der Badischen Zeitung (Öffnet in neuem Fenster).
Jetzt gilt es erst einmal, auf die allmonatliche New Yorker ESC-Party (Öffnet in neuem Fenster) vorauszuschauen. Wir lesen uns nächsten Dienstag wieder.
Best from NYC,
Christian
PS: Solltet ihr „WTH, America“ von Freund oder Feind weitergeleitet bekommen haben, könnt ihr selbst hier den