Liebe Leser:innen,
die ersten 100 Tage von Joe Bidens Präsidentschaft sind vorüber und viele Analysen stellen ihm ein sehr gutes Zeugnis aus. Endlich wieder seien Verlässlichkeit und Professionalität eingekehrt, außerdem sei Biden mit seiner empathischen Art und Rede der Richtige für Pandemie und Wirtschaftskrise. Wahr ist aber auch: Es ist sehr wahrscheinlich, dass es der Demokrat nie wieder so einfach haben wird, wie in diesen ersten dreieinhalb Monaten.
Die politische Geschlossenheit wegen der Pandemie dürfte mit fortschreitenden Impfungen und sinkenden Fallzahlen abnehmen und die dünnen Mehrheiten in Senat und Repräsentantenhaus verführen selbst viele Demokrat:innen dazu, eigene Ansprüche für ihre Wahlkreise anzumelden - Fraktionsdisziplin ist in den USA generell geringer ausgeprägt als in Deutschland.
Nach einem kurzen Blick auf die ersten 100 Tage und auf die weiteren großen Pläne Bidens soll es heute darum gehen, was die Republikaner eigentlich dem entgegensetzen: Was sagen sie öffentlich in Senat, Reden und Talkshows - und wie arbeiten sie in den Bundesstaaten daran, die Macht zurückzugewinnen? Die seltsame 100-Tages-Marke geht übrigens auf Franklin D. Roosevelt zurück, der sie zum eigenen Vorteil einsetzte, um auf die schnellen Erfolge seines damals umgesetzten New Deals hinzuweisen, mehr zur Geschichte dieser Zeitspanne beschreibt Vox (Öffnet in neuem Fenster).
Let's go.
DIE POLITIK - WAS DAS LAND PRÄGT
Wie die Repulikaner versuchen, gegen Joe Biden anzukommen
1. Was sind Joe Bidens Pläne für die nächsten 100 Tage?
Ein vor allem international beeindruckender Impf-Rollout, der vorsichtige Ziele übererfüllt hat, ein rasch verabschiedetes Corona-Hilfspaket von 1,9 Billionen Dollar und generell ein von Verlässlichkeit geprägter Ton: Die Veränderungen unter Joe Biden sind spürbar und sie sind bedeutsam. Zwei weitere Hilfspakete sind skizziert, 2,0 Billionen Dollar für Infrastruktur mit Schwerpunkt Klimakrise und 1,8 Billionen Dollar für Familien, die Vorschul-Betreuung für Drei- und Vierjährige garantieren und gebührenbefreite Regelabschlüsse an den staatlichen Community Colleges ermöglichen sollen. Einen Überblick gibt es bei Vox (Öffnet in neuem Fenster).
Die zusammen knapp sechs Billionen Dollar im nächsten Jahrzehnt für die drei Pakete sollen durch straffere Unternehmenssteuern und höhere Abgaben für Reiche finanziert werden - immer verbunden mit Bidens Betonung, dass niemand unter 400.000 Dollar Jahreseinkommen mehr Steuern zahlen werde.
Biden will mit diesen beiden Prioritäten in den nächsten 100 Tagen seine Umverteilung zugunsten Benachteiligter weiter vorantreiben. „Trickle-down Economics hat nie funktioniert“, sagte er bei seiner Kongressrede am Mittwoch mit Blick auf die spätestens seit Reagan populäre Idee, dass Steuersenkungen für Reiche aus oberen Schichten nach und nach nach unten durchsickern. „Es ist an der Zeit, die Wirtschaft von unten nach oben und aus der Mitte heraus wachsen zu lassen.“
Bidens Grundgedanke ist dabei klar: Nur deutlich spürbare Verbesserungen im Alltag der Menschen werden dazu führen, dass die Demokraten bei den Zwischenwahlen keine herbe Niederlage hinnehmen müssen. Historisch ist das nämlich eher die Norm und auch in 2022 drohen Verluste, wie der Atlantic (Öffnet in neuem Fenster) beschreibt.
All die Finanzfragen kann Biden im Senat mit einfacher Mehrheit durchbringen, er braucht also nur die Demokraten auf seiner Seite, weil Etat-Verhandlungen vom sogenannten Filibuster ausgenommen sind.
Zur Erinnerung: Diese Regel besagt im Kern, dass 60 der 100 Senator:innen-Stimmen nötig sind, damit ein Gesetz überhaupt zur Abstimmung gestellt wird. In der Praxis hat das dazu geführt, dass vor allem die Republikaner einfach diese eigentliche Formalie der Geschäftsordnung dafür genutzt haben, dass Entscheidungen gar nicht erst zur Wahl aufgerufen werden.
Im aktuellen politischen Klima ist es aber so gut wie unmöglich, zehn Republikaner:innen zu gewinnen und so bleiben zwei Optionen: Einerseits den Filibuster abschaffen oder zumindest weiter aufweichen, so dass auch bei Fragen abseits von Haushaltsverhandlungen die einfache Mehrheit genügt - oder hinnehmen, dass die eigene Agenda ins Stocken gerät.
2. Welche Argumente haben die Republikaner gegen Biden und die Demokraten?
Sind die Haushaltspakete erst einmal abgearbeitet, dürften Fragen zu Einwanderungsreform, Bundesstaats-Status von D.C. und Puerto Rico oder zu strengeren Waffengesetzen in den Blickpunkt rücken. All das sind Identitätsfragen, die vor allem die Republikaner nutzen möchten, um Biden als Hardcore-Sozialisten zu karikieren, der das Land an die Wand fahren möchte.
Aktuell bleibt den Republikanern aber inhaltlich vor allem ein Argument, um gegen Biden vorzugehen: Sie pochen darauf, dass die Hilfspakete zu groß sind und diese, getarnt als „Infrastruktur“, in Wirklichkeit „liberale Wunschzettel“ durchsetzen würden.
Die Konservativen haben dabei aber drei Probleme:
Erstens fehlt ihnen Glaubwürdigkeit. Als sie 2017 ihre Steuerreform durchgesetzt haben (vielleicht das einzige wirklich große Gesetz in Trumps Amtszeit), explodierten die Staatsschulden weiter und ein großes Verantwortungsbewusstsein für einen ausgeglichenen Haushalt war nicht zu spüren.
Zweitens gibt es innerhalb der Partei kaum noch Politiker:innen, die für diesen gemäßigten Kurs stehen und sich Reagans Konservatismus verpflichtet fühlen. Stattdessen gewinnt, hier gut beim Atlantic (Öffnet in neuem Fenster) erklärt, Trumps extremer Nationalpopulismus an Einfluss - wenn auch die Gegenrede zu Bidens Ansprache von Senator Tim Scott eher von alten republikanischen idealen geprägt war, wie die New York Times (Öffnet in neuem Fenster) ausführt.
Drittens hat die Partei schließlich noch das Problem, dass viele Reformvorschläge wie eine stärkere Besteuerung für Reiche und geringere Studiengebühren oder Ausgaben für Medikamente sehr beliebt sind, mehr dazu hat Fivethirtyeight (Öffnet in neuem Fenster).
3. Wie arbeiten die Republikaner hinter den Kulissen an künftigen Wahlsiegen?
Neben solchen eher sachlichen Argumenten fällt aber auch auf, dass die Repulikaner inhaltlich kaum Gegenvorschläge bieten, sondern vor allem im lauten TV-Nachrichtenalltag mit Jammern darüber auffallen, dass angeblich Bücher der Kinderfigurserie Dr. Seuss „zensiert“ würden (der Verlag hat nur einige Teile aus dem Programm genommen), dass mit dem „1619 Project“ der Times, das sich für eine Anerkennung der Sklaverei im Unterricht und allgemeiner Historie eine Umdeutung der US-Geschichte drohe und dass Joe Biden es mit der Zusammenarbeit ja wohl nicht so ernst meine.
Außerdem verfolgen die Republikaner in den einzelnen Bundesstaaten noch eine andere Taktik: Wenn du das Spiel nicht gewinnen kannst, musst du eben die Regeln verändern, erklärt bei der Washington Post (Öffnet in neuem Fenster). Ich hatte schon einmal über die mehreren hundert Initiativen geschrieben, die in den Regierungen der Staaten vermutlich das Wählen erschweren. Diese Woche schrieb besonders Florida Schlagzeilen, weil dort Veränderungen am Wahlrecht die Stimmabgabe per Briefwahl deutlich erschweren - normalerweise sinkt dadurch die Wahlbeteiligung von Schwarzen und von Arbeitnehmer:innen, weil diese am Wahl-Dienstag seltener persönlich zur teils Stunden dauernden Stimmabgabe kommen. Die Reformen erläutern die New York Times (Öffnet in neuem Fenster) und Mother Jones (Öffnet in neuem Fenster).
Darüber, wie viele kleine Rädchen ineinandergreifen und dafür sorgen, dass die Republikaner undemokratische Vorteile bei Wahlen, Sitzverteilungen und beim Regieren haben, gibt es bei Fivethirthyeight (Öffnet in neuem Fenster) ein gutes Erklärvideo.
DIE MENSCHEN - WER DAS LAND PRÄGT
Joe Manchin, Exot unter den Demokraten, der Bidens Agenda stoppen könnte
Genaugenommen haben die Demokraten keine Mehrheit im Senat, schließlich sitzen dort 50 Republikaner:innen, 48 Demokraten und zwei Unabhängige, die mit ihnen stimmen. Bei 50-50-Gleichstand entscheidet aber der Senatsvorsitz: die Person im Vizepräsidentenamt, aktuell also Kamala Harris.
Das Problem für die Demokraten aber bleibt, dass ein:e einzige:r Abweichler:in genügt, um einen Vorschlag sicher scheitern zu lassen. Zwei Namen sind deshalb besonders wichtig, Kyrsten Sinema aus Arizona, die im Ruf steht, tatsächlich von eher konservativen Ansichten überzeugt zu sein und Joe Manchin aus West Virginia, ein Unikum im Senat. Der einstige Gouverneur seines Staates genießt dort immens hohe Popularität und schafft es, seinen Demokraten-Sitz zu verteidigen, obwohl dort Donald Trump mit 39 Prozentpunkten Vorsprung vor Joe Biden lag (69-30).
Vox (Öffnet in neuem Fenster) erklärt sehr gut die Karriere von Manchin (viele kleine Reformen, die sich gut verkaufen lassen, aber letztlich wenig verändern) und orakelt über dessen Ziele, denn sein kompromissorientierter Politikstil stößt im aktuellen Washington immer mehr an seine Grenzen.
Es droht eine Blockade, sollten sich die Republikaner weiter weigern, in entscheidenden Fragen mit den Demokraten zu stimmen und Manchin als Demokrat nicht mitstimmen, weil er generell Kompromissbereitschaft vermisst.
DIE (POP-)KULTUR - WORÜBER DAS LAND SPRICHT
Veggie-Day, nur dümmer: So entstand die Debatte, dass Joe Biden Fleisch verbieten will
Alles, was es zu dieser Rausschmeißer-Geschichte zu wissen gibt, steht sehr schön in der Überschrift von Vice (Öffnet in neuem Fenster): „Die Republikaner sind außer sich über Bidens Fleisch-Pläne, die es gar nicht gibt”.
Seit einigen Tagen macht unter Konservativen die Behauptung die Runde, dass der neue Präsident aus Gründen des Klimaschutzes Burger und Steaks reglementieren möchte, dabei gibt es unter Demokraten nicht einmal den Hauch einer solchen Initiative.
Stattdessen entstand die Lüge, weil Biden bei seinem Klimagipfel ankündigte, dass die USA ihre Treibhausemissionen drastisch zurückfahren werden. Die Daily Mail in Großbritannien zählte daraufhin Ideen auf, welche Schritte nötig sein könnten, beispielsweise eine Obergrenze bei rotem Fleisch. Das Boulevardblatt berief sich auf eine Liste der Universität von Michigan aus dem Januar 2020, also zwölf Monate vor Bidens Amtsantritt. Die Forscher:innen hatten dafür verschiedene Reformen und ihre möglichen Auswirkungen aufs Klima durchgerechnet.
Inzwischen haben einige Medien zurückgerudert und klargestellt, dass die Biden-Regierung kein solches Ziel verfolgt. Konservative Kommentator:innen (allen voran natürlich Donald Trump Jr.) hatten zu diesem Zeitpunkt das Thema aber bereits gut gestreut, wie der Vice-Artikel zeigt. Auch bei CNN (Öffnet in neuem Fenster) wird die Lüge noch einmal auseinandergenommen.
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Heute kommen dazu ein paar Grüße aus New Haven, wo ich bei einem Ausflug einfach mal einige Tage auf den Campus von Yale blicke und mich wie in einem dieser College-Thriller fühle.
Bis nächste Woche, best from Yale,
Christian