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Kopfsache: Umgang mit Schädel- und Hirnverletzungen im Fußball

Am Tag, als Christoph Kramer lag

Beim Finale der FIFA Fußballweltmeisterschaft der Männer 2014 in Brasilien rückte der deutsche Nationalspieler Christoph Kramer erst kurz vor der Partie gegen Argentinien für den verletzten Sami Khedira in die Startelf. In der 17. Spielminute stößt die Schulter des einlaufenden Ezequiel Garay an Kramers Schläfe. Der 23-jährige Mönchengladbacher geht nach dem heftigen Zusammenprall zu Boden, erleidet eine Gehirnerschütterung. Nicola Rizzoli, der italienische Schiedsrichter der Partie, sagte dazu in einem Interview mit der Gazetto dello Sport: „Kurz nach dem Schlag kam Kramer zu mir und fragte mich, 'Schiedsrichter, ist das das Finale?' Ich dachte, er macht einen Spaß mit mir und habe ihn gebeten, die Frage zu wiederholen. Darauf sagte er, 'Ich muss wissen, ob das wirklich das Finale ist'. Und als ich 'Ja' sagte, entgegnete er: 'Danke, das ist wichtig zu wissen'.“ Der Schiedsrichter sprach anschließend wohl mit Mannschaftskapitän Bastian Schweinsteiger über eine Auswechslung Kramers. Letzterer spielte allerdings noch bis zur 31. Minute weiter und wurde erst dann durch André Schürrle ersetzt. Kurz darauf folgte schon die Heldenerzählung des Vorfalls: Unter anderem Spiegel, tz und Welt nennen Kramer einen „WM-Held“.

Die Causa Kramer verdeutlicht ganz gut, wie so ein ernstes Thema in kürzester Zeit emotional verklärt wird. Kopfverletzungen können kurz- oder langfristig die Gesundheit der Spieler:innen gefährden, Romantik hat hier nichts zu suchen.

Wenn ihr diesen Text lest, ist die Saison 2021/2022 sowohl in der 1. Fußball-Bundesliga der Herren, als auch in der der Damen beendet. Eine gute Gelegenheit, um sich Gedanken zu machen über ein paar Fußball-assoziierte wissenschaftliche Themen. Für Wissenschaft im Ballbesitz habe ich mich das Thema „Kopfverletzungen“ reingelesen, um etwas über die Verfügbarkeit und Interpretation wissenschaftlicher Daten zu lernen und euch zu zeigen.

Kopfzerbrechen

Langfristig können wiederholt auftretende Kopfverletzungen sogar zum beschleunigten Zerfall des Nervensystems führen.

Bei allen Kontaktsportarten kann es zu Erschütterungen des Schädels kommen - sowohl im professionellen, als auch im Freizeitsport. Starke Stöße gegen den Kopf (aber auch leichte, wiederholte Schlageinwirkungen) können zunächst zur vorübergehenden Beeinflussung des Nervensystems führen. Bereits leichte Gehirnerschütterungen können schwerwiegende Folgen und gesundheitliche Konsequenzen haben. Denn die beeinträchtigte Wahrnehmung und Koordinationsfähigkeit erhöht unmittelbar das Risiko, sich weitere Verletzungen zuzuziehen. Langfristig können wiederholt auftretende Kopfverletzungen sogar zum beschleunigten Zerfall des Nervensystems führen.

Das Gehirn sei eine geleeartige Masse, und bei Stoßeinwirkungen auf den Kopf werde es gestaucht und gestreckt, was Stress auslöse, wie Prof. Dr. Inga Katharina Koerte erklärt. Die Münchner Neurobiologin kommt zu Wort in der Podcast-Folge „Bye, bye Kopfball? Im Fußball beginnt ein Umdenken (Öffnet in neuem Fenster)“ von Sport inside.

Darin wird auch eine Arbeit von Prof. Dr. William Stewart und seinem Team aus dem Jahr 2019 zitiert. In der retrospektiven Studie wurden die Todesursachen von 7.676 ehemaligen schottischen Profifußballern ausgewertet. Sie wurden verglichen mit denen von 23.028 Männern entsprechenden Alters und Sozialversicherungs-Status der Allgemeinbevölkerung. Das am meisten zitierte Ergebnis der Arbeit: Die schottischen Profifußballer verstarben 3,45-mal häufiger an neurodegenerativen Erkrankungen als die entsprechenden Leute der Allgemeinbevölkerung. „Neurodegenerative Erkrankungen“ meint den Zerfall des Nervensystems wie bei Demenz. Die Arbeit wurde vom Englischen Fußballverband, The Football Association(FA) bezahlt und in der angesehenen Fachzeitschrift The New England Journal of Medicine veröffentlicht (Link (Öffnet in neuem Fenster)). Das oben erwähnte Ergebnis wurde von den Medien aufgegriffen und immer wieder auch mit persönlichen Schicksalen verknüpft, wie dem des ehemaligen Angreifers von West Bromwich Albion, Jeff Astle (Quelle (Öffnet in neuem Fenster)).

In der Bundesliga gibt es so eine Wechselmöglichkeit – man glaubt es kaum – nicht. Gegebenenfalls verletzte Spieler:innen müssen im Zweifelsfall also im Spiel bleiben und weitermachen.

Astle verstarb 2002 im Alter von 59 Jahren an chronisch-traumatischer Enzephalopathie (CTE), einer Schädigung des Gehirns, die durch häufige Schlageinwirkungen auf den Kopf ausgelöst wird und deshalb auch als „Boxer-Syndrom“ bekannt ist. Um Regeländerungen in England zu erwirken, brauchte es zusätzlich zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen wiederum persönliche Vorkommnisse. So waren Arsenals David Luiz und Wolverhamptons Raúl Jiménez am 29.11.2020 mit den Köpfen zusammengestoßen, Jiménez brach sich den Schädel. Eine öffentliche Debatte nahm Fahrt auf. Seit dem 6.2.2021 sind in England in der Premier League, der Women’s Super League und Women’s Championship, sowie dem FA Cup zusätzliche Wechsel erlaubt, sollten Spieler:innen eine Gehirnerschütterung erleiden. In der Bundesliga gibt es so eine Wechselmöglichkeit – man glaubt es kaum – nicht. Gegebenenfalls verletzte Spieler:innen müssen im Zweifelsfall also im Spiel bleiben und weitermachen. Interessant ist das Argument, das dabei ins Feld geführt wird: Die verfügbaren Daten würden nicht ausreichen. Was ist dran an dieser Kritik?

Mit Bezug auf die Arbeit von Stewart lassen sich tatsächlich einige Aspekte kritisieren.

·  Retrospektive Studie: Ergebnisse werden nur in der Rückschau betrachtet. Das liegt natürlich einerseits in der Natur der Sache – natürlich sind alle Probanden tot, darum geht es ja. Dementsprechend lassen sich jedoch keine gezielten Tests vornehmen. Behandlungen wären nur möglich bei einer prospektiven (also vorausschauenden, begleitenden) Studie.

·  Vernachlässigung anderer Faktoren: Es wird nur das Alter und der Sozialversicherungsstatus überprüft, nicht jedoch, ob andere Begleiterscheinungen das häufige Auftreten von Demenz als Todesursache bei ehemaligen Profifußballern bedingt haben könnte – etwa gesteigerter Alkoholkonsum im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Vielleicht lassen sich die Daten nicht nur durch Kopfverletzungen beim Fußball erklären, sondern auch dadurch, dass schottische Profifußballer mehr trinken…? Wir wissen es nicht.

·  Fehlende Kohortenvielfalt: Zwar wurden viele Individuen in der Studie untersucht (in Summe mehr als 30.000), es handelte sich jedoch ausschließlich um schottische Männer, wodurch nicht notwendigerweise verallgemeinert werden kann. Gelten die Erkenntnisse etwa in gleichem Maße für deutsche Profifußballerinnen?

·  Kein Kopfballfokus: Bezüglich der Todesursache Demenz wurden keine Unterschiede zwischen Torhütern und Feldspielern entdeckt. Vielleicht ist gefährliches Kopfballspiel doch nicht ursächlich für die Demenz, denn sonst sollten Torhüter weniger gefährdet sein, weil sie weniger ins Kopfballspiel involviert sind. Auch hier: Wir wissen es nicht.

·  Unklare Todesursache: Spätestens seit der Debatte über „Gestorben an Covid19“ versus „Gestorben mit Covid19“ sollte uns klar sein, dass sich Todesursachen nicht immer zweifelsfrei und korrekt bestimmen oder auf nur einen Faktor zurückführen lassen. Dieser Aspekt wird auch in der Arbeit selbst kritisch diskutiert. Die Autor:innen geben an, dass mitunter die auf dem Totenschein angegebene Todesursache „Demenz“ dadurch bestätigt wurde, dass auch die Einnahme von entsprechenden Medikamenten gegen Demenz dokumentiert war. Diese Argumentation halte ich für wenig stichhaltig, denn nur weil jemand Medikamente gegen Demenz nahm, muss er nicht notwendigerweise an der Krankheit gestorben sein, und trotzdem ist es naheliegend, auf dem Totenschein als Todesursache „Demenz“ einzutragen, was Zeit und zusätzliche Arbeit spart.

·  Langes Leben: Zwar starben die ehemaligen schottischen Profifußballer häufiger an Demenz, aber sie lebten insgesamt länger als die entsprechende Allgemeinbevölkerung. Die Mortalität („Sterblichkeit“) war bis zum Alter von 70 Jahren signifikant geringer, erst danach änderte sich der Trend allmählich.

Die Sach- und Gemengelage ist also wieder einmal äußerst komplex. Einfache Antworten gibt es nicht. Man muss ins Detail gehen.

Kopfbälle und Kopfstöße

Die Zahl und Wucht von Schlägen, Stößen und Erschütterungen wirken sich bei unterschiedlichen Fußballer:innen individuell auf den Kopf aus.

Es gibt einige Unterschiede zwischen den Geschlechtern und zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, was das Auftreten von Kopfverletzungen im Fußball betrifft. Die Stichprobenzahl ist mit 28 nicht sonderlich groß, aber es scheint bei Frauen mehr Beeinträchtigungen durch die Wechselwirkung zwischen Kopf und Ball zu geben und bei Männern mehr Erschütterungen nach dem Aufeinandertreffen von Kopf und Körperteilen eines anderen Spielers (Quelle (Öffnet in neuem Fenster)). Dies galt zumindest für den britischen College-Fußball und kann zahlreiche Ursachen haben, von der unterschiedlichen Spielweise bis hin zur Koordinationsfähigkeit der Individuen. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangt eine Beobachtungsstudie aus den USA (Quelle €€ (Öffnet in neuem Fenster)), in der nach Video-Studium herausgefunden wurde, dass bei Fußballern vermehrt und verstärkt Stoßeinwirkungen auf den Kopf auftreten im Vergleich zu Fußballerinnen. Allerdings wurde auch in dieser Arbeit eine große Streubreite innerhalb der Teams gemessen. So gab es mitunter bis zu zwei Spieler:innen, die ganz ohne Kopf-Einwirkungen durch ein Spiel kamen.

Übrigens: Selbst wenn man die auf den Kopf einwirkenden Kräfte über entsprechende Sensoren live misst, kann man daraus noch nicht vorhersagen, wann und bei wem das Gehirn wirklich in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die Zahl und Wucht von Schlägen, Stößen und Erschütterungen wirken sich bei unterschiedlichen Fußballer:innen individuell auf den Kopf aus (Quelle (Öffnet in neuem Fenster)). Das bedeutet, dass von zwei Personen, die beide gleichviele, gleichstarke Kopfstöße einstecken, vielleicht nur eine von beiden eine Gehirnerschütterung erleidet. Warum das so ist, muss weitere Forschung erst noch zeigen.

Unabhängig von Alter und Geschlecht lassen die Daten vermuten, dass etwa jede fünfte Verletzung im Fußballsport eine Gehirnerschütterung ist und 63% aller Fußballer:innen sich mindestens eine solche während ihrer (Profi- bzw. Freizeit-)Karriere zuziehen (Quelle €€ (Öffnet in neuem Fenster)). Die Inzidenz (Anzahl neu auftretender Erkrankungen) für Kopfverletzungen im Fußball ist also hoch.

Während etwa im American Football offen mit dem Thema umgegangen wird, besteht im Fußball noch deutlicher Nachholbedarf. Im American Football hat man bereits verstanden, was vermehrte verschiedene Kopfverletzungen für das Gehirn auf molekularer Ebene bedeuten (Link (Öffnet in neuem Fenster)). Für den Fußball existieren zumindest Vorschläge, welche Moleküle gemessen werden müssen, um strukturelle Verletzungen des Gehirns zu entdecken (etwa das Neurofilament mit dem Namen „NfL“ [es hat nichts mit der Nationalen Football Liga in den USA zu tun!], Quelle €€ (Öffnet in neuem Fenster)).

Fußball Kopflos?

Es geht hier auch gar nicht um die Frage, ob Kopfbälle aus dem Fußball verbannt werden sollten oder nicht. 

In der Debatte um Regeländerungen und Maßnahmen, mit denen Kopfverletzungen verhindert oder besser behandelt werden können, agiert der Deutsche Profifußball sehr zurückhaltend und verweist häufig auf noch ausstehende Studienergebnisse. Generell ist ein kritischer, reflektierter Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen gut. Allerdings kann man an ausnahmslos jeder wissenschaftlichen Veröffentlichung Dinge kritisieren. Denn es gibt nicht die eine Studie, die alles zweifelsfrei beweisen kann. So etwas wird es auch nie geben, denn Wissenschaft ist ein Prozess, in dem viele Leute aus verschiedenen Fachrichtungen zusammenarbeiten müssen und Erkenntnisse immer wieder umgestoßen werden. Es ist also leicht, sich hinter dem „fehlende Daten“-Argument zu verstecken. Ähnlich mutet das Interview mit einem Bewegungswissenschaftler im Münchner Merkur an (Link (Öffnet in neuem Fenster)), in dem er zwar verneint, dass es einen wissenschaftlichen Nachweis für gesundheitsschädliche Wirkung von Kopfbällen gäbe, gleichwohl jedoch einräumt, dass seine Tochter Kopfbällen eher aus dem Weg gehe.

Es geht hier auch gar nicht um die Frage, ob Kopfbälle aus dem Fußball verbannt werden sollten oder nicht. Wir haben gelernt, dass man generell wissenschaftliche Studien und Daten hinterfragen sollte, ebenso, wie die (ethischen und numerischen) Werte, die man einer Diskussion zugrunde legt. Man muss vorsichtig sein, und darf von prominenten Einzelschicksalen nicht auf die Allgemeinbevölkerung schließen.

Immerhin wurden mittlerweile neue Studien durchgeführt, wie etwa REPIMPACT, eine prospektive klinische Studie, die von Koerte koordiniert wurde, und die die Wirkung von Stößen und Schlägen auf den Kopf beim Jugendfußball im Vergleich zu Nicht-Kontakt-Sportarten untersuchen soll. Sechs Länder waren involviert, die Auswertung der Daten läuft noch, allerdings gibt es eine Einschränkung, die auch dieses Mal nicht adressiert wurde, wie es in einem vorab veröffentlichten Bericht (Öffnet in neuem Fenster) hieß: „Aufgrund fehlender finanzieller Mittel wurden lediglich männliche Jugendliche in die Studie aufgenommen.“ Na dann.

Fortsetzung folgt.

Für die Nachspielzeit:

·  Ein Artikel über die Arbeit der Neurobiologin Prof. Dr. Inga Katharina Koerte: https://www.lmu.de/de/newsroom/newsuebersicht/news/das-beste-aus-zwei-welten.html (Öffnet in neuem Fenster), zuletzt geöffnet 14.05.2022

·  Ein Video-Beitrag von SWR Sport: „Was beim Kopfball mit deinem Gehirn passiert“: https://youtu.be/WyXGO5AxhNI (Öffnet in neuem Fenster).

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