Zum Hauptinhalt springen

Wilde Jagd in der Damals-Zeit

Der Körper von Thilo Mischke steht in blauer Bomberjacke vorm Logo der Sendung Titel Thesen Temperamente. Über seinen Kopf wurde hemdsärmelig das Gesicht von Christine Strobl gelegt
Fragwürdiger Kulturbegriff

Ich möchte nicht über Thilo Mischkes Kulturbegriff reden. Der ist nach Eigenaussage reichlich unterkomplex und zuletzt zur Genüge behandelt worden. Nun gilt es Rufschaden abzuwenden. Retten, was geht. Aber was eigentlich? Ein kurzer Abriss:

Am 19.12.2024 wird Thilo Mischke als Nachfolge für Max Moor (Öffnet in neuem Fenster) beim ARD-Kulturformat ttt – Titel Thesen Temperamente angekündigt. Berit Glanz (Öffnet in neuem Fenster) und Simon Sahner (Öffnet in neuem Fenster) üben erste kritische Einordnungen der Personalie, vor allem am Buch “In 80 Frauen um die Welt”, das je nach Perspektive entweder fiktives Sachbuch oder zu 95% wahrer Tittenroman des Jungthilos ist. Saša Stanišić fasst den Vorgang tags darauf mit dem Satz “Thilo Mischke??? Das ist doch Verarsche oder?” treffend zusammen.

Am selben Tag veröffentlichen “die Feministinnen” von Feminist Shelf Control eine Sonderfolge ihres Podcasts, die in mehr als zwei Stunden eine allzu düstere Hellfeldanalyse anhand ausführlicher Zitate der Mischke-Archive zeichnen (Öffnet in neuem Fenster) und, der Kritik an der Kritik folgend, leider allzu feministische Emotionen bei der Besprechung der Bettgeschichten des äußerst kompetenten Journalisten und Reporters von sich gaben.

Cover des Podcasts "Feminist Shelf Control", rotorangene Serifenschrift auf beigem Hintergrund.

Text: Die Causa ttthilo Mischke

Die Ts sind an das Logo der Kultursendung ttt- Titel Thesen Temperamente angelehnt
Können Zitate diffamierend sein? Aufschluss gibt diese Podcastfolge

Der bis dato eher nischige Frauenpodcast entfesselt plötzlich übermenschliche Kräfte, die ttt-Redaktion antwortet in einer Instagram-Kommentarspalte erst, der Reporter sei aus dem Zusammenhang heraus zitiert worden, hätte sich für alles entschuldigt und dann sehr unbestimmt, man habe “euch” gehört und brauche vor allem erst einmal: Zeit.

Während nun Zeit vergeht, ausgesessen wird und beinahe täglich neue Perlen (Öffnet in neuem Fenster) aus Früh- und Spätwerk des Gonzo-Kulturmoderatoren zutage treten, vergehen ganz und gar heilige Nacht und prosit Kugelbombenjahr. Der eigentliche Knall aber sind ein von mittlerweile mehr als 200 Kulturmenschen unterschriebener offener Brief contra Mischke im Tagesspiege (Öffnet in neuem Fenster)l und ein überschwappen der Causa ins Internationale: Der britische Guardian wurde ebenfalls auf das Thema aufmerksam. (Öffnet in neuem Fenster)

So viel zur “wilden Jagd” in der “Damals-Zeit”. Am 04.01.2025 erfolgte auf das feministische Halali der finale Rettungsschuss (Öffnet in neuem Fenster), die Moderationsstelle von Thilo Mischke, sein ebenso angekündigter Podcast mit Jule Lobo sind nicht mehr. Hier könnte die Geschichte enden. Allerdings wäre das, Zirkelschluss, dann doch eine reichlich unterkomplexe Betrachtung eines tieferliegenden Symptoms.

Ein gezeichneter Zeitstrahl, beginnend beim Urmenschen. Der zweite Punkt auf dem Zeitstrahl ist die Christianisierung, der dritte das Jahr 2010, die Zeitleiste endet mit 2025. Die Jahre 2010-2025 sind als Damals-Zeit zusammengefasst. (Öffnet in neuem Fenster)
Der Zeitstrahl zur Causa, Quelle: listigerlurch auf bluesky

Hier ein Einwurf:

Latürnich kann man von Shitstorm, Cancel Culture, Häme, nicht zielführender Kritik, feministischer Kritik, vielleicht gar von hysterischen Weibswiderworten sprechen, klar. Und dass das alles allein der Profilierung semierfolgreicher Karrieren diene. Vielleicht auch Scheiß Weiber sagen. Oder anerkennen: Die Historikerin und Autorin Annika Brockschmidt und die Journalistin und Autorin Rebekka Endler haben zusammen mit der Autorin Anja Rützel und der Journalistin Isabella Caldart innerhalb kürzester Zeit eine umfassende Analyse vom Autoren & mutmaßlicher Kunstfigur Thilo Mischke erstellt, dazu Einordnungen von Mareike Fallwickl, Simon Sahner, Nicole Seifert, Till Raether, Asha Hedayati, Nabard Faiz, Adrian Daub, Ninia Binias, Nora Hespers, Moritz Hürtgen, Ike Häuser, Dax Werner, Jenny Bohn, Alena Schröder und Aida Baghernejad. Joris Wiese (Öffnet in neuem Fenster), Magda Birkmann (Öffnet in neuem Fenster), ein ominöser Pinguinverleih (Öffnet in neuem Fenster) und Robert Heinze wagten tiefe Blicke in die Läuterung, die vermeintlichen Entschuldigungen und die “wichtigen Reportagen” (Öffnet in neuem Fenster) des Mannes und Markus Pössel setzte sich tiefer mit dem biologistischen Schmu (Öffnet in neuem Fenster) auseinander, den Mischke rund ums Zitat, “wegvergewaltigen” und den “Gendefekt” des Feuchtwerdens erzählte. Jovana Reisinger gab im Tagesspiegel einen Überblick und Fokus auf den Begriff der Rape-Culture (Öffnet in neuem Fenster). Frühere ausführlichere Betrachtungen boten Simon Sahner und Rebekka Endler noch mal gesondert auf 54books (Öffnet in neuem Fenster) und bei Übermedien (Öffnet in neuem Fenster). All diesen Menschen und den Vergessenen gebührt ehrlicher Dank für Zeit, Nerven und Mühe, deren wichtigste Aussage doch immer wieder, auch in diesem bereits zu langen Text, untergeht: 

Es geht eigentlich gar nicht so sehr um Thilo Mischke. Es geht um das System dahinter, das sich in den stillen Entscheidungen Verantwortlicher und den nun aufkommenden Reaktionen bestens ausgeleuchtet zeigt.

Der Kritisierte selbst fand, das Zitieren seiner Aussagen und Bücher sei “diffamierend und versuchter Rufmord.” Von “wilder Jagd” wegen eines Buches in der “damals-Zeit” fabulierte bspw ProSieben. Immerhin hatte sich Mischke dort mit seinen Reportagen “In fremden Betten” und “Rechts. Deutsch. Radikal.” verdient gemacht. Matze Hielscher, der mit der halbgaren Kiezempfehlungen auf Mitvergnügen reich geworden und nun verdienter Mann mit Podcast ist, wollte “ein konstruktives Gespräch im Hotel” initiieren, “in dem alle gehört werden.” Kollegin Wiebke Hollersen von der Berliner Zeitung spricht von Cancel Culture und dass sie vorher viel nachgedacht habe, ob sie überhaupt eine Verteidigung anstimmen wolle.

Jörg Thadeusz ist ganz empört und greift die “passioniert intolerante Margarete Stokowski” und den “so goldigen Pullundermann” Saša Stanišić an, mit dem “viele Literaturredakteurinnen gern 80-mal um die Welt reisen wollen würden” an, weil sie sich gegen den “Knallkopf” Mischke aussprechen. Ulf Poschardt findet den Brief von “100 halbbekannten Betriebsnudeln des Kulturbetriebs” gleichermaßen “amüsant wie traurig”. Hasnain Kazim findet, er müsse sich mal wieder gegen Wokeness äußern und man solle sich nicht so wegen “eines bekloppten Buches” von vor 15 Jahren haben. Der Correctiv-Herausgeber David Schraven findet das Buch hingegen “bescheuert” und hat Angst vor “Sittengesetzen” des Zeitgeistes. Nicole Diekmann fühlt sich an Twitter erinnert. Und Wolfgang Schäubles Tochter, die als CDU-Mitglied Programmdirektorin des linksgrünen Staatsfunks ARD ist, findet, man müsse nun “wieder zu einer normalen Debattenkultur zurückkommen (Öffnet in neuem Fenster)”, berichtet von “anerkannten und beteiligten Personen aus der Branche”, die sich nicht mehr trauen, “in der Öffentlichkeit etwas zu dieser Debatte zu sagen” und beklagt Auswirkungen auf die “kulturelle Vielfalt”. Worin genau die besteht, äußert sie ebenso wenig, wie sie ihre verklausulierte Drohung spezifiziert.

All diese mehr minder heroischen Verteidigungen des Geschassten, die wahlweise zwischen Verächtlichmachung der Kritiker*innen, Verharmlosung verschiedenster -ismen und Rape Culture oder Schmälerung der Tragweite von Mischkes Beinaheposition changieren haben ein Selbstverständnis gemein. Das Ich-geh-hier-nicht-weg-Veständnis einer hegemonialen Kulturkaste.

Eigentlich geht es hier also vielmehr um Christine Strobl, ein bisschen um Medienbros wie den Hotelhielschers und Kantenfürsten wie Ulf Poschardt; kurzum die Wirkmacht einer, böses Wort, Elite. Um einen regressiven Kulturpessimismus. Um völliges Desinteresse an Qualitäten und Eignungen. Um die Auswirkungen von Menschen, die etablierte Strukturen, die ihnen eigentlich zuwider sind, mit ihrem Wirken von innen heraus delegitimieren und so langfristig zerstören.

Eine Kultursendung und ihr Moderator sind da tatsächlich kaum Aufsehen wert, aber Symbol. Dass Redaktionen trotz berechtigter Bedenken schlicht übergangen werden, schon eher. Aber auch, dass nicht alles einfach ohne Konsequenzen möglich ist. Gehen wirs an.

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von waveybobson und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden