Gegen die Vergottschalkung: Jung bleiben in einer alternden Welt (1)
Seit Wochen tingelt Thomas Gottschalk durch die Presse und sagt altersstarr in jedes Mikrofon – und es werden ihm natürlich alle, wirklich ausnahmslos alle Mikrofone hingehalten – man dürfe gar nichts mehr sagen, heute sei alles doof, und ja, natürlich, die Damenwelt dürfe man dienstlich befummeln, und wo sei überhaupt Jimi Hendrix. Blendet man die kalkulierten Tabubrüche und die unterirdisch nivellierte Buchpromo aus, bleibt die Frage: Was ist das für eine Gesellschaft, in der „Altmännerismus“ ein Publikum zieht? Und was können wir von den Gottschalks dieser Welt lernen, um nicht so zu werden wie sie? Was hilft gegen Verbitterung? Wie bleibt man jung im Kopf? Im heutigen Newsletter – Teil eins von zweien – denke ich über das geistige Jungbleiben nach, über weltanschauliche Fitness, unabhängig vom biologischen Alter.
So langsam ebbt der Gottschalk-Tsunami ab, endlich. Zwar sprang dem Wetten-Dass-Mann, der dieser Tage eher als Wetten-Dass-Ich-Was-Peinliches-Sage-Mann in Erscheinung tritt, kürzlich nochmal der Schauspieler Jan Josef Liefers zur Seite (Öffnet in neuem Fenster). Liefers ist gerade ebenfalls – Zufälle gibt’s! – mit seinem neuen Film „Alter weißer Mann“ auf Werbetour. Schauspielerkollege Liefers nimmt Gottschalk in Schutz, indem er betont, es sei „einfach schwierig, mit den Kriterien von heute seine Handlungen von vorgestern zu bewerten“.
Da muss man erstmal sagen: Stimmt!
Aber das ist ja nicht der Punkt.
Die Öffentlichkeit empört sich weniger darüber, dass Fernsehgrößen wie Gottschalk in den 1980ern und 1990ern soziale Verhaltensweisen an den Tag gelegt haben – Tätscheln hier, Sprüchlein da –, die nach heutigen Kriterien als deplatziert gelten und verständlicherweise aus der Zeit gefallen sind.
Interessanter als der Kriterienwandel selbst ist die verbitterte Weigerung Gottschalks und seiner Gesinnungsgenossen, einen Kriterienwandel anzuerkennen; und auch nur ein Fünkchen retrospektiver Kritik zuzulassen. Doch wagt man einen kritischen Blick auf vergangene Zeiten, wie im Spiegel-Interview (Öffnet in neuem Fenster), rettet Gottschalk – ganz der typische Altmann – sein Selbstbild, indem er abstreitet, jemals etwas falsch gemacht zu haben. Nicht er lag damals falsch, nein, im Gegenteil, der Zeitgeist heute sei absurd, übersensibel und insgesamt verteufelnswert „woke (Öffnet in neuem Fenster)“! Vom Willen zur Weiterentwicklung keine Spur. „Reflexion? Nein, danke“ ist der wahre Untertitel der Gottschalkschen Buchpublikation.
Kein Absolutismus der eigenen Wertmaßstäbe
Womit wir auch schon bei meinem ersten Tipp in puncto Jungsein wären. Es ist trivialerweise normal, dass wir in eine bestimmte Zeit hineinsozialisiert werden und ihre typischen – auch milieutypischen, gendertypischen usw. – Normen, Ideen und Wertmaßstäbe internalisieren. Wir reden, wie wir reden, weil andere um uns herum ähnlich reden. Wir sind, wer wir sind, weil wir es in einer bestimmten Zeit geworden sind (Öffnet in neuem Fenster). Daran ist nichts schlimm und schämen muss man sich dafür auch nicht. Blinde Flecken zu haben ist normal; ebenso hat jeder Mensch Vorurteile; niemand ist perfekt.
Zum Problem wird die eigene Sozialisierung (Öffnet in neuem Fenster) hingegen dann, wenn man die eigenen Wertmaßstäbe verabsolutiert. Eine toxische Vergottschalkung (Öffnet in neuem Fenster) tritt ein, wenn wir uns weigern, abweichende Wertvorstellungen und andere Meinungen – gerade von jenen, die vielleicht weniger Privilegien haben als wir; die jünger sind; anders – zur Kenntnis zu nehmen.
Wer sich in einen weltanschaulichen Kokon zurückzieht und jede Kritik, jede neue Idee, jede Veränderung im Zeitgeist gleich als Majestätsbeleidigung und als Verlust des Etablierten, als Abgesang auf die vermeintlich „gute alte Zeit“ (Öffnet in neuem Fenster) wahrnimmt – der verbaut sich selbst den Anschluss an die Gegenwart.
Die Verbitterung, die daraus entsteht, ist folgerichtig. Wenn sich die Welt weiterdreht, man sich selbst aber entschlossen hat, stehenzubleiben, erzeugt das zwangsweise Spannung. Und es produziert so tragischkomische Aussagen wie jene, Jimi Hendrix (Öffnet in neuem Fenster) sei nicht mehr populär genug bei der jungen Generation. Ja, sag bloß! Als nächstes kommt heraus, dass Generation Z (Öffnet in neuem Fenster) die Filme von Heinz Rühmann (Öffnet in neuem Fenster) nicht mehr auswendig mitsprechen kann. Welch Banausentum, welch Kulturskandal, welch Untergang des Abendlandes!
Gute Frage vom SPIEGEL. Ändert nichts an der Tatsache: Tommy hat länger nichts Neues von Jimi gehört (Öffnet in neuem Fenster) 😒
Neugierig bleiben!
Wäre man neugierig geblieben, hätte man vielleicht herausgefunden, dass es seit dem Ableben von Jimi Hendrix durchaus weiter spannende, ja auch revolutionäre Musik gab, selbst musikalische Meilensteine. Ob das nun Bill Kaulitz sein muss, sei dahingestellt. Wer hingegen seinen eigenen Musikgeschmack, seine eigenen Wertmaßstäbe, seinen Umgang mit Mitmenschen zum willkürlichen Zeitpunkt X einfriert als absolut wünschenswerten Endzustand, als Krone der Entwicklung und Speerspitze der Zivilisation – der schaut zwangsläufig danach mit Unverständnis, mit Skepsis und Bitterkeit auf alles Neue.
Und ja: Neugier ist keineswegs einfach. Sich einzulassen auf Aktuelles kann sich wie Arbeit anfühlen, weil es Arbeit ist. Neugierig zu bleiben kann sich anfühlen, wie gegen einen Strom zu schwimmen. Es hält fit, aber die Arme werden auch mal träge.
Wenn ich beispielsweise bei Ski Aggu (Öffnet in neuem Fenster) reinhöre, hat das herzlich wenig zu tun mit der Rapmusik, mit der ich aufgewachsen bin. Doch auch wenn mein innerer Rap-Gottschalk mir weißmachen will, dass es offenbar einen musikalischen Sündenfall gab und der Stil und die Werte der Musik, mit der ich aufgewachsen bin, aus dem Musikparadies vertrieben wurden, so wird gleichzeitig eine Stimme in mir laut, die sagt: „Hör dir das doch mal ein bisschen an. Es wird schon Gründe geben, warum Menschen das gut finden.“
Neugierig sein, auch forciertes Neugierigsein, heißt wiederum nicht, dass man jede Mode, jeden Trend, jeden Unsinn willenlos mitmachen muss. Neugierig zu sein heißt einzig und allein, dass man Chancen gibt, Erfahrungsfenster öffnet, Möglichkeitsräume zulässt. Wenn die Erfahrung dann nicht gefällt, wenn man den Raum, den man betreten hat, wieder verlässt (und sei es schnell), dann ist das ja vollkommen okay. Verbitterung tritt durch Erfahrungsblockaden ein, durch geistige und räumliche Immobilität.
Wer aufhört, verstehen zu wollen, landet notwendigerweise irgendwann im Unverständnis; und fühlt sich dann auch so: unverstanden.
Zum Abschluss ein Zitat von Arthur Schopenhauer (Öffnet in neuem Fenster):
„Die größte Energie und höchste Spannung der Geisteskräfte findet, ohne Zweifel, in der Jugend statt, spätestens bis ins 35. Jahr: von dem an nimmt sie, wiewohl sehr langsam, ab. Jedoch sind die späteren Jahre, selbst das Alter, nicht ohne geistige Kompensation dafür. Erfahrung und Gelehrsamkeit sind erst jetzt eigentlich reich geworden: man hat Zeit und Gelegenheit gehabt, die Dinge von allen Seiten zu betrachten und zu bedenken, hat jedes mit jedem zusammengehalten und ihre Berührungspunkte und Verbindungsglieder herausgefunden; wodurch man sie allererst jetzt so recht im Zusammenhange versteht.“
Viel gibts noch zu sagen zum Altern, zum Jungbleiben und zur Verbitterungsvorbeugung; aber für heute wars das, und wir lesen uns demnächst wieder, in neuer alter Frische.
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