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„Wir wollen lernen, aber auch etwas hineinbringen“

Bianca und Matthias sind für mehrere Jahre nach Bangladesch aufgebrochen

„Nach allem, was in unserem Leben bisher passiert ist, sehen wir einen roten Faden, der uns nach Bangladesch geführt hat.“ Am 10. August ist Bianca mit Matthias in den Flieger von Frankfurt nach Dhaka gestiegen, zwölf Stunden Flug gen Osten. Vielleicht ist es ein Abschied von Deutschland für lange Zeit, sie wissen es selbst noch nicht. Mindestens zwei, eher drei oder vier Jahre lang wollen sie nicht in ihre alte Heimat kommen. Sie wollen sich Zeit nehmen eine neue zu finden, die Sprache zu lernen, anzukommen in diesem für beide fremden Land, der fremden Kultur. Ihr Wunsch ist einen Platz zu finden in einem Leben und Alltag, in dem vieles anders funktioniert als in Deutschland.

Bianca: 30 Jahre alt, Gymnasiallehrerin für Englisch und Geschichte. Geboren wurde sie in Österreich als Tochter rumänischer Einwanderer. Zuletzt unterrichtete sie an Schulen in Hessen. Nach der Matura, dem österreichischen Abitur, ging sie zunächst in den Schwarzwald ans Europäische Theologische Seminar. Dort lernte sie Matthias kennen.

Mehr als zehn Jahre ist das nun her. Seit acht Jahren sind sie verheiratet. Kinder haben sie noch keine, vielleicht werden sie in Bangladesch geboren. Alles scheint möglich, jetzt, am Anfang dieser Reise.

Foto: pexels.com

Matthias: 33 Jahre alt, aufgewachsen in Aschaffenburg. Dort arbeitete er bis zum Sommer 2020 als Krankenpfleger auf einer psychiatrischen Kriseninterventionsstation. Es gab eine Zeit in seiner Jugend, in der er nicht wusste, wo sein Platz ist. Er fand ihn im Glauben. Über die evangelische Freikirche Aschaffenburg kam er in den Schwarzwald; Asien kannte er von Familienurlauben. Sie „bereiteten mir vielleicht damals schon das Herz vor, um nun tatsächlich dort leben zu wollen“.

Dort, in Bangladesch. Es wird eine Herausforderung, das ist beiden bewusst.

Was kommt einem in den Sinn beim Gedanken an Bangladesch? Kinderarbeit, prekäre Arbeitsbedingungen, Brände in Textilfabriken, Überschwemmungen, Armut, Überbevölkerung? Bangladesch wirkt auf Europäer oft laut, schwül, chaotisch, schmutzig. Von Juni bis Oktober lässt der Südwestmonsun Regenmassen niederprasseln auf das Land, dessen Fläche nur zwei Mal so groß ist wie Bayern – der Norden liegt in den Subtropen, der Süden in den Tropen. Die Luftfeuchtigkeit liegt dann bei 95 Prozent, die gemessene Temperatur bei etwa 29°C. Die gefühlte ist anfangs unerträglich für Menschen, die an dieses Wetter nicht gewöhnt sind.

167 Millionen Menschen leben in Bangladesch, es ist nach dem Gaza-Streifen eine der am Dichtesten bevölkerten Regionen der Erde. 19 Millionen Menschen wohnen allein in der Megacity und Hauptstadt Dhaka nebst Umland, geschätzt bis zu 40 Prozent von ihnen in Slums. „Menschen, Menschen, Menschen…Chaos auf den Straßen. Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, ob Linksverkehr herrscht, auch nicht auf den zweiten oder dritten“, schreibt eine Ärztin in einem Erfahrungsbericht für die Hilfsorganisation „German Doctors“.

Fotos: Alea Horst

Auch Bianca und Matthias sind bei einer Organisation angestellt, einer christlichen, die im Bereich Bildung und medizinische Versorgung aktiv ist. Bei welcher und mit wem sie vor Ort zusammenarbeiten, wollen sie nicht öffentlich sagen. Bangladesch ist ein säkularer Staat, doch der Islam ist Staatsreligion. Um die 90 Prozent der Bangladeshis sind Muslime, etwa neun Prozent Hindus, nur 0,2 Prozent sind Christen. Bianca und Matthias wollen ihren Glauben nicht leugnen, aber auch weder sich noch andere gefährden durch ihr Christ-Sein, „vor allem nicht die Bangladeshis, die dort leben und sich vielleicht für unsere Geschichten interessieren“.

Die ersten sechs Monate werden sie in einer WG in Dhaka leben, um Bengali zu lernen, eine der meistgesprochenen Sprachen der Welt. Die 47 Buchstaben des Brahmi-Alphabets haben sie bereits gelernt; man hat ihnen abgeraten schon vorab Aussprache und Vokabeln zu lernen. Nach dem halben Jahr soll es in den Süden des Landes gehen, in Richtung Bengalische See.

Bangladesch liegt nur wenige Meter über dem Meeresspiegel, in der Regenzeit werden regelmäßig Landstriche überschwemmt. Die Armut ist allgegenwärtig, die Diskrepanz zwischen wenigen wohlhabenden und vielen armen Menschen riesig. „Hier schwitzt man ständig und auf der Straße ist unsereiner sofort als nicht Einheimischer zu erkennen. Das bleibt auch unverändert. Schlendert man so durch die benachbarten Straßen, muss man seine Vorstellungen von Ordnung, Sauberkeit und vor allem Mülltrennung hinter sich lassen“, schreibt eine andere Ärztin. Die „German Doctors“ arbeiten in den Slums, doch es gibt auch reiche Gegenden. Die Diskrepanz zwischen sehr arm und sehr reich sei deutlich höher als in Deutschland, erzählt eine in Berlin lebende Bangladeshi, zumal es für Menschen aus sozial schwierigen Verhältnissen so gut wie keine staatliche Unterstützung gebe.

Touristen kommen nur wenige. Gut 323.000 waren es laut laenderdaten.info in 2019, im internationalen Vergleich liegt Bangladesch – in absoluten Zahlen – damit auf Platz 166 der bereisten Länder.

Bianca und Matthias waren zum ersten Mal im Frühjahr 2020 dort. Sie wollten erkunden, wo in Asien ihr künftiger Lebens- und Arbeitsort sein könnte. Bangladesch, Laos, Kambodscha und Vietnam standen auf ihrer Liste. Es hätte jedes dieser Länder werden können, oder keines davon. Corona stoppte die Erkundungsreise in Laos. Matthias und Bianca waren zwei der mehr als 240.000 Deutschen aus der Rückholaktion der Bundesregierung im Frühjahr 2020.

Die Entscheidung für Blangadesch – aus der Not des Reiseabbruchs geboren?

Nein, sagt Bianca. „Es war tatsächlich so, dass wir uns schon vor der Reise am meisten mit Bangladesch beschäftigt haben. Es hat uns von der Arbeit her am allermeisten angesprochen, insofern hatten wir uns vorher schon ein wenig in das Land verliebt. Als wir dort waren, war für mich völlig klar, dass es Bangladesch wird.“ Matthias musste ein wenig länger nachdenken. „Es war einfach gut, Laos als Kontrast zu sehen, wo wir uns auch unfassbar wohlgefühlt haben“, sagt Bianca. „Die Arbeit dort war richtig cool, wir haben uns auch mit dem Team sehr gut verstanden. Und trotzdem war klar: Es wird Bangladesch.“

Bangladesch, das Land der Ärmsten der Armen. „Wir können gar nicht so ganz herausdifferenzieren, was genau uns für Bangladesch bewogen hat. Es waren sicher die Menschen, aber auch der innere Friede, den wir dort gespürt haben“, sagt Bianca. „Bangladesch hat zweifelsohne das krasseste Leben von allen vier Ländern, zu denen wir recherchiert haben.“

Jetzt sind sie dort, in diesem krassen Leben. Es dauere eine Woche, bis man sich an die klimatischen Verhältnisse halbwegs gewöhnt habe, sagt die Bangladeshi aus Berlin. Wie lange es dauert, sich überhaupt einzugewöhnen: wer weiß. Alle Überlegungen sind hypothetisch. „Man weiß natürlich nie, was passiert. Was dabei unserer Reise herauskommt und wie lange wir bleiben, lässt sich jetzt noch nicht absehen. Aber ja, wir sind bereit, auch langfristig zu bleiben“, sagt Matthias.

Mehr als zehn Jahre lang haben Bianca und Matthias ihre Entscheidung ins Ausland zu ziehen überdacht, abgewogen, geplant und vorbereitet. Gereift ist die Idee auf dem Europäischen Theologischen Seminar, einer Zweigstelle der US-amerikanischen Pfingstkirche Church of God. Schätzungen zufolge gehört jeder fünfte Christ der Pfingstbewegung an, etwa 300.000 sollen es in Deutschland sein. Wie Jesus in die Welt zu gehen und nicht unbedingt dorthin, wo es bequem ist, gehört für Pfingstchristen zu ihrem Selbstverständnis.

Bianca und Matthias haben lange überlegt, ob und wo ihr Platz in der Welt sein könnte, wie sie sich einbringen könnten mit ihren Begabungen, mit welchen Berufen und ihrem Anspruch, ein Leben in der Nachfolge Jesu zu leben. Schon auf dem Seminar war klar, dass ihr Weg ins Ausland führen sollte. Ihre Berufe wählten sie nach dem Abschluss bewusst, um in welchem Land auch immer einen größtmöglichen Input geben zu können. Eine Lehrerin und ein Krankenpfleger finden überall eine Arbeit. 

Laos wäre vielleicht weniger chaotisch und ruhiger gewesen. Doch „Laos hat andere Herausforderungen, mit dem Kommunismus als Staatsform“. Bianca und Matthias aber wollten diesen Weg nicht. „Ich würde immer die Freiheit der Sicherheit vorziehen“, hat Bianca einmal gesagt. Und: „Jesus hat auch nicht nur gepredigt, sondern ist zu den Ärmsten der Armen gegangen.“

In Bangladesch findet man sie sicher. Das Land galt lange Zeit als Armenhaus Asiens. Der Staat ist jung, es hat gedauert, bis sich die Demokratie etabliert hat. Jetzt wächst die Wirtschaft, „vor 15 oder zwanzig Jahren ging es den Leuten noch viel schlechter“, sagt die Bangladeshi aus Berlin. „Sie haben ein neues Selbstbewusstsein durch die verbesserten Jobmöglichkeiten bekommen.“ Mehr als die Hälfte arbeitet in der Landwirtschaft, das Land ist Selbstversorger beim Grundnahrungsmittel Reis, auch Gemüseanbau und Fischerei sind wichtig, das Land ist von Flüssen durchzogen.

Noch bekannter ist es als einer der größten Textilproduzenten der Welt, doch mittlerweile gibt es auch 200 Werften, und viele Bangladeshis sehen ihre Zukunft im Schiffsbau. In der Textilindustrie arbeiten vor allem Frauen, zu meist niedrigen Löhnen, die die Lebenshaltungskosten kaum decken. Laut Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung lag der Lohnanteil einer Näherin an einem Marken-T-Shirt zuletzt bei 0,6 Prozent. Weil die Löhne die Lebenshaltungskosten oft kaum decken, teilen sich häufig mehrere Familien ein Zimmer in den Slums. 

Doch die sind es nicht, in die es Bianca und Matthias zieht.

Sie wollen mit ihrer Organisation im Süden mit lokalen Partnern zusammenarbeiten. „Der Süden des Landes ist noch ärmer, aber vielleicht nicht ganz so verrückt wie die Hauptstadt“, sagt Bianca. Matthias will als Krankenpfleger in einem medizinischen Ausbildungszentrum mitarbeiten. „Dort werden wir je nach Bedarf unterrichten. Darüber hinaus werde ich wöchentlich mit dem Team in die abgelegenen Dörfer fahren und Grundlagen der Hygiene und Ernährung weitergeben.“ Bianca will jungen Menschen in Englisch schulen, die zweite wichtige Sprache des Landes.

Schon zum Sommer 2020 hatten sie ihre Jobs in Deutschland gekündigt, ihr Besitz lagert bei ihren Eltern. Die Abreise verzögerte sich wegen Corona, die Zeit nutzten sie zur intensiveren Vorbereitung. Mit 40 Kilogramm Gepäck pro Personen und hohen Erwartungen sind sie nun aufgebrochen. Wenig Kleidung haben sie dabei, dafür Bücher. „Jesus war kein Europäer“ von Kenneth E. Bailey, die Bibel, Steve Corbetts „When helping hurts: How to Alleviate Poverty Without Hurting the Poor“.

Was werden sie vermissen? Ihre Familie, Freunde, die Natur.  Seine Freiheit, sagt Matthias. „Ich bin ein Mensch, der auch Ruhe braucht, der sich gern zurückzieht, dem schnell mal alles zu viel wird.“

Wie will er das dann aushalten? Ein Leben in einem derart dicht bevölkerten Land, in dem Privat- und Intimsphäre möglicherweise eine neue Dimension bekommen? Ein Leben in ungewohnter Enge, Hitze, Fülle? In einem Land, in dem sie sich nicht frei bewegen können – einfach auch, weil sie im Verkehrschaos nicht einmal ein Fahrrad sicher werden lenken können? „Wir sagen nicht, dass es einfach wird, und dass wir nicht oft verzweifelt sein werden am Anfang“, sagt Matthias. Und doch wollen sie es wagen, mit allen Konsequenzen. Bewusst haben sie ihre Familienplanung auf die Zeit nach der Abreise verschoben. Sie wolle nicht, dass ein Kind etwaige Unsicherheit seiner Eltern spüre, sagt Bianca. „Wir werden das Wohl unserer zukünftigen Kinder nie über den Wunsch in Bangladesch zu bleiben stellen."

Und: „Wir wollen uns auch nicht als die weißen Retter inszenieren. „Wir wollen vermeiden, dass wir in Deutschland dafür gefeiert werden, dass wir alles aufgeben.“ Als Ausländer verwirrten sie sowieso das System, sagt Matthias. „Wir wollen lernen, aber auch etwas hineinbringen in dieses Land. Wir sehen es als Bereicherung, dass verschiedene Völker zusammenkommen und man eins wird. Wir fänden es schön, wenn das dort passieren könnte.“