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„Ich habe die Ideen“

Als junges Mädchen wollte Dr. Enise Lauterbach Astronautin werden. Zu den Sternen fliegen, dem Unerreichbaren zum Greifen nah kommen – ihr Traum. Die Sterne hat die 45-Jährige immer noch im Visier, sie funkeln nachts durchs Hobby-Teleskop. Das echte Leben aber spielt auf dem Boden der Tatsachen, und die heiβen für die Herzärztin: Sie will ganz vorne dabei sein bei der Digitalisierung der Medizin. Deshalb hat sie ihre Chefarztstelle gekündigt und ein Start-up gegründet. Verrückt? Vielleicht auch nicht. Eine Herz-App und ein Messenger für Ärzte sind ihre ersten Entwicklungen.

Die Digitalisierung der Medizin, ein Megathema

Und ein riesiger Markt. Eine beispiellose Herausforderung für Datensicherheit, Patientenschutz und Nutzerfreundlichkeit. Und ein Tanz mit dem Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort die richtigen Menschen zu treffen.

Wenn Enise Lauterbach eines in ihren nicht einmal zwei Jahren als Gründerin gelernt hat, dann das: „Es dauert alles sehr lange.“ Gründen kann richtig teuer sein. Und: „Es ist nicht schlecht unter dem Radar zu fliegen.“ Besser nicht alles an die groβe Glocke hängen, weil sonst schnell andere sie läuten könnten. „Eine gute Idee wird schnell kopiert.“ Besser ruhig und beharrlich sein, um dann hoffentlich wie im Märchen vom Hasen und Igel am Ende die Nase vorn zu haben. Am Ende wird es nicht relevant sein, ob sie immer die erste war, die eine geniale Idee hatte. Die Idee muss gut sein, sie muss funktionieren. Darauf zu bestehen, wer wann wo was gesagt hat, führt zu unangenehmen, fruchtlosen Diskussionen. Noch so eine Lektion.

(Fotos: Enno Kapitza)

LEMOA Medical heiβt Enise Lauterbachs Medical Health Start-up, das sie zusammen mit ihrem Mann – auch er Kardiologe – gegründet hat. LEMOA, eine Wortschöpfung aus den Initialen ihrer Familie. Die Entwicklung der Herz-App und des Ärzte-Messengers läuft, Enise Lauterbach managt schon die nächsten Ideen für Studien, medizin-technische Anwendungen, Kooperationen.

Für ihre Herz-App hat sie schon Preise bekommen, lange bevor der erste Patient sie in der Hand hatte. Herz-Held heiβt sie und soll herzinsuffizienten Patienten mit smarter Technologie und einem effektiven Frühwarnsystem das Leben nicht nur leichter machen, sondern es unter Umständen sogar retten.

Die Patienten tippen dazu möglichst täglich vier Parameter ins Handy, Blutdruck, Herzfrequenz, Gewicht und Aktivität, die App berechnet daraus die individuelle Tagesform und signalisiert: Alles ok, Arzt fragen, sofort ins Krankenhaus? Das erfordert viel Engagement, viel Selbstmanagement von Herzinsuffizienz-Patienten; andererseits geht es bei schweren Erkrankungen oft genau darum, eben nicht alles dem Arzt zu überlassen. Die Parameter der Herz-App stellen genau die Fragen, die über Leben und Tod entscheiden können. „Dieses schwere Syndrom ist eine der häufigsten Todesursachen in Deutschland“, sagt Enise Lauterbach.

Ein insuffizientes Herz schafft es nicht, den Körper ausreichend mit Blut und Sauerstoff zu versorgen. Das kann daran liegen, dass der Blutdruck zu hoch ist, die Herzkranzgefäβe zu eng sind oder dass das Herz nicht im richtigen Rhythmus schlägt. Experten sehen es den Erkrankten oft auf einen Blick an, sie sind blass, müde, atmen schwer. Die Patienten brauchen Hilfe, Medikamente, Verhaltenstherapie, eventuell eine Operation – im schwersten Fall ein neues Herz. „Das ist keine Alte-Leute-Krankheit“, sagt Enise Lauterbach.

Tatsächlich hat ein Best-Ager die Herzärztin überhaupt erst auf die Idee gebracht. 50 Jahre, Teenager-Papa, berufstätig, lebenslustig. Und schwerstkrank. „Entwickeln Sie doch eine App, die Patienten wie mir hilft, Sie können das!“, flehte der Mann seine Ärztin an, und genau das tat sie auch.

Ihr fehlte etwas

Eigentlich hatte sie einen guten Job, hatte gerade als Chefärztin die erste kardiologische Reha ihrer Heimatstadt Trier aufgebaut. Doch ganz zufrieden war sie nicht, vielleicht fehlte die Herausforderung, vielleicht hatte sie auch zu viele Jahre damit verbracht, im Krankenhaus gegen die gläserne Decke aus Panzerglas anzurennen. Als Herzärztin war sie hochspezialisiert, mehrfach weitergebildet, eine der wenigen invasiven Elektrophysiologinnen Deutschlands. „In den letzten sechs Jahren meiner Klinikzeit hatte ich mich auf die Behandlung von Herzrhythmusstörungen mittels Katheterablation spezialisiert, vor allem auf die Behandlung von Vorhofflimmern mit Verödung mittels Herzkatheter.“ Doch die tollen Posten, die Beförderungen bekamen viel zu lange immer die anderen. Nicht die Mutter, die in Teilzeit 50 Stunden arbeitete, nicht die Frau, die sich traute, dem Chef zu widersprechen, nicht die Ärztin, die mit Fort- und Weiterbildungen, mit Fleiβ und Arbeitseinsatz zu überzeugen versuchte. Da machte auch der Chefarztposten in der Reha nicht mehr glücklich.

Ist das als Gründerin nun anders? Keine gläserne Decke aus Panzerglas mehr? Läuft es in der neuen Branche ohne Vitamin-B?

„Ich mache weiter“, 

sagt Enise Lauterbach. Und damit ist schon viel gesagt. Sehr schnell nach der Gründung ihres Medical Health Start-ups hatten sich die Medien auf sie gestürzt, der Focus wählte sie unter die Top-Frauen des Jahres 2020. Was für eine tolle Geschichte, von der Chefärztin zur Gründerin, eine der wenigen Frauen in Deutschland, die sich überhaupt an eine Gründung herantrauen. Und dann auch noch Tochter türkischer Gastarbeiter, Mutter zweier Kinder, eloquent, intelligent. Man hätte es für einen Roman nicht besser erfinden können. Frauen aus ganz Deutschland schrieben sie an, sie baute innerhalb kürzester Zeit ein riesiges Netzwerk auf, verzweifelte Herzpatienten baten um Hilfe, Institutionen, Heime, Vereine – alle wollten sie als Rednerin, als Beraterin. Kostenlos, versteht sich. Ist schlieβlich auch Werbung für sie, für ihr Start-up. Was, Honorar? Dann lieber nicht. Auch viele Banken und Investoren winkten ab. Fördergelder für eine Mitt-Vierzigerin mit Expertise in Medizin, aber ohne den smarten Glamour des jungen Start-up-BWLers, der Wagniskapital, Joint Ventures oder einfach nur das Glück bei der Vergabe von Fördergeldern auf seiner Seite hat. „Ob ich mich nicht schämen würde, wie eine Vertreterin meine Produkte anzupreisen, wurde ich gefragt.“ Ernsthaft?

„Andere haben viel Geld, aber ich habe die Ideen und die medizinische Expertise“, sagt Enise Lauterbach. „Wenn man keine Ideen hat, kann man auch keine App oder irgendetwas entwickeln.“ Sie nimmt den Bankkredit, den andere Ärzte zur Gründung einer eigenen Praxis aufnehmen, für ihr Start-up. Damit will sie weit kommen.

Und es richtig machen, nachhaltig, hieb- und stichfest, mehrfach zertifiziert. Datenschutz und Patientenrechte sind ihr genauso wichtig wie Nutzerfreundlichkeit und Technologie. In diesen Tagen startet ihre Studie, die den Mehrwert der App für herzinsuffiziente Patienten belegen soll. Eine „echte medizinische Studie: peer-reviewed, doppelblind, randomisiert, prospektiv“. Erst wenn die Ergebnisse passen, will sich Enise Lauterbach an den nächsten Meilenstein wagen: die Kassenfinanzierung.

DiGas als Kassenleistung

Seit das Digitale-Versorgungs-Gesetz im Dezember 2019 in Kraft getreten ist, können Krankenkassen Apps grundsätzlich zahlen, aber nur, wenn das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sie zulässt. Das Prüfverfahren in Bonn dauert drei Monate und kostet mehrere Tausend Euro. Die so genannten „DiGas“, digitale Gesundheitsanwendungen, sind ein riesiger Markt, von der Wellnessanwendung über den Kalorienzähler und das Diabetes-Tagebuch bis hin zum Monatszyklusmonitor ist alles dabei. Kassenfinanzierte DiGas aber müssen strenge Voraussetzungen zum Beispiel an Datenschutz und Patientennutzen erfüllen. Bisher sind vier Apps dauerhaft auf Rezept erhältlich, sieben weitere sind vorläufig in das DiGa-Verzeichnis aufgenommen worden. Hier müssen noch Studiendaten nachgereicht werden. Eine Anwendung wurde bisher laut BfArM abgelehnt, 23 Hersteller haben ihren Antrag im laufenden Prüfprozess selbst zurückgezogen, 21 Anträge werden aktuell noch bearbeitet. Laut Pressesprecher Mike Pommer haben sich bisher insgesamt an die 500 Hersteller vorinformiert. „Da ist also noch Einiges zu erwarten“, sagt er.

Die Sache mit dem Messenger

Und was ist mit ihrer zweiten Geschäftsidee, Consil!um? Der Messenger ermöglicht es Ärzten digital und datensicher zu diskutieren, zu planen, Patientendaten auszutauschen, ob im Krankenhaus oder im ambulanten Bereich. Jeder Nutzer ist damit jederzeit auf dem aktuellen Stand. Kein Fax mehr, keine Briefe, Kommunikation in Echtzeit. Klingt das nicht sinnvoll? Ein Krankenhaus testet die Anwendung gerade, doch die meisten Kollegen, denen Enise Lauterbach ihr System bisher vorgestellt hat, wollen es nur kostenfrei oder zum einmaligen Freundschaftspreis nutzen. Kulanz unter Kollegen, sozusagen. „Dabei kostet allein der Datenschutz jeden Monat eine riesige Summe.“

Kommunikation in Echtzeit: So könnte es aussehen. (Foto: Christina Morillo, pexels.com)

Es gibt ähnliche Produkte, kostenlos, die vor allem im Ausland sehr erfolgreich laufen. In einem Interview mit startupvalley.news erklärt der CEO einer Konkurrenz-App, warum seine Nutzer aktuell noch kein Geld bezahlen müssen: Seit zwei Jahren finanzieren Risikokapitalgeber die erste Version. Doch vorher waren es Ärzte, die von der Idee überzeugt waren. Das wären für Enise Lauterbach im unglücklichsten Fall die Kollegen, die sie schon als Ärztin nicht durch die gläserne Decke brechen lieβen. So weit will sie es nicht kommen lassen.

Kontakte knüpfen, reden, im Gespräch bleiben, nicht nur wegen der Fördergelder, sondern um Ideen und Gespräche Willen, die sie weiterbringen: Das ist Enise Lauterbachs neuer Alltag.  Sie könnte ihren Herz-Held verkaufen, sich anstellen lassen oder mit dem Geld eine neue Idee finanzieren. Das will sie auf keinen Fall. „Wir dürfen die Gesundheit der Patienten nicht den groβen Konzernen überlassen.“