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Der Schweizer Kulturvermittler           Sander Kunz fertigt Klosterarbeiten

Die Geschichte beginnt mit Müll. Sander Kunz schaut den Neffen und Nichten seines Partners beim Basteln zu, eine Menge Papier fliegt herum.  Wie er da so sitzt, wird die Zeit lang, er fängt an zu falten – und hält bald eine filigrane Papierblume in Händen. Weil sie so gelungen ist, faltet er weiter. Und weiter. 

Die Papierarbeit öffnet das Tor zu einer Schatzkammer, deren Reichtum Sander Kunz schon als kleiner Junge kennengelernt hat, und sie markiert den Beginn einer Leidenschaft: für Klosterarbeiten. Dieses katholische Kunsthandwerk in die Zukunft zu führen und die alte Fertigungstechniken neu zu beleben ist für den 44-Jährigen mehr als Hobby geworden.

Fotos: Sander Kunz

„Von den Papierblumen kam ich zu Altarsträußen aus Blech, und ich habe gemerkt, dass ich hier weitergehen möchte. Also habe ich in Österreich einen Kurs gemacht und gesehen, dass sie dort all diese Dinge herstellen, die ich aus meiner Kindheit kenne und von denen es hieß, dass das niemand mehr macht.“ 

Sander Kunz ist auf dem Schweizer Land aufgewachsen „in einer stark katholisch geprägten Gegend mit einer Mutter, die Kunstgewerbelehrerin war und Kunstgeschichte studiert hatte und einem Vater, der ein Regionalmuseum mitbegründet und geleitet hat. So bin ich groß geworden im Spannungsfeld zwischen Klosterarbeiten, die im Museum ausgestellt wurden und von denen es hieß, dass das niemand mehr macht, und Ferien, in denen man jede Kirche, jedes Museum anschauen gehen musste.“ Nach der Schule führt ihn auch sein eigener Weg zur Kunst. Sander Kunz studiert Blockflöte, arbeitet als Flöten- und Kammermusiklehrer.

So „entstand eine Mischung aus Kunst, Technik, Handwerk, Sakralem und Profanem. Ich fing an mich auszutauschen mit Klosterarbeitern in der Schweiz, und so nahm das seinen Weg bis zu dem, wie es heute ist.“

Heute, sieben Jahre nach der ersten Papierblume, bewahrt Sander Kunz als Kulturvermittler und Museumspädagoge in seiner Heimat Traditionen, die im Begriff sind, vergessen zu werden - oder schon vergessen waren. Die Brautschäppel gehören dazu, Kränze, die unverheiratete Frauen trugen. Und die Klosterarbeiten.

Der Begriff ist eine Wortschöpfung des 20. Jahrhunderts, genutzt als Oberbegriff für Devotionalien, Anschauungs- und Andachtsobjekte. Dazu zählen die barocken Techniken der Reliquienverzierung, neuzeitlichere Gold- und Silberschmiedearbeiten zur Aufbewahrung oder Präsentation von Reliquien, aber auch allerhand Kunsthandwerkliches aus Wachs, Papier, Perlen, Glassteinen, Wolle oder Draht, das für liturgische Zwecke, für die Heiligenverehrung, für religiöse Bräuche und Traditionen gefertigt wurde.

Schritt für Schritt hat Sander Kunz sich die teils fast oder gänzlich vergessenen Techniken angeeignet und ist noch dabei. Dafür recherchiert er in Klöstern, Museen, Institutionen, Kirchen, analysiert erhaltene Klosterarbeiten auf ihre technische Machart und geht dann selbst ans Werk. An seinem Arbeitsplatz in einem 70-Einwohner-Weiler im Kanton Zürich schöpft er aus seiner Kreativität und aus einer Fülle an Möglichkeiten und Materialien, die er über private Netzwerke oder schlicht das Internet bezieht.

„Es geht mir weniger darum, das Vergangene historisch korrekt zu bewahren als vielmehr neu für die Gegenwart zu interpretieren.“ Der 44-Jährige fertigt Miniaturköpfe aus Wachs, Seide-gewickelte Blumen, Glasperlenblüten, aufwändig verzierte Reisealtäre, filigrane Blattarbeiten. Andächtige Geduldsarbeiten.

Eine Papierarbeit mit Goldschnitt schwebt ihm als Nächstes vor, „vielleicht wird sie nächste Woche fertig, vielleicht auch erst in drei Jahren“. Sander Kunz arbeitet immer an mehreren Objekten gleichzeitig und manchmal gar nicht, wenn die Zeit oder auch die Muse fehlt. Das Flötenspiel hat er aufgegeben, gelegentlich vertritt er noch Kollegen. Es sei an der Zeit für eine Veränderung gewesen, sagt Sander Kunz schlicht. Kunst und Kultur nähert er sich nun auf handwerklich-praktische Art und Weise; seinen Erfahrungsschatz teilt er in Kursen, Führungen, Vorträgen und Fachaufsätzen – und auf Instagram.

Stunden verbringt Sander Kunz am Arbeitstisch mit Häkeln, Sticken, Kleben, Nähen, Formen, konstruieren, arrangieren. Es ist gerade dieser Prozess, die meditative Repetition der Arbeitsschritte, der ihn reizt. Die Möglichkeit, in Dialog mit sich selbst zu treten. „Das wäre für viele Menschen sehr empfehlenswert“, findet er, doch was er viel häufiger sieht: dass bei seinen Kursteilnehmern die Nerven blank liegen, wenn in kurzer Zeit nichts gelingen will. Sander Kunz interessiert gerade die Entstehungsweise, „gar nicht einmal das Ergebnis“.

Die meiste Arbeit bleibt unsichtbar, das Ausprobieren, Verwerfen, von vorne anfangen, bis das Werk Gnade vor den Augen seines Schöpfers findet. „Ökologisch ist dieses Arbeiten nicht“, befindet der 44-Jährige pragmatisch über die Abfallberge, die er nun seinerseits im Schaffensprozess produziert. Sie wachsen für ein höheres Ziel, für den Erhalt eines Kulturguts, das die Schweizer nach Sander Kunz´ Empfinden viel zu wenig interessiert.

Warum ist das so? Sander Kunz nennt die kulturellen Grenzen, die die Vielsprachigkeit mit sich bringt, die Säkularisierung, die Industrialisierung, den wirtschaftlichen Aufschwung seit dem 19. Jahrhundert, die Vereinnahmung des Volksguts-Begriffs vom politisch-rechten Spektrum. Je mehr die Schweizer Gesellschaft zu Geld gekommen sei, desto weniger habe sie Traditionen und Bräuche wertgeschätzt und bewahrt. „Die Frage ist nur: Was tritt an die Stelle der Werte, die einst wichtig waren?“

Sander Kunz will gegensteuern. In den Klöstern kann dieses Wissen nicht mehr allein erhalten werden. Seit 70 Jahren sinkt die Zahl der Ordensleute in der Schweiz, 656 Ordensmänner lebten in 2020 noch dort, 2263 Ordensfrauen, die meisten sind fortgeschrittenen Alters. „Während gut 100 Jahren, zwischen 1850 und 1950, erlebten die im 18. und 19. Jahrhundert entstandenen Kongregationen, denen eine Mehrheit aller Ordensmitglieder der Schweiz angehört, ihre Blüte“, schreibt Judith Albisser vom Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut St. Gallen in einem Aufsatz. „Gerade für Frauen waren diese Kongregationen attraktiv, da ihnen damals kaum andere Möglichkeiten zur beruflichen Entfaltung offenstanden.“

Neben den vielfältigen Aufgaben im seelsorgerischen, erzieherischen und karitativen Bereich bildete das Kunsthandwerk in den Klöstern eine Nebenbeschäftigung, keinen Beruf im eigentlichen Sinne. Entsprechend dünn ist die Quellenlage, was allein schon die technische Ausführung angeht.

In den Klöstern sei in aller Regel anonym gearbeitet und mündlich überliefert worden, sagt Sander Kunz. Wie es eben damals war: Die Jüngeren lernten von den Älteren. Viele Objekte seien schlicht gefertigt worden mit dem, was gerade zur Hand war. Und wenn es Reste waren wie die Papierschnipsel, mit denen Sander Kunz anfing.

Klosterarbeiten entstehen heute eher im Hobbybereich. Welche Folgen hat das? Sind moderne Klosterarbeiten kunsthandwerkliche Objekte, deren religiöser Kontext nicht mehr zwangsläufig bekannt ist? Sander Kunz bezeichnet sich als nicht religiös, seine kritische Distanz zur Kirche sei durch die Beschäftigung mit den Klosterarbeiten eher gewachsen. Trotzdem: die Tradition, die Bräuche, das Kunsthandwerk will er erhalten sehen.

Die Antwort auf die Frage, welche Werte ihm wichtig sind, hat Sander Kunz gefunden.

Insta: @klosterarbeiten

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