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Dreißig Jahre

Ich kann mich schon lange nicht mehr an Dich erinnern. Deine Stimme. Dein Lachen. Es ist eingefroren auf dem Foto von dir und mir. Das letzte, das ich von uns besitze. Das aktuellste Foto, was absurd ist, denn auch das ist nun dreißig Jahre alt. Ich - ein Kind darauf. Du - ein junger Mann, der sich selbst noch nicht auskennt auf dieser Welt. Aber wie konntest du das auch? 

Ich weiß nur noch, dass das auf dem Foto da dein Lachen war. Dass du so ausgesehen hast. Aber in meiner Erinnerung ist all das nur ein stummes Bild. Kein Leben mehr darin. Ich habe auch ein Video von dir. Das einzige, was wir gemacht haben, weil es das damals noch nicht in dem Ausmaß gab wie heute. Aber du wirkst darauf so fremd. So weit weg.  

Ich vermisse nicht den Menschen, der mein Bruder für mich war. Diese Erinnerung trage ich in mir wie alle anderen, deren Brüder und Schwestern auch noch leben. Ich vermisse auch nicht Dein Gesicht, Deine Worte, Deine Stimme. Ich vermisse nicht, wie du “Hallo Küken!” zu mir gesagt hast.  Deine Witze, das Fluchen, wenn etwas nicht gelungen ist, deine lustigen Geschichten. All das sind einfach starre Erinnerungen an eine Zeit, die so lange her ist, dass sie manchmal unwirklich und aus einem anderen Leben scheint. Ich vermisse all das nicht, denn es sind festgehaltene Momente und Bilder, die man beliebig in ein Album kleben kann. Die man festhält wie Fragmente aus einer anderen Welt. Weil man weiß, dass es sie dort gab. Die man mitnehmen will, bei jedem Umzug in eine Kiste legt, weil man glaubt, ohne ihnen nicht leben zu können. Dabei ist es etwas ganz anderes, ohne dem es mir so oft schwer fällt hier weiter zu leben.

Ich vermisse diesen Teil in mir, der gestorben ist, als Dein Auto von der Straße geschleudert wurde. Den ich seit dreißig Jahren suchte, als ich nicht wusste, wonach ich eigentlich suchte. Als ich glaubte, es seien Erinnerungen, die ich vermisse. Dabei fehlst du in mir. In meinem Leben.
Ich vermisse diese Leichtigkeit in mir, von der ein Teil mit Deinem Sarg in der Erde versunken ist. Ich vermisse die Unbeschwertheit einer unvollendeten Kindheit, das Taumeln zwischen Groß und Klein, das zu Fall gebracht wurde, als die Polizei vor unserer Tür stand. 

Ich vermisse den Teil, der aus mir die Schwester gemacht hat, die ich einmal war und die jetzt halb hier auf dieser Erde steht und sich selbst und den Halt verloren hat. Immer wieder schwankt, immer wieder durch Täler wandert.

Ich vermisse deine Telefonnummer in meinem Handy und das Gefühl, dir eine Nachricht schicken zu können, wenn mir danach ist. Dir von meinem Leben erzählen zu können. Ich vermisse den lustigen Onkel, den meine Kinder hätten haben können. Haben würden, wenn nicht…
Ich vermisse dein Leben, von dem ich niemandem erzählen kann, weil es schon seit dreißig Jahren beendet ist. Ich vermisse Gespräche über unsere Eltern, wenn mich etwas beschäftigt, was sie betrifft. Ich vermisse das Austauschen von Erinnerungen an unsere Kindheit und die Lebendigkeit darin. Ich vermisse unser Lachen, denn wenn ich das Foto betrachte, denke ich, dass wir unfassbar viel zu lachen hätten. Weil wir das immer hatten. Weil unser Humor einzigartig war. Damals schon. Und das heute noch wäre. Ich vermisse die Witze, die du machen würdest. Verrückt, oder?

Ich vermisse Dinge, die mir niemand geben kann. Nicht, weil sie verloren sind, sondern weil ich sie nie hatte.

Du fehlst hier in jeder Ecke. Und an manchen Tagen kann ich damit richtig gut umgehen. An anderen ist da tiefe Traurigkeit, die mich manchmal selbst überrascht. Dann stelle ich mir vor, dass du neben mir sitzt und ich rede mit dir. Und du antwortest. Du sagst oft so lustige Dinge, dass ich manchmal lachen muss. Du tröstest mich. Und dann fühle ich mich dir ganz nah. Vielleicht bist du das ja auch, wer weiß das schon.

Ich glaube es können nochmal dreißig Jahre vergehen und ich werde dich noch immer vermissen. Das ist so mit der Trauer. Die hört nie auf. Sie verändert sich. Sie wirft mich mal von der Brücke, dann holt sie mich wieder aus dem Wasser. Und ich schwimme mit ihr diesen Fluss entlang, der sich Leben nennt.

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