Das Duell der Dinkelkekse
Zweimal im Jahr ist der Fernsehabend im Eimer. Stattdessen hören sich westdeutsche Eltern gern reden und liefern sich Kampfabstimmungen um den Posten als Elternsprecher. Ein Elternabend.
Neben Beerdigungen und Dienstreisen nach Hamburg gehören für mich Elternabende zu den unvermeidlichen Terminen, die schon Tage vorher eine latente Grundübelkeit mit sich bringen. Bei uns kommt erschwerend hinzu, dass viele Eltern mit innerdeutschem Migrationshintergrund dieselbe Schule bevorzugen. Die Plätze sind knapp. Das allein scheint sie für bestimmte Leute noch attraktiver zu machen als der pädagogische oder gar christliche Hintergrund der Anstalt. Es ist eine Prestige-Frage – für uns natürlich nicht. Und selbst wenn die normale Wohngebietsschule direkt ins Gefängnis führt, wie auch wir uns seinerzeit von westdeutschen Zeitgeist-Magazinen einreden ließen, so kann der ständige Umgang mit ungezogenen ADS-Kindern und deren Eltern auch nicht schädlicher sein.
Die Schule ist jedenfalls fest in ihrer Hand, wenn auch geografisch noch in Leipzig. Und so ähnlich wie die letzten Berliner in Neukölln bemühen sich inzwischen auch hier eher die Einheimischen um Integration.
Es fängt damit an, dass man nie genau weiß, ob man neben einer Mutter oder einer Oma sitzt, die laut plappernd einen Stuhlkreis „viel kommunikativer“ fände als so einen „autoritären“ Frontal-Elternabend. Seltsamerweise kommen mir westdeutsche Eltern von gleichaltrigen Kindern immer älter vor, als sie vielleicht sind. Umso infantiler wirkt das grauhaarige Streberschnipsen bei der Frage nach einem Protokollführer und der unbändige Drang, aus allem einen Wettbewerb zu machen: Ob es um den Kuchenbasar für die Erdbebenopfer geht oder um die meisten überflüssigen Fragen zur Klassenfahrt – an ihrem Benehmen auf Elternabenden sollt ihr sie erkennen.
Eigentlich bräuchte so eine Veranstaltung kaum mehr als eine dreiviertel Stunde: Klassenfahrt, Blumen für die alten Elternsprecher, Wahl der neuen, dann vielleicht noch TOP 4: „Sonstiges“ – und jeder könnte wieder zu Hause auf dem Sofa verfolgen, wer Millionär wird. Aber nein: Noch vor der 50-Euro-Frage für die Klassenkasse beginnt die obligatorische Klagerunde über das Schulessen, einem ostdeutschen Standard, den sie aus ihrer Heimat im Zweifel gar nicht kennen. Dennoch gibt es – darauf kann man wetten – alle halbe Jahre wieder endlose Diskussionen, ob nicht doch noch ein zweites oder drittes vegetarisches Menu verlangt und der Verkauf von Schokolade am benachbarten Kiosk ein für alle Mal verboten werden sollte.
Nach der ersten Stunde beginnen einzelne Eltern, die Augen zu verdrehen. Meist sind es die, mit denen man schon bei der Einschulung instinktiv zusammen gestanden hat, und – wie sich später herausstellte – mit deren Kindern die eigenen instinktiv befreundet sind. Es ist ein rätselhaftes Phänomen, das einem auch auf Partys, in Reisegruppen oder bei anderen gemischten Veranstaltungen immer wieder begegnet: Ein leiser Seufzer, ein vielsagender Blick, alles klar. Es hat nach 20 Jahren nichts mehr mit Mode und nur noch selten mit Dialekten zu tun: Wir fallen einander auf, weil wir nicht weiter auffallen, was den anderen vermutlich nicht mal auffällt, weil sie damit beschäftigt sind aufzufallen. Kein Wort müssen die einen verlieren, um sich über die anderen einig zu sein: Wie die sich produzieren und genau wie ihr Nachwuchs den Ton in der Klasse angeben wollen. Wie sie die Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder mit ihren eigenen vertuschen und sich notfalls über Mobbing beklagen, wenn das nicht allen gefällt.
Das ist nach der Schulspeisung ihr zweites Lieblingsthema: Offenbar finden die einheimischen Kinder einfache Mittel gegen die Angeber unter ihnen, schubsen sie beiseite oder schließen sie vom Spiel aus, wenn sie auf dem Schulhof die Attitüden ihrer Eltern nachahmen. Vielleicht ist es sogar das, was gern mit Fremdenfeindlichkeit verwechselt wird, sofern sie es nicht sowieso mit Neid abtun. Auf jeden Fall liegt es nie an ihnen selbst.
Wenn ihre Wunderkinder nicht still sitzen können, erklären das die Eltern gern mit Unterforderung. Bestätigt sich die Hochbegabung auch nach zehn Tests nicht, sind entweder die Ärzte zu blöd oder der kleine Prinz wird eben mit Medikamenten ruhig gestellt. Die Lehrer können noch so jung oder selbst aus dem Westen sein – in kaum einer Versammlung fehlt der Hinweis auf „alte Volksbildungsmethoden“. Überhaupt haben es ihre „kleinen Individualisten“ in dieser immer noch von Zwangskollektivierung geprägten Gegend besonders schwer. Nicht einmal die Schulklasse kann man sich im Osten selbst zusammenstellen! Ohnehin reden sie lieber von der „Peergroup“, wünschen sie mehr „Corporate Identity“ und wollen – offenbar aufgewiegelt vom plötzlichen Mut ihrer Landsleute in Stuttgart und Gorleben – die Benotung von Hausaufgaben wieder abschaffen. Gegen den angeblich zu harten Ost-Sportlehrer laufen ebenfalls Putsch-Pläne. Im Zweifel geht ein Rechtsanwalt aber auch ganz individuell gegen zu schlechte Noten vor, damit die kleinen Seelen nach einer „3“ keinen Schaden nehmen.
Eine Mutter schlägt vor, sich doch auch mal nachmittags zu treffen, damit die jungen Erwachsenen dabei sein können und nicht immer nur über sie gesprochen werde. Das übliche demokratische Blendwerk. Als ginge es nicht vielmehr darum, den Vollzeit-Müttern die Langeweile bis zum Abendbrot zu vertreiben. Ihre Männer blockieren irgendeine Funktion in Justiz oder Verwaltung, für die ostdeutsche Bewerber auch nach 20 Jahren noch nicht geeignet sind. Die Ehefrauen suchen seitdem verzweifelt sozialen Anschluss in der fremden Stadt. Im Grunde ist so ein Elternabend neben der Putzfrau ihr einziger Kontakt zur einheimischen Bevölkerung. Ein gesellschaftlicher Höhepunkt wie die Weihnachtsfeier der Lions-Frauen, nur dass sie da wenigstens unter sich bleiben.
„Spontan“ – sie nennen das wirklich so – erklärt sich eine andere Mutter bereit, Dinkelkekse zu backen, „natürlich glutenfrei“, als wäre das nicht ohnehin selbstverständlich. Einem engagierten Vater fällt daraufhin ein, dass man doch bitte auch zur Klassenfahrt an laktosefreie Milch denken möge. Er selbst könne übrigens ein wenig zaubern und sich vorstellen …
Es wäre der Moment für ein ehrliches „Schnauze Wessi“ – aber würde die Sache auch nicht verkürzen. Der „5b-Spielenachmittag mit Eltern“, so das Protokoll, klingt schon in der Brainstorming-Phase wie die Höchststrafe für Fünftklässler und geistig normal entwickelte Erwachsene. Zu Hause läuft indessen die Miete weiter und mit Frauentausch meine Lieblingsserie über westdeutsche Assi-Familien. Da meldet sich ausnahmsweise auch mal eine Leipziger Mutter zu Wort und gibt leise zu bedenken, dass vielleicht ein paar Eltern arbeiten müssten, sie selbst zum Beispiel bis 20 Uhr in der Kaufhalle. Was für ein läppischer Einwand! Er wird nicht einmal ignoriert.
Stattdessen zählen die anderen nun im Detail auf, an welchen Tagen ihre Kinder nicht können – wegen Yoga, Spanisch-Konversation und Cello bei Professor Yamamoto oder Soundso. Bis ich begreife, dass es gar nicht mehr darum geht, sich auf einen Nachmittag zu einigen, seufze ich wohl einmal zu laut. „Und“, fragt meine Nachbarin, die Cello-Mama, prompt: „Was spielt ihrer so?“ Dabei lächelt sie, jedenfalls lächelt ihr Mund. Und alle Mitbewerber um das meist-verplante Kind der Klasse schauen ebenfalls angespannt zu mir.
Erst denke ich an Lego, doch dann fällt mir noch etwas Besseres ein: „Meiner spielt Gameboy“, sage ich, „Meisterklasse: Professor Nintendo.“ Alle schweigen ein paar Sekunden peinlich berührt, aber danach können wir endlich die neuen Elternsprecher wählen. Wie jedes Mal halten sich die einen auch dabei nach Kräften zurück, weil jedes Amt, jede Wortmeldung, jeder unüberlegte Schritt aus der Reihe nach ihrer Diktatur-Erfahrung immer noch einen fiesen Beigeschmack hat. Die anderen lauschen verzückt der eigenen Bewerbung, liefern sich Kampfabstimmungen und am Ende verliert die Cello-Mama knapp gegen einen Landsmann aus Niedersachsen. Sie beißt die Zähne zusammen und gratuliert dem neunen Elternsprecher lauter als nötig. „War nur der Väter-Bonus“, tröste ich sie, „nächstes Schuljahr, neues Glück!“ Und ich fürchte, sie findet mich nun ganz nett.
Leipzig, 2010