Warum SCHNAUZE WESSI jetzt anders heisst? Weil UNTER WESSIS nur noch gejammert wird
Zehn Jahre habe ich selbst die Schnauze gehalten, jetzt juckt es wieder. Nicht um nachzutreten, weil der selbstgerechte Westen am Boden liegt. Sondern um den Landsleuten Mut zu machen, in der Diktatur anzukommen
Es war immer einfacher, über Wessis zu lachen, als unter ihnen zu leben. Deshalb ist Mitleid vielleicht auch das falsche Wort. Und doch geht es mir unerwartet nahe, was sich derzeit vor der ostdeutschen Haustür abspielt, ja zum Teil mitten unter uns. Da hat man 35 Jahre Auf- und Abbruch Ost überlebt, sich verrenkt und angepasst, sogar „richtig arbeiten“ gelernt und war zumindest am Anfang stets bemüht, im Westen anzukommen. Und dann wickelt sich dieser Westen einfach selbst ab?!
Die Wirtschaft schrumpft. Energie ist knapp. Es herrscht Wohnungsnot und Papiermangel, von Hustensaft für Kinder oder altmodischen Grundrechten gar nicht zu reden. Harmlose Spaziergänger werden von Polizisten durch Parkanlagen gejagt. Mal drohen Massenimpfungen, mal Parteiverbote. Und wenn sich Mitglieder der Partei- und Staatsführung von einem Witzbild beleidigt fühlen, kommt im Morgengrauen der Staatsschutz.
Freiheit? Wohlstand? Rechtsstaat? Alles, was die selbstgerechten Landsleute früher dermaßen stolz vor sich her trugen, dass wir es auch unbedingt haben wollten, geht in diesen Tagen mir nichts, dir nichts den Rhein runter. Und bei aller Liebe, Neid und Schadenfreude kann man aus hiesiger Sicht nur - einmal mehr - enttäuscht sagen:
Das ist nicht mehr unser Westen!
Vielleicht war er es nie - oder eben doch nur eine ostdeutsche Erfindung? Vielleicht war überhaupt alles eine Mogelpackung, auf die wir uns 1990 leichtfertig eingelassen haben. Vor allem aber wundere ich mich, mit welchem Lärm sich viele Westdeutsche immer noch selbst vorgaukeln, der liberale Westen zu sein. Bis auf ein mittelalterliches Abtreibungsrecht ist doch kaum noch was übrig? Ist das Autosuggestion? Sehen sie die Zeichen für den Umbruch nicht?
Statt sich in Würde darauf vorzubereiten, suhlen sie sich in sentimentaler Westdeutschtümelei. Manche wollen trotzig glauben, es gehe alles weiter seinen kapitalistischen Gang, notfalls nach einem kleinen Atomkrieg. Einige ahnen vielleicht sogar, dass es nicht nur eine weitere Krise vor der nächsten ist, sondern eine ihres Systems. Und suchen deshalb Trost in Kriegsgeheul. Jedenfalls sind immer erstmal alle anderen schuld: Putin natürlich, aber auch ostdeutsche Falsch-Wähler oder chinesische Elektro-Autos, der Klimawandel, die Grünen, Trump, soziale Medien und asoziale Viren. Hass, Hetze und Spaltung.
Unterdessen steht die Mehrheit hinter der Gardine, lässt sich jeden Tag einen neuen Schreck einjagen und weiß oft gar nicht, wovor sie sich gerade am meisten zu fürchten hat: Vor sächsischen Schnupfen-Verharmlosern oder russischen Internet-Saboteuren? Vor Brandmauern aus Demo-Pappe oder Faschisten in der EU-Kommission? Vor Panzer-Skeptikern oder Messer-Befürwortern? Westdeutsche fühlen sich allein, verunsichert, von innen und außen bedroht. Am liebsten würden sie ihre Demokratie abschaffen, um sie zu retten: Parteien verbieten! An den Grenzen durchgreifen! Durchimpfen! Abschieben! Aufrüsten! Allein in der Sehnsucht nach einem starken Staat scheint der Westen noch etwas Halt zu finden.
„Haltung“ nennen das ihre Journalisten, „wehrhaft“ oder „alternativlos“ ihre Politiker. Und diese autoritäre Demokratieverachtung kann selbst ein hier wie da immunisierter Ostler nicht mehr mit einem arroganten „Schnauze Wessi“ abtun. Ab und zu habe ich sogar das irritierende Gefühl, man müsste diese Jammer-Wessis einfach mal in den Arm nehmen, statt immer nur auf den Arm. Ihnen Mut machen oder wenigstens dabei helfen, in Diktatur und Mangelwirtschaft anzukommen.
Dazu möchte „Unter Wessis“ beitragen.
Denn eins ist klar: Den Osten trifft es diesmal nicht so hart. Hier gibt es nach wie vor weniger zu verlieren. Notfalls sprechen viele sogar noch etwas Russisch. Die Leute wissen, wie man mit Rohbraunkohle heizt, staatliche Propaganda erkennt oder Kunsthonig herstellt. Und so können wir den Brüdern und Schwestern vielleicht endlich etwas zurückgeben. Dabei denke ich nicht nur an Klugscheißer-Sprüche, die heimzuzahlen sind, eher an eine Art akzeptierende Sozialarbeit, die ihre Sorgen und Nöte ernst nimmt und „westdeutsche Lebensleistungen“ anerkennt, ohne dabei immer gleich zu lachen.
Das natürlich auch. Dazu ein paar skurrile Erlebnisse als Journalist unter ihnen, bis mir ihr Volksbildungs-Eifer zu sehr wie DDR vorkam. Und sicher wird auch noch mal über Eigentumsfragen zu reden sein, über Enteignung etwa und die Frage, warum ein Völkchen 1989 zwar kurz „das Volk“ war, aber sein ganzes Volkseigentum kurz darauf einem anderen gehörte?
„Unter Wessis“ möchte sie nicht mehr mit einem schroffen „Schnauze“ zum Dialog einladen, sondern behutsam und in einfacher Sprache dabei begleiten, etwas kleinlauter zu werden. Schließlich haben gelernte Westdeutsche - bis auf die Ältesten unter ihnen - keinerlei Erfahrung mit einem Systemwechsel oder Überlebensstrategien in einer Diktatur. Sie kennen nichts anderes als das, was sie bisher für Freiheit und Wohlstand hielten. Deshalb wissen sie auch nicht, wie man eine Weile ohne auskommt - und wie schnell sich alles ändern lässt, wenn es ausreichend Leute satt haben.
Nach meiner leider viel zu langen Erfahrung unter ihnen fürchte ich allerdings, die meisten Westdeutschen kommen auch als Duckmäuser ganz gut zurecht. Viele wären vielleicht sogar die besseren DDR-Bürger gewesen. Damit sie es nicht wie gewohnt übertreiben, werden sie also gleichzeitig subversive Vorbilder brauchen. Hier schon mal grob die ersten Tipps: Keine Angst! Mehr Schlendrian! Weniger Eifer! Weniger „Haltung“! Weniger Ernst!
So kann jeder den aufrechten Gang lernen. Sogar Wessis.
© Holger Witzel (Öffnet in neuem Fenster) 🍊🍊🍊🎃🍊 Dezember 2024