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kurz & knapp: Der Vormarsch der Russen

Um nochmal verständlich zu machen, was an „der Front“ tatsächlich passiert.

Spätestens seit Bachmut haben die russischen Truppen ein bestimmtes Vorgehen perfektioniert. Einen Angriff, der in seiner Logik aus dem ersten Weltkrieg stammen könnte.
Es ist ein Angriff in drei Phasen.

Die drei Phasen

In der ersten Phase werden schlecht ausgebildete und ausgerüstete Soldaten nach vorne getrieben. Das sind so genannte Sturmtruppen. Im Englischen werden sie immer mit „Assault…“ bezeichnet.
In Zeiten von Bachmut waren das auch rekrutierte Gefängnisinsassen, heute sind es nur noch Wehrpflichtige.
Es ist bei Einheiten dokumentiert, dass diese eigens dafür aufgestellt werden und meist weniger als sechs Wochen Ausbildung erhalten. Häufig haben sie nicht einmal eine komplette Ausrüstung.
Da sind auch keine Offiziere dabei, Unteroffiziere gibt es eh kaum. Sie werden zum Teil unter Gewaltandrohung gezwungen.

Aus dieser Phase stammen meist die Videos, die auf X und Telegram veröffentlicht werden. Drohnen werfen Granaten in stehende Panzer, Kampfpanzer werden immer seltener, Artillerie löscht ganze Einheiten aus.

Auf dem Screenshot zu sehen ist – als nur ein Beispiel – ein Schützenpanzer, auf dem mindestens 12 Soldaten saßen. So werden die Truppen nach vorne gekarrt.
Der gesamte Trupp wurde durch eine Drohne aufgeklärt und mit dem MG und einer Granate vom Panzer geschossen.

Diese Einheiten kommen aber häufig in einer solchen Anzahl auf die ukrainischen Stellungen zu, dass die gezwungen sind, sie auch durch Artillerie zu bekämpfen. Sie sind ein Köder.
Damit beginnt die zweite Phase. Die Russen beobachten das ihrerseits mit Drohnen. Und wenn die Artillerie beginnt zu schießen, wissen sie, wo die Stellungen sind. Und sie beginnen nun ihrerseits aus der Distanz, die Einheiten zu beschießen. Durch eigene Artillerie, durch bewaffnete Drohnen oder mit Flugzeugen.

Die müssen dann verlegen, also sich eine neue Stellung suchen. Oder sie feuern ihre ganze Munition bereits auf den Sturmangriff.
Da sie zu wenig Munition und Flugabwehr haben, werden sie gezwungen, die Köpfe runter zu nehmen.

Damit beginnt die dritte Phase.
Erst jetzt kommen die „richtigen“ Bodentruppen der Russen. Also die besser ausgebildeten, so genannten „mechanischen Brigaden“.
Mit dabei sind dann beispielsweise auch tschetschenische Einheiten. Der Diktator Kadyrow hat am Freitag bekannt gegeben, dass 3000 ehemalige Wagner-Söldner den „Akhmat Spetsnaz“ beigetreten sind.
Und so erobert Russland immer wieder unter hohem Blutzoll Stück für Stück.

Die Lage

Aus dem Krieg ist längst ein Abnutzungskrieg geworden. Nun kommt es darauf an, wer länger durchhält und wer die größeren Ressourcen hat.
Das zeigt vielleicht auch, wie blöde die Debatte um Taurus hier ist. Was die Ukraine vor allem braucht, ist Artillerie-Munition und Flugabwehr. Zumal Russland – wie in der „Schlammsaison“ üblich – versucht durch Drohnen und Marschflugkörper die ukrainische Infrastruktur zu beharken. Für letzteres werden vor allem die Patriot-Systeme benötigt, um die die Ukraine jüngst wieder gebeten hat.
(Ich mag den in Medien verwendeten Begriff des „Forderns“ nicht. Schaut man die Äußerungen im Original, sind es Aufrufe und Bitten, keine „Forderungen“.)

Immer wieder mahne ich dazu, die Relation zu beachten.
In einem „heute Spezial“ lief im Ticker die Frage „Wie lange kann die Ukraine sich noch verteidigen?“ Das ist eine Verzerrung. Meine Antwort wäre: Noch Jahre.
Es wird der Eindruck vermittelt, dass die Russen jetzt vorrücken und irgendwann ein Kipppunkt erreicht ist, und es dann ganz schnell geht. Das ist schlicht falsch.

Ich habe dazu eine Karte gefertigt, die verdeutlicht, worum es gerade geht.
Russland hat etwa ein Fünftel der Ukraine besetzt. Wobei es nicht einmal dieses Fünftel völlig unter Kontrolle hat.
Von diesem Fünftel hatte es aber den größten Teil bereits seit 2014 mehr oder weniger unter Kontrolle. Nämlich die Krim, Luhansk und den Teil von Donezk, den es auch jetzt hat.
Viel ist also nicht dazu gekommen. Im Gegenteil, die eroberten Gebiete im Raum Charkiw wurden Russland ja wieder abgenommen.

Und die massiven Kämpfe, die ich beschrieben habe, finden nur in Donezk statt. In Saporischschja, dem Teil nördlich der Krim, wird ständig gemeldet, dass es verhältnismäßig ruhig ist. Es wird gekämpft, natürlich. Aber nicht so vehement. Russland hat auch nicht die Kraft, den Fluss Dnepr, der die Ukraine in Ost und West trennt, zu überschreiten.

Ist es „angespannt“?
Ja, ist es.
Aber der Eindruck, die Ukraine würde kurz vor ihrem Ende stehen, ist einfach Unfug.
Dieser Eindruck wird Laien durch die Medien vermittelt. Weil Meldungen wie mit einem Brennglas immer einzelne Geschehen herausstellen: Kämpfe, Äußerungen von Politikern und „Forderungen“. Aber nie das ganze Bild zeigen.
Und Militärs - die ich sehr schätze - schauen natürlich auf die Front. Das ist ihr Job und richtig und gut. Aber auch das vermittelt kein Gesamtbild.

„80% des Territoriums sind frei, das müssen wir uns immer wieder vergegenwärtigen. Und 50% des Gebietes, das Russland schon geraubt hatte, wurde zurückerobert. Die modernen russischen Streitkräfte sind de facto zerstört. Die gut ausgebildeten Truppenteile existieren nicht mehr, ganze Divisionen sind vernichtet.“
Generalmajor Christian Freuding, Leiter des Lagezentrums Ukraine, 24.01.24, Welt am Sonntag

Zurücklehnen?
Natürlich nicht.
Aber alles ist besser als ängstlich-verzweifelte Alarmstimmung.
Die Ukraine selber hat noch lange nicht alles ausgeschöpft und die Hilfen aus Europa werden nicht nur kommen, sondern sich erhöhen.

Kategorie kurz & knapp

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