Ukraine: Zahlen sind Schall und Rauch!
In einer Facebook Gruppe wurden neulich zwei Screenshots gepostet, auf denen Aufstellungen zu lesen waren, welche Einheiten der Ukrainer und Russen an dem „westlichen Frontabschnitt“ eingesetzt sind. Und wie viele Mann das sind.
Das sollte der Vorstellung widersprechen, der Krieg sei ein kleiner Krieg.
Zu Letzterem kann man unterschiedlicher Meinung sein. Doch zu den Zahlen kann ich nur sagen: Unfug.
Ich glaube solchen Zahlen nicht, egal von welcher Seite sie kommen. Sie finden in meiner Betrachtung des Krieges gar keine tiefere Beachtung. Und ich möchte einmal eine Perspektive anbieten, warum das so ist.
Militärische Mengenlehre
Meine Grundausbildung habe ich auf dem Leopard II absolviert, einem Kampfpanzer.
In diesem Kampfpanzer sitzen immer vier Leute: Der Fahrer, der Kommandant, ein Richtschütze der schießt und ein Ladeschütze der nachlädt.
Zu einem Zug gehörten immer drei Panzer, eine Kompanie hatte vier Züge.
Diese Aufteilung wird übrigens immer wieder umgemodelt und an strategische Erfahrungen und neue Gegebenheiten angepasst.
Also gehörten zu einer Kompanie immer zwölf Panzer. Da kam dann das „Chefauto“ dazu, also der Panzer in dem der Kompaniechef sitzt.
Und es kommt der Spieß, der Kompaniefeldwebel hinzu. Mit einem Unteroffizier und zwei Soldaten aus dem Geschäftszimmer. Die wären im Ernstfall für die Versorgung zuständig.
Wir kämen so also auf 56 Mann in einer Kompanie Kampfpanzer.
Und so kann man dann die größeren Verbände ausrechnen. Aus vier bzw. fünf Kompanien wurde ein Bataillon, plus eine Stabskompanie. Das Bataillon mit mindestens 52 Panzern gehörte zu einem Regiment. Zu dem Regiment gehören dann aber auch andere Truppengattungen. Beispielsweise Panzergrenadiere, bei denen die Zahlen schon wieder ganz andere sind. Denn bei dem Fuchs brauchte man beispielsweise nur zwei Mann Besatzung, dafür passten hinten acht Soldaten rein. Beim Marder ist es schon wieder anders.
Diese Aufteilung nennt man salopp „Übungsgliederung Blau“. Die lag auf unseren Dienststellen rum. Bei uns im Nachrichtenbereich lag aber auch mal eine „Übungsgliederung Rot“ rum. Die war geheim. Denn das war eine solche Aufteilung der russischen Truppen.
Beispiel Bildzeichen
Als Luftbildauswerter mussten wir das lernen. Nicht alles auswendig, aber bestimmte Zusammenhänge.
Sehe ich auf einem Luftbild irgendwo einen Leopard II rumstehen, müssen in der Nähe noch zwei andere sein. Denn ein Zug tritt eigentlich immer zusammen auf. Vermutlich, aber nicht sicher, sind im weiteren Umfeld noch zehn andere. Und der, der am weitesten hinten ist, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der Panzer vom Kompanieführer. Sie merken, wohin das führt.
Beispielsweise mussten wir lernen, was alles zu einer Einheit Flugabwehr Hawk Raketen gehört. Denn das sind immer sechs Starter, eine Kommandostation (Feuerleit), zwei identische Stromversorger und zwei unterschiedliche Radars (Eselsbrücke: Nicker und Kopfschüttler). Und weil das alles durch LKW gezogen wurde, mussten irgendwo viele LKW rumstehen. Oder die ganze Einheit war dauerhafter positioniert und daher in befestigten Stellungen.
Eine Einheit Hawk ergab also immer ein bestimmtes Muster. Man spricht auch von Optischen Schablonen oder Bildzeichen.
Um das zu verdeutlichen, nehmen wir einmal einen Screenshot des Videos, das die Ukraine kürzlich veröffentlicht hat. Man sieht, wie eine S-400, ein ausnahmsweise recht neues Flugabwehrsystem Russlands, auf der Krim zerstört wurde.
Man kann mehrere Fahrzeuge sehen, Schutzwälle um vermutlich Munition zu lagern, alte Stellungen weiter unten, und so weiter.
Weiß man nun, dass zu einer russischen Batterie S-400 immer mindestens zwei Radars gehören, die bis zu sechst Starter versorgen, kann man sehr genau analysieren, was dort beschädigt wurde. Ich persönlich gehe von einem, höchstens zwei Startern aus.
Phantom Brigaden und Geister Regimenter
Der Ansatz soll verdeutlichen, wie Militär denkt.
Denn der Laie kann sich leicht vorstellen, dass eine gewisse Anzahl von Soldaten eingezogen wurde. Und wenn sie in Leichensäcken zurückkommen, muss man subtrahieren, und schon weiß man, wie viele Soldaten dort gerade kämpfen.
Aber so funktioniert es eben nicht. Außerdem sind viele ja gar nicht im Schützengraben an „der Front“, sondern dahinter verteilt. Und viele Flugzeuge kommen von weit weg; wenige Soldaten, die aber sehr großen Schaden anrichten können.
Und man kann es von außen noch schwerer beurteilen, wenn die Menge der tatsächlich eingezogenen Soldaten geheim ist.
Militär denkt in Waffensystemen und strategischen Einheiten. Nicht in Mannstärke, die ist eher beiläufig.
Häufig werden nur Regimenter genannt. Doch wie viele Soldaten das nun wirklich sind, das wissen nur die, die genau wissen, wie viele Soldaten zu den jeweiligen Regimentern gehören. Und selbst das ist ja noch ungenau.
Weiß ich beispielsweise, dass die 57. motorisierte Brigade der Ukraine bei Bachmut eingesetzt ist, kann ich recherchieren, welche Truppen dazu gehören. Das sagt mir militärisch sehr viel. Hat aber nichts mit der Anzahl der tatsächlich dort kämpfenden Soldaten zu tun. Das ist militärisch fast irrelevant. Viel hilft nicht immer viel, wie die USA spätestens in Vietnam lernen mussten.
In den genannten Screenshots in diesem Beispiel auf Facebook war u.a. die russische 56th Guards Air Assault Brigade genannt. Die zwar tatsächlich am Kampf um Cherson teilgenommen hat und eigentlich auf der Krim beheimatet ist. Aber die Brigade war schon vor dem Krieg auf ein Regiment zusammengeschrumpft worden, ist also viel kleiner.
Ebenso die 45th Guards Spetsnaz Brigade, also wirkliche Elite, die auch schon mit den USA zusammen trainiert hat. Die nach meinem letzten Stand bei Tokmak eingesetzt wurde, aber ebenfalls stark verkleinert ist.
Es wurde auch eine andere Einheit genannt, die ich nicht erinnere. Die inzwischen um 90% dezimiert wurde. Die ist also gar nicht mehr existent. Und vom 247th Guards Air Assault Regiment, das genau da eingesetzt ist, wo es gerade richtig zur Sache geht, wurde berichtet, dass sie sich wegen ausbleibendem Nachschub geweigert haben zu kämpfen.
Dazu muss man auch verstehen, dass die SpezNas eine absolute Eliteeinheit sind, die dem Nachrichtendienst direkt unterstehen. Das ist, als hätten der Bundesnachrichtendienst ein eigenes Militär. Und die werden derzeit in der Ukraine als normale Soldaten verheizt. Wenn beim Namend er Einheit „Assault“ („Überfallkommando“) dran steht, senkt das die Lebenserwartung russischer Soldaten rapide.
Ebenso die russischen Fallschirmjäger WDW (Wosduschno-dessantnyje woiska; ВДВ: Воздушно-десантные войска) bei denen selbst russische Quellen davon ausgehen, dass sie um mindestens 50 Prozent eliminiert sind. Und das ist schon Monate her.
Das ist stattlich. Denn solche Einheiten können nicht mal eben durch Wehrpflichtige ersetzt werden. Die müssen auch in Russland lange ausgebildet werden.
Für Laien schwer verständlich
Wenn also jemand mit solchen Zahlen hantiert – Hunderttausend hier, Fünfzigtausend da – dann hat er sich höchstens die Arbeit gemacht, die strategischen Einheiten zu recherchieren und zusammenzurechnen. Höchstens. Und die können von vorn herein nicht passen. Selbst, wenn - und ich betone wenn - er überhaupt die tatsächliche Mannstärke der jeweiligen Einheiten kennt. Die kann man nämlich nicht einfach googeln, da muss man schon tief in die Materie. Das ist vielleicht etwas auf dem Niveau von einem Prof. Masala oder einem Bundeswehr Lagezentrum.
Und die aktuelle, tatsächliche, lebende Mannstärke kann derjenige gar nicht kennen.
Das gilt auch für angebliche Experten und ehemalige Generäle. Die in Diskussionsrunden im Fernsehen sitzen. An so konkrete Zahlen kommen auch die gar nicht heran, die sind geheim.
Ja, es gibt eine Möglichkeit, sich den realistischen Zahlen anzunähern.
Dazu gibt es die so genannten OSINT Plattformen, wie zum Beispiel Oryx. Die prüfen jede Veröffentlichung, die auf Social Media zu finden ist. Können sie beispielsweise einen zerstörten Panzer verifizieren, veröffentlichen sie das.
Das ist auch erstmal sehr ungenau. Aber das wissen die Soldaten vor Ort auch. Weshalb natürlich jeder sofort solche Handy-Fotos veröffentlicht, damit die dann wiederum bei Oryx erscheinen. Durch diese „Informationsdichte“ wird es also immer zuverlässiger.
Wichtig ist für Laien, die grundsätzlich andere Sichtweise zu verstehen.
Sicher stellen sich viele das so vor, dass soundso viel Mann auf der einen Seite stehen und soundso viel Mann auf der anderen. Und wer mehr hat, gewinnt. Aber so funktioniert es eben nicht. Und die Informationen geben das auch nicht her.
Deshalb kümmere ich mich so gut wie gar nicht um solche Zahlen und weise immer darauf hin, dass wenn ich sie schon nenne, sie mit Vorsicht zu genießen sind.
Ich möchte ja eine Draufsicht und Erklärung bieten. Und dafür ist die Vogelperspektive viel entscheidender.
Und es zeigt, warum es für Laien sehr schwer ist zu entscheiden, welcher der echten oder selbsternannten Experten nun vertrauenswürdig ist. Es ist nahezu unmöglich, sich selber ein möglichst realistisches Bild zu machen.
Aber so ist es nun einmal.