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Leserfrage: IGH-Urteil über israelische Siedlungen

Ausnahmsweise über Instagram wurde ich gebeten, das „Urteil des IGH“ zu bewerten.

Die Medien titelten, dass der Internationale Gerichtshof die israelischen Siedlungen für rechtswidrig erklärt hat.
In der Breite ist die Meldung in den Medien allerdings etwas untergegangen. Im Verlauf dieses Beitrags wird klar werden, warum das wahrscheinlich so ist.

Dass ich nichts zu dem „Urteil“ gesagt habe, lag schlicht an der Relevanz. Ich lehne die Siedler ab und habe mich häufig entsprechend positioniert.
Ich hole das aber wirklich sehr gerne nach.

Das Urteil

Zunächst war das Urteil gar kein Urteil. Es hat auch keinen Prozess gegeben.
Und das ist sicher der entscheidende Grund, warum die Meldung eher im medialen Sande verlaufen ist. Die Tagesschau hat es aber ganz gut erklärt, es kam nur nicht auf die Titelseite.

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag ist ein Organ der UN.
Er kann von Mitgliedsstaaten angerufen werden und dann kommt es zu einem Verfahren. Wie jüngst Nicaragua gegen Israel (Öffnet in neuem Fenster).
Das Gericht bzw. die UN haben jedoch keine Möglichkeit, ein Urteil durchzusetzen. Es gibt ja keine UN-Polizei und man kann einen Staat nicht ins Gefängnis stecken.

Das bedeutet wiederum, dass es zwar sehr solide juristische Grundlagen gibt, aufgrund denen das Gericht urteilt. Die Urteile aber trotzdem immer auch politisch gefärbt sind.
Bei einem Verfahren sitzen beispielsweise auch immer ein Vertreter der Anklage und ein Vertreter der Verteidigung auf der Richterbank. Und ein Urteil muss so formuliert sein, dass möglichst viele Richter zustimmen.

In diesem Fall ging es aber gar nicht um ein Verfahren.

Glückwunsch, es ist ein Gutachten

Eine andere Funktion des Gerichtshofes ist, dass alle Organe der UN es um ein Gutachten bitten können.

Es ist so ein bisschen so wie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages. Der kann von Abgeordneten gebeten werden, sie über bestimmte Dinge wissenschaftlich zu informieren. Ein, wie ich finde, toller Service.

Und in diesem Fall hat die Generalversammlung der UN den Gerichtshof um ein juristisches Gutachten zu den israelischen Siedlungen im Westjordanland gebeten.
Das hat sie aber schon am 30. Dezember 2022 getan. Also weit vor 10/7 und dem Gazakrieg. Es hat damit also gar nichts zu tun. Das Gutachten hat bummelig eineinhalb Jahre gedauert.
Sicher ein weiterer Punkt, warum die Meldung in den Medien nicht so hoch aufgehängt wurde.

Der Terroranschlag der Hamas wird auch gerne mit der angeblichen „Unterdrückung“ der Palästinenser gerechtfertigt.
Tatsächlich gab es aber keine Unterdrückung im Gazastreifen. Die Siedlungen wurden 2005 einseitig von Israel geräumt, die Israelis rausgeschmissen, Palästinenser pendelten zum Arbeiten nach Israel, es gab Shopping Malls und Fast Food und die tatsächlichen Einschränkungen waren so Dinge wie die Lufthoheit.
Es geht hier also ausschließlich um das Westjordanland.

Das Ergebnis

Dieses Gutachten kommt nun zu dem Schluss, dass die israelischen Siedlungen im Westjordanland völkerrechtswidrig sind. Wenig überraschend.

Denn, so das Argument, die Israelis kommen um zu bleiben. Es ist eine de-facto Annektion. Und die ist so nicht rechtens. Gleiches gilt für Ostjerusalem, das ursprünglich ein gemeinsames Konstrukt werden sollte. (Corpus separatum)

Ich muss es entsprechend verkürzen, denn das Gutachten hat 285 Seiten. Daher stelle ich es gerne auf dem U.M. Server zum Download bereit (Öffnet in neuem Fenster).

Das Gutachten geht auch auf andere Dinge ein.
Um es einmal salopp und vereinfacht zu formulieren: Die meisten Siedler kommen aus einem nationalistischen oder strenggläubigen Umfeld. Und sie verhalten sich in den Siedlungen wie Besatzer. Zusammengefasst wird das häufig als Siedlergewalt bezeichnet.
Israel, bzw. die jetzige Regierung - die genauso gepolt ist – ahndet das nicht entsprechend. Mehr noch: Israelische Streitkräfte wurden aus anderen Teilen abgezogen, um diese Siedler zu schützen.
Auch darauf geht das Gutachten ein.

Foto: Israelische Soldaten schützen Siedler, nachdem diese vorher den Ort Deir Sharaf angegriffen haben, nachdem ein Israeli erschossen wurde. 02.11.2023

Die Diskriminierung

Ebenso geht das Gutachten auf die Diskriminierung im Westjordanland ein. Beziehungsweise stellt sie fest.

Auch da muss ich leider wieder ein großes Aber einfügen.
Selbstverständlich werden die Palästinenser im Westjordanland alleine schon durch die abgesprochene Selbstbestimmung diskriminiert.

Doch das wird in der Propaganda und auf Social Media gerne zu einer allgemeinen Diskriminierung aller Palästinenser umgedeutet. Israel sei ein „Apartheidsstaat“, liest man häufig. Und wer sich damit nicht auskennt, der glaubt das natürlich.

Tatsächlich sind etwas über 20% der israelischen Bevölkerung aber selber Araber. Also israelische Palästinenser. Und das sind keineswegs Bürger zweiter Klasse. Es gibt palästinensische Richter (u.a. auch am höchsten Gericht, das sehr wichtig ist, weil Israel nach wie vor keine Verfassung hat) und israelische Palästinenser dienen in den Streitkräften und Kämpfen gegen Palästinenser und Hisbollah.
Es wird verzerrt.

Apartheit kann es nur im eigenen Land geben. Und eigentlich auch nur in Südafrika, weil das ein Eigenname ist. Aber geschenkt.
Die Westbank ist aber nicht israelisches Territorium. Auch wenn einige das gerne hätten.

Israel hat das Westjordanland nach dem Sechstagekrieg 1967 Jordanien abgenommen und besetzt. Es war gar nicht palästinensisch, wie es hätte sein sollen. Es war 20 Jahre vorher so geplant.
Und Jordanien will es auch gar nicht wiederhaben. Jordanien mag die Palästinenser auch irgendwie nicht. Stichwort Schwarzer September (Öffnet in neuem Fenster).
Hätte Israel es damals annektiert, würde da heute vermutlich kein Hahn mehr nach krähen. Außer die Westbank-Palästinenser natürlich.
Die von Syrien eroberten Golanhöhen hat Israel 1981 annektiert. Die interessieren heute irgendwie auch keinen mehr.

Dass Israel dort aber „nur“ eine Besetzung unterhält, ist diese Siedlungspolitik laut IGH rechtswidrig.
Und der UN gibt das die Legitimation, auch den Gazastreifen als besetztes Gebiet zu beurteilen. Denn die wurden ja zusammen besetzt und sind eigentlich ein Staatskonstrukt. Obwohl seit 2005 kein einziger Israeli mehr im Gazastreifen lebt und der Gazastreifen - die Hamas - ziemlich mit der Westbank verfeindet ist. Es gab immerhin auch einen palästinensischen Bürgerkrieg, nachdem Israel da raus ist.
Dadurch kommen die ständigen Forderungen der UN zustande, dass Israel für die Bevölkerung des Gazastreifens verantwortlich sei. Von den Resolutionen (Öffnet in neuem Fenster)mal ganz abgesehen.

Man darf nicht vergessen, dass Palästina als Staat von etwa dreiviertel der Mitgliedsstaaten der UN anerkannt ist. Das Westjordanland hat eine eigene Regierung, eine eigene Rechtsprechung, eine eigene Polizei, Universitäten, Gesundheitsversorgung, Steuern und so weiter. Und der Gazastreifen hat das auch, dort ist es die Hamas.

Verwirrend, ich weiß. Aber es hängt halt alles mit allem zusammen.

Ein Gedankenexperiment

Viele Israelis lehnen die Siedlungspolitik ab. Auch das ist Thema bei den vielen und vergleichsweise riesigen Protesten gegen die Regierung Netanjahu.
Ich gebe mal ein Bild, dann wird es sicher verständlicher.

Die meisten Deutschen sind völlig mit Deutschland in seinen heutigen Grenzen zufrieden.
Nun wird Deutschland von Frankreich, Österreich und Dänemark angegriffen. Und gewinnt.
Daraufhin besetzt Deutschland Dänemark, annektiert es aber nicht.

Einige streng katholische Deutsche fangen nun an, Häuser in Dänemark zu bauen. Deutschland fühlt sich verpflichtet, sie zu beschützen. Das ist nicht ok, aber noch nicht ganz so schlimm.
Die Dänen können sich auch nicht richtig dagegen wehren, weil sie innerlich zerstritten sind.

Dann bekommt eine Partei wie die AfD bei der Wahl viele Stimmen. Um eine stabile Regierung zu bilden, schließt sie sich mit der NPD und mit zwei ultra-katholischen Parteien zusammen. Und die finden die deutschen Siedler in Dänemark natürlich klasse.
Also ziehen immer mehr Anhänger der Ultra-Katholiken nach Dänemark. Mit dem Argument, weil das ja mal Germanien war und die Dänen außerdem nicht gläubig sind.

Die Regierung beschließt dann sogar, weitere Gebiete in Dänemark für die deutschen Siedlungen freizugeben. Sie nimmt sich einfach das Recht.
Und weil der dänische Widerstand wächst, laufen die deutschen Siedler mit Sturmgewehren zum Einkaufen (in deutschen Geschäften) und beschließen einfach mal, dass dänische Bauern nur noch die Hälfte ihres Landes bewirtschaften dürfen, weil sie da einen Fahrradschuppen bauen wollen.
Die deutsche Regierung legitimiert das nicht nur. Sondern zieht deutsche Soldaten von der Grenzsicherung gegen Österreich ab.

Die meisten Deutschen denken dann natürlich: Habt ihr eigentlich den Schuss nicht gehört?
Vor allem so atheistische Typen wie ich, die Dänen kennen und mögen.

Das gibt vielleicht einen Eindruck.

Nur politisch relevant. Vielleicht.

Ein dritter Punkt, warum das nicht so groß durch die Medien gegangen ist, ist nicht diese Kleinteiligkeit. Sondern dass es eben nur ein Gutachten ist. Und somit keinerlei unmittelbare Auswirkungen hat.

Es ist politisch relevant. Aber auch nur, weil andere nun mehr Druck auf Israel ausüben können.
Entsprechende Verfahren gegen die Besetzung, ob theoretisch wie in Gaza oder real wie im Westjordanland, laufen längst und schon lange.
Und viele Staaten, selbst die mit Israel „befreundeten“, kritisieren die Siedlerpolitik. Da wird das Urteil also auch wenig ändern. Es kann jetzt halt als Argument angeführt werden.

Es bleibt abzuwarten, wie die Generalversammlung der UN nun reagiert. Ob sie aufgrund des Gutachtens irgendwas unternimmt oder Maßnahmen ergreifen wird. Oder ob Staaten wie Nicaragua - selber eine lupenreine Diktatur - oder Südafrika eine weitere Klage anstreben.
Die UN kann wenig machen. Einzig der Sicherheitsrat kann juristisch relevante Beschlüsse fassen. Und da haben die USA und die Briten ein Vetorecht.

Unterm Strich

Ich bin ziemlich sicher, die Regierung Netanjahu und der Likud Partei wird den Krieg nicht überleben. Obwohl er doch viele Sympathien hat, da er selber in der Spezialeinheit Sajeret Matkal gedient hat und sein Bruder bei der Befreiungsaktion in Entebbe 1976 getötet wurde.
Sein Großvater hieß übrigens eigentlich Mileikowsky und hat unter dem Pseudonym „Netanjahu“ Kolumnen veröffentlicht, was „von Gott gegeben“ bedeutet.

Israel ist nun einmal sehr speziell, weshalb man europäische oder nordamerikanische Einordnungen nicht direkt umlegen kann. Der Gemeinsinn ist trotz der unvergleichlichen politischen Diversität sehr groß. Und Israel ist im Grunde ein Dorf. In der Metropolregion Kairo leben fast doppelt so viele Menschen, wie in ganz Israel.

Hervorzuheben wäre exemplarisch sicherlich Bezalel Smotrich von der Partei Mafdal – HaTzionut HaDatit („Nationalreligiöse Partei – Religiöser Zionismus“), der auch nach internationalen Maßstäben als schlicht rechtsradikal einzuordnen ist. Er ist derzeit Finanzminister.

Die Demonstrationen gegen die Regierung Netanjahu waren wirklich groß. Wenn in Israel 100.000 Menschen auf die Straße gehen, ist das, als würden in Deutschland eine Millionen demonstrieren. Und das über Wochen. Und es war größer und nicht nur in Tel Aviv.
Durch den Terrorangriff wurde das gestoppt. Was vielleicht auch ein Motiv der Hamas war. Denn eine funktionierende Zivilgesellschaft, die den Friedensprozess weiterführt, kann für die radikalislamistische Hamas nur schlecht sein. Die Hamas braucht Mneschen wie Netanjahu und Smotrich.
Doch die Proteste gewinnen wieder an Kraft.

Derzeit gibt es den nächsten Streit innerhalb der Regierung.
Ultraorthodoxe waren bisher vom Wehrdienst ausgenommen. Der gesellschaftliche Druck der mehrheitlich nicht besonders religiösen Multi-Kulti-Gesellschaft wurde aber so groß, dass sie nun zum Wehrdienst müssen.
Und das schmeckt natürlich den Koalitionspartnern nicht. Vor allem zu nennen ist die Schas, gegen die ebenfalls demonstriert wurde. Sie vertritt vor allem strenggläubige, europäisch-stämmige Juden. (Sephardim, auch Aschkenasim)

Das Gutachten ist unterm Strich nur ein weiterer Stein von vielen anderen. Man darf es nicht überbewerten.
Vor allem sollte man es aber auch direkt richtig einordnen. Bevor die Social Media Propaganda wieder eine „Verurteilung Israels“ daraus macht.

Spannend finde ich persönlich, wie es in Israel aufgefasst werden wird.
Aber das bleibt abzuwarten.

Kategorie Medien und Politik

4 Kommentare

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