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Über Schatten und Licht

Kannst du sehen, wo ich sitze?

Draußen, vor dem Fenster, in der Dunkelheit einer unbestimmten Nacht.

Ich kann hineinsehen, dahin, wo das Licht ist, und ein bisschen davon fällt auch auf mich.

Doch ich sitze draußen, und das Licht brennt drinnen.

Manche von uns wandeln auf Pfaden, die dunkler sind als andere. Manche von uns haben das selbst gewählt, die meisten nicht.

Ich kannte einmal ein Mädchen, das zu viele Schmerzen in sich trug. Es wuchs in einer Wüste namens Einfamilienhaus auf, inmitten von Bergen aus buntem Spielzeug und zu wenig warmen Worten. Es hatte alles und es hatte nichts, außer die Anweisung, zu funktionieren und zu lächeln und hübsch auszusehen. Nachts, wenn die Schmerzen und die Einsamkeit an seinen kleinen Gliedern zerrten, nahm es eine Klinge und schnitt Löcher in seine Haut, um mehr Platz für die Schmerzen zu schaffen, aber egal, wie tief es schnitt, es war nie genug Platz da.

Das Mädchen zog sich bunte Kleider über die Wunden und lächelte und funktionierte, und irgendwann ging es in der Dunkelheit verloren, ohne dass es jemand merkte, denn es ließ eine lächelnde Maske zurück.

Ich kannte einmal einen Jungen, der zu viel Angst in sich trug. Er wuchs unter Feinden auf, die Eltern hießen und längst in der Dunkelheit wohnten. Ihre eigene Angst hatte sich in Wut verwandelt, die nach dem Jungen schlug, mit Peitschen aus harten Worten und mit Schlägen. Jedes Wort, jeder Schlag, fütterte seine Angst, bis sie so groß und schwer war, dass sie ihn aus seiner eigenen Haut verdrängte. Er begann sich Muskeln zu bauen, um mehr Platz zu schaffen für die Angst, aber sie wuchs schneller als sein Körper, immer schneller.

Der Junge kämpfte still und vergebens, und als er merkte, dass seine aufgeblähte Angst begann, sich in Wut zu wandeln, da floh er vor sich selbst in die Dunkelheit, und niemand merkte es, weil sein Körper groß und stark war.  

Ich kannte ein Kind, das war ich. Es wurde ins Licht geboren und dahin, wo viele gute Worte waren. Aber es hatte einen Fehler mitgebracht und das Licht tat ihm weh, mit all seinen Farben, und es blieb fremd in der Welt, egal wie sehr es sich bemühte. Angetrieben von Neugier und Verzweiflung wandte es sich ab von den erleuchteten Pfaden und rannte dort entlang, wo nicht so viel Gedränge herrscht, dort, wo die Schatten warten. Es sang und tanzte und weinte, und schließlich stolperte es und fiel mitten ins Herz der Dunkelheit. Es dauerte Jahrtausende, bis es wieder hinausfand.

Jetzt sitze ich manchmal dort, wo das Licht auf mich scheint. Ich sitze dort regungslos, aber ich tue nicht nichts. Ich fülle meine Taschen mit Helligkeit.

Wenn sie voll sind, gehe ich zurück in die Dunkelheit. Inzwischen kenne ich dort blind beinahe alle Wege. Ich suche nach dem Mädchen und dem Jungen, die zu viel Schmerz und Angst in sich tragen. Wenn ich sie finde, greife ich in meine Taschen und ziehe ein kleines Stückchen Licht heraus, das ich ihnen reiche, wenn sie möchten.

Es sind dort mehr Mädchen und Jungen unterwegs, als ich zählen kann.

Oft reicht ein Stückchen Licht nicht mehr, um sie zurückzuholen. Aber es vertreibt ganz kurz die schwarzen Schatten mit den Klauen aus Hass und den Zähnen aus Hoffnungslosigkeit, die immer Hunger haben

Manchmal komme ich dem Herz der Finsternis wieder zu nah. Dann gibt es hin und wieder jemanden, der mich dort findet und mir ein Stückchen Licht reicht. Manchmal verweigere ich es. Immer freue ich mich.

Kannst du mich sehen, wie ich da draußen sitze?

Die meisten sehen mich nicht, weil ich mich in graues Zwielicht kleide.

Vielleicht blickst du irgendwann einmal zum Fenster hinaus und siehst mich doch. Dann nicken wir uns zu und lächeln stumm.

In der unbestimmten Nacht ist ein Lächeln wie ein Stern und Worte fallen ungehört ins Nirgendwo.

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Kategorie Trotzigschön

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