Die Hintertür darf sich schließen
Biografische Empowermentarbeit wird oft unterschätzt oder missverstanden. Wir ahnen vielleicht, dass biografische Empowermentprozesse uns von einem sehr verletzten Ort abholen. Wir ahnen jedoch selten, dass biografische Empowermentarbeit uns zu unseren größten Verletzungen führt. Wir ahnen auch nicht, dass Empowermentarbeit unsere größte Verletzlichkeit offenbart.
Wir begeben uns oft in einen Empowermentprozess, wenn wir uns in einem Vakuum befinden, in dem vieles noch unbeschrieben und unbeschreibbar ist. Noch nicht fassbar. Es kann sein, dass wir bereits ein Bewusstsein haben, dass mensch über eigene rassistische Diskriminierungserfahrungen verfügt. Gleichzeitig kann es sein, dass noch kein Bewusstsein dafür da ist, dass diese Erfahrungen Gewalterfahrungen sind. Es kann sein, dass dein Wissen über Rassismuserfahrungen noch von Zweifeln behaftet ist. Dass du noch nach Sicherheit suchst, ob dein Erleben von Rassismus als Gewalt die etwas mit dir macht berechtigt oder wahr ist oder doch nur ein Einbildung.
Rassismus als Ideologie ist so konstruiert, dass sie uns an der Wahrhaftigkeit unseres Erlebens zweifeln lässt. Kern der Ideologie ist eine Lüge: Die Lüge, dass Menschenleben unterschiedliche Wertigkeiten haben. Diese Lüge wurde und wird mit aller Gewalt durchgesetzt. Die wiederholte Missachtung der Menschenwürde führt zu massiven Verletzungen an Körper, Geist und Seele. In Empowermentprozessen werden die Auswirkungen dieser Lüge auf uns, unsere Familiengeschichten, unsere Wahrnehmung der Welt etc. mit voller Wucht ins Bewusstsein geholt. Einerseits, indem ich mich an eigene Erfahrungen erinnere und diese artikuliere. Andererseits, indem ich die Erfahrungen anderer bezeuge. Zahlreiche biografische Erzählungen, die Rassismus dokumentieren und bisher unerzählt und vereinzelt waren, versammeln sich im Empowermentraum. Der Austausch über Rassismuserfahrungen setzt wie aus vielen Puzzleteilen ein Bild zusammen, das – sobald es komplett ist – einen beachtlichen Ausschnitt der Monstrosität von Rassismus offenbart.
Wir erkennen, dass wir einer Lüge aufgesessen sind. Wir realisieren, dass wir immer schon fühlten, dass das eine Lüge ist. Wir stellen fest, dass wir immer wieder darüber belogen wurden, dass unser Gefühl richtig ist. Wir nehmen wahr, was das alles mit uns gemacht hat. Wir fühlen all den Schmerz.
Biografische Empowermentarbeit ist der Moment, in dem alles zusammenkommt. Vergangenheit und Zukunft, Erlebtes und Antizipiertes, Verarbeitetes und Unverarbeitetes, bereits Gefühltes und noch nicht Gefühltes, Wissen, Analyse, Ohnmacht, Unsicherheit, Schmerz, Trauer und Wut. Doch die Zweifel an der Wahrhaftigkeit unserer Erfahrungen, Gefühle und Empfindungen angesichts dieser rassistischen Gewalt sitzen tief. Solange ich Zweifel habe, dass das was ich erlebe und empfinde wahr ist, steht die Hintertür offen. Sie erlaubt mir, die Gefühle und Empfindungen zu vermeiden. Wenn du den Zweifel auflöst, wenn du die Funktion der Lüge erkennst und wenn dein Vertrauen in deine Wahrnehmung durch den Austausch gestärkt wird darf sich die lieb gewonnenen und lange Zeit als kraftvolle Überlebensstrategie funktionierende Hintertür schließen. Dann ist der Moment, deinen Gefühlen und Empfindungen Raum zu geben. Dann darf Heilung passieren.
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