Liebe Abonnent_innen,
vielen Dank, dass ihr mich in diesem Jahr als Leser_innen und Gesprächspartner_innen begleitet habt oder sogar erst vor Kurzem als Abonnent_in hinzugekommen seid. Diesen Newsletter zu beginnen und so viel Unterstützung dabei zu erfahren durch Menschen, die ein Steady-Abo abgeschlossen haben, war eine der sehr schönen, neuen und überraschenden Erfahrungen in diesem Jahr und ich freue mich darauf, das Projekt fortzusetzen und zu schauen, in welche Richtung es sich entwickeln wird – gemeinsam mit all den Dingen, die um uns herum geschehen.
Ich freue mich vor allem deswegen, weil ich den Newsletter nicht mit der Intention gestartet hatte, dass möglichst viele Menschen ihn lesen und abonnieren, sondern zunächst erstmal für mich als Autorin, die sich nach einem Format jenseits von Twitter und stärker umgerissener journalistischer Formen gesehnt hat, um die Zwischenzeit_en in den Übergängen von Davor-Zeit, Pandemie und das, was danach kommen wird, für mich schreibend zu durchleben. Ein persönliches Tagebuch für meine Schublade wäre dafür jedoch nicht das richtige Format gewesen, auch wenn ich manchmal gern die Fähigkeit und das Durchhaltevermögen hätte, eines zu schreiben. Ich erinnere noch, wie zu Beginn der Pandemie Nils Minkmar (der selbst einen Newsletter (Öffnet in neuem Fenster) hat, den ich sehr gern lese), einmal twitterte, man solle über diese Zeiten Tagebuch führen, da wie man selbst darüber gedacht hat, was man erlebt hat, rückblickend einmal interessant werden könnte. Ich mochte diese Anregung, empfand sie sogar als fürsorglichen Ratschlag, da ich so viele Dinge aus meinem Leben gern genauer erinnern oder nachvollziehen würde, aber es nicht kann, da ich nach meinen Teenager-Jahren nicht mehr Tagebuch geschrieben habe, die Brieffreund_innenschaften ausliefen und mein eigenes Erinnerungsvermögen nicht reicht. Doch mein Vorhaben, zumindest jeden Abend seit Pandemie-Beginn einen einzigen Satz zu schreiben in den schmalen Rahmen eines Wochenplaners aus Papier scheiterte daran, dass ich mit einem gerade geborenen Baby zu müde war und keinen Rhythmus hatte. (Der Plan, diesen Newsletter in einer Stunde am Sonntagabend zu schreiben, scheiterte übrigens auch an Müdigkeit. Er entsteht jetzt tagsüber. Dieser hier während des Mittagsschlafs des Babys.)
Monate später, zu einem Zeitpunkt, an dem ich theoretisch zumindest ein oder zwei Sätze zustande gebracht hätte, stieß mich die Idee, ein Pandemie-Tagebuch zu führen außerdem ab, da nur für mich allein zu schreiben mein Gefühl der Isolation und Einsamkeit verstärkt hätte. Ein Tagebuch ist für mich ein Rückzugsort, um sich nach hektischen, dichten und anstrengenden Tagen auf die eigenen Gedanken besinnen zu können und dem nachzuspüren, was unter der Lautstärke des Alltags begraben liegt. Aber der Alltag war ja bereits entschleunigt, leise und vor allem repetitiv. Hätte ich Tagebuch geführt, sähe es heute wohl aus wie meine Telefon- und Zoom-Zeichnungen: gefüllt mit Spiralen. Einen Newsletter zu schreiben konnte für mich diese Einsamkeit durch den Trick aufbrechen, dass zumindest eine Chance bestehen würde, dass jemand mitliest, mitfühlt, weiterdenkt. Eine zeitversetzte Co-Präsenz. Und – auch wenn man es manchen Texten in den letzten Monaten vielleicht nicht angemerkt hat – zog mich der Auftrag zu schreiben auch aus dem Pandemie-Pessimismus heraus: Statt kreisenden Gedanken nachzugehen, wie sehr ich auf all das keine Lust mehr habe und wie es mich auslaugt, verordnete ich mir selbst, so lange nachzudenken, bis ich einige Sätze darüber schreiben konnte. Zumindest alle zwei Wochen.
Ich las Texte anderer Autor_innen und Journalist_innen und bewunderte sie dafür, wie sie über ganz andere Themen nachdenken konnten als die Pandemie. Aber vielleicht stimmte das auch gar nicht. Vielleicht dachten sie auch permanent darüber nach und haben sich jeden anderen Text abgerungen und in den Minuten notiert, in denen ihre Gedanken kurz einmal frei waren. Ich beneide erst recht nicht die Kolleg_innen in den Wissenschaftsredaktionen, die sich jeden Tag mit der Pandemie beschäftigen müssen und schon allein deshalb wenig Spielraum haben, eine Gedanken_Pause von der Pandemie zu machen. Das Personal im Gesundheitswesen hat diese Pausen weder körperlich noch geistig.
Vielleicht sind es zudem besondere Lebensumstände, die einigen Menschen erlauben, frei_er nachzudenken. Für Erwachsene in ihrem Haus auf dem Land entwickelt sich und endet die Pandemie auf andere Weise als für Menschen, die in einer Stadt wohnen, auf die U-Bahn angewiesen sind, Kinder in Kitas oder der Schule haben oder ein Familienmitglied im Pflegeheim. Wer das eigene Kind drei Mal die Woche morgens beim Corona-Test begleitet, vergisst eigentlich nie, dass das Virus noch da ist. Noch immer versuchen wir, dass Testen unseres fast zweijährigen Kindes so zu gestalten, dass wir ein Ergebnis bekommen, dem wir trauen können. Nehmen wir einen Nasenabstrich, hält das andere Elternteil das Kind fest und es tut mir jedes Mal leid und fühlt sich für mich wie eine Grenzverletzung an. Die Lollitests, wie wir auf eigene Kosten gekauft haben, funktionieren kaum besser. Ein Kleinkind versteht nicht, warum es auf einem geschmacklosen Stäbchen lutschen soll. Es hat mehrere der Tests durchgebissen oder auf andere Weise zerstört. Jemand erzählte mir kürzlich, er habe daher versucht, bei seinem schlafenden Kind einen Nasenabstrich zu nehmen. Wir musste beide lachen, da dieses Vorhaben natürlich zum Scheitern verurteilt war.
Da die Pandemie unbeeindruckt von unseren Wünschen ihren Weg nimmt, sind Vorsätze für das neue Jahr obsolet und auch das Vorhaben, offen und frisch in es hineinzugehen. Vielleicht ist das jedes Jahr so, weil das alte Jahr eben nicht auf magische Weise endet und all das, was man selbst in den Monaten zuvor angestoßen hat, ebenso nicht unterbrochen wird. Und doch bietet der Jahreswechsel in einer Pandemie noch einmal weniger Raum, bestimmte Verhaltensweise grundlegend zu verändern. Nicht einmal für wenige Tage. Wir müssen uns weiterhin in den teils verordneten und teils selbst auferlegten Einschränkungen der Pandemie bewegen. Nach dem Jahreswechsel jeden Tag ins Fitnessstudio? Öfter mit Partner_innen oder Freund_innen essen gehen? Nicht mehr so viel arbeiten? Erste Studien zum Home-Office zeigen, dass Menschen Zuhause oft mehr Überstunden machen und noch öfter auf Pausen verzichten. Achtet mal drauf. Gute Vorsätze – über deren Sinnhaftigkeit sich ohnehin streiten lässt – müssen wir wohl tatsächlich auf ,nach der Pandemie‘ verschieben.
Ist weniger aufregen, weniger Sorgen machen ein praktikabler Vorsatz? Ich mache seit einigen Tagen wieder eine Twitter-Pause und es tut mir gut. Ich vermisse die Themen und Nachrichten nicht, lediglich die soziale Ebene, die sich über den Austausch mit anderen Menschen ergibt.
Für mich war die wichtigste Erkenntnis über mich selbst in diesem Jahr, dass ich offenbar viel weniger introvertiert bin, als ich bislang über mich glaubte. Oder dass ich der Typ introvertierte Person bin, der gern unter Menschen ist, ohne dabei selbst viel zu sagen. Ich bin gern in der Gesellschaft anderer Menschen, höre zu, beobachte, nehme Alltagsszenen mit, um sie mir selbst weiterzuerzählen. Wir erleben uns selbst, indem wir uns in größere Bezüge einbetten, ohne dies absichtsvoll oder bewusst zu tun. Die Anwesenheit anderer Menschen macht etwas mit uns, selbst wenn wir mit ihnen nicht in Kontakt treten, so wie beispielsweise in einem Restaurant, indem man vielleicht Gesprächsfetzen aufschnappt oder nicht einmal das, sondern nur visuelle Eindrücke aufsaugt. Als Begriff für das, was ich meine, fällt mir gerade nur die englische Formulierung „glimpse at other people‘s life“ ein: einen Blick erhaschen auf das Leben anderer Menschen. Dieser Blick hat für mich nichts Voyeuristisches, sondern ist lediglich die bislang so normale Alltagserfahrung, die mir das Gefühl gibt, Teil dieser Welt zu sein. Fällt diese Erfahrung weg, ruht zu viel Aufmerksamkeit – mehr als mir guttut – auf mir selbst. Vielleicht hilft uns der physisch geteilte Alltag, eine gesunde Distanz zu uns selbst zu behalten.
Digital funktioniert genau das nicht, da digitale Begegnungen nicht zufällig sind und nicht flüchtig, sondern geplant. Sie verlangen viel Konzentration. Mit jedem Zoom-Meeting mehr fühlte ich, wie die Ränder meines Bildausschnittes wie einen kleiner und stickiger werdenden Käfig näher rückten. Digitale Kommunikation kann selbst dann, wenn wir über Gefühle sprechen und miteinander offen sind, das Nonverbale kaum ersetzen. In welcher Körperhaltung jemand über den Flur geht, wie er atmet, wie unausgeschlafen jemand wirklich aussieht, merken wir über den Bildschirm nicht.
Das war meine zweite Erkenntnis über mich selbst: Obwohl ich mich seit Jahren für den Wert von digitaler Teilhabe stark mache und glaube, dass sie uns auch näher zusammenbringen kann und ein Tor zur Welt ist, hat sie Grenzen. Sie enthält uns Dinge vor, auf die wir essentiell angewiesen sind. Auf die Einladung zu einer Zoom-Weihnachtsfeier, die ich vor ein paar Wochen bekam, klickte ich umgehend auf ,ablehnen‘, da sich während mein Hirn diese Information verarbeitete, umgehend mein Magen zusammenzog. Wenn ihr gerade Kolleg_innen verabschiedet oder willkommen heißt, vielleicht, weil sie das Unternehmen verlassen, neu zu euch ins Team kommen oder in Elternzeit gehen, lasst euch etwas wirklich Spezielles und Schönes für sie einfallen. Trefft sie draußen, wenn es irgendwie geht. Aber lasst sie an einem solch wichtigen Tag nicht vor einem Bildschirm allein. Manche Umarmungen sind wichtiger als andere.
Alles Liebe für euch an diesem ersten Tag im neuen Jahr & bis bald
Teresa
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Als kleine Tradition schenke ich mir zu Weihnachten selbst ein Bild einer (jungen) Künstlerin, um sie zu unterstützen. Dieses Jahr habe ich lange vor den Bildern der italienischen Malerin Lara Messina (Öffnet in neuem Fenster) gesessen und es fiel mir schwer, ein Motiv auszuwählen, da ici viele sehr mochte. Schließlich habe ich anhand des Titels entschieden und ihr Motiv „Bad Year“ gekauft, damit 2022 ein gutes Jahr werden kann und ich die zurückliegende Zeit mit diesem Werk für mich emotional archiviere. Ob es klappen wird? Das Bild ist jedenfalls nicht traurig, sondern voller Leben. Denn auch in schlechten Jahren steckt sehr viel drin, auf das wir später anders zurückblicken können.
Rolemodels-Podcast (Öffnet in neuem Fenster)mit mir über meinen Jahresrückblick im Gespräch mit Isa Sonnenfeld und David Noel.
(Spotify-Link (Öffnet in neuem Fenster))
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