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Zarte, kraftvolle Normalitäten

Dieser Newsletter erscheint aktuell etwas seltener als es mir lieb ist, da sich privat bei mir ein paar Dinge verändert haben und der Alltag sich nach und nach neu ordnet – und als es dann gerade etwas ruhiger wurde, ist vor Kurzem bei uns im Haus eine andere Wohnung ausgebrannt. In meiner ist zwar alles heil geblieben, allerdings ist Rauch und Ruß, der unter Türen durchzieht, auch kein Spaß, wir leben mit permanentem Lagerfeuergeruch und ich habe in den letzten zwei Wochen etwa mein Wasch- und Putzpensum des ganzen Jahres einmal oben drauf gelegt – zulasten meines Schreibpensums. Sollten hier Menschen aus den Hochwassergebieten mitlesen sowie andere, die völlig unerwartet von noch mehr Care und Alltagsorganisation überrannt wurden: I feel you.

Bis der nächste Text für Zwischenzeit_en bald erscheint (ein paar Ideen hab ich schon), gibt es daher hier meinen re:publica-Vortrag vom 28. Mai als Text. Wer lieber hört und schaut: Die Video-Aufzeichung gibt es auch bereits. Plus Hinweise auf Online- und Vor-Ort-Lesungen und Gespräche am Ende des Newsletters.

Bis bald
Teresa

Zeitgerechtigkeit ist keine Utopie

Nichts ist so einfach, wie heute als radikale Denker_in zu gelten oder eine utopische Idee zu haben. Es reicht aktuell aus, den Status-quo lediglich vorsichtig zu hinterfragen und dafür zu plädieren, einen Schritt nach vorn zu gehen. Es reicht aus, Zutrauen in eine gerechtere Zukunft zu haben, um als naive Träumer_in zu gelten.

Als Realist_innen gelten heute diejenigen, die sich nicht vorstellen wollen, dass wir auf eine andere Art miteinander umgehen können: Zugewandter, mutiger, solidarischer und fürsorglicher. Die vermeintlich realistische Analyse der Gegenwart ist pessimistisch, ängstlich, egoistisch und verhärtet. Die vermeintlich realistische Analyse traut sich selbst und den anderen nichts zu – ganz besonders nichts Gutes.

Wollen wir mit diesem Menschenbild die Gegenwart verstehen und unsere Zukunft planen?

Wenn ihr euch in diesem Raum umblickt, euch anschaut, den Blick erwidert, traut ihr einander nichts zu? Traust du dir selbst? Welchen Menschen vertraust du? Und warum?

Als ich vor einigen Wochen bei einer Gewerkschaft einen Vortrag über Zeitgerechtigkeit hielt, fragte mich im Anschluss eine Person aus dem Publikum: „Woher nimmst du den Mut, diese großen Forderungen zu stellen?“

Ich war überrascht. Ich habe meine Analysen zur herrschenden Zeitkultur und die entsprechenden Schlussfolgerungen für eine andere Zeitpolitik bislang nicht als mutig verstanden. Sie erscheinen mir logisch und richtig, zum einen, weil ich anhand von Zahlen nachweisen kann, dass die Art und Weise, wie bestehende politische und gesellschaftliche Strukturen den Zugriff auf die eigene Zeit einschränken, höchst ungerecht ist und Machtgefälle zementiert.

Ohne eine radikale Zeitpolitik, die neu organisiert, für was Menschen ihre Zeit verwenden können, ist eine gerechte und freie Welt unerreichbar.

Zum anderen halte ich meine Analyse zur Zeitpolitik nicht für mutig, sondern für logisch und anschlussfähig, weil meine Analyse entlang von Werten geschieht, die nicht nur mir persönlich wichtig sind, sondern weil sie als geteilte Werte unserer Gesellschaft gelten. Gleichberechtigung ist einer dieser Werte – abgesichert über das Grundgesetz – Freiheit ein anderer. Und darüber hinaus eine möglichst inklusive und partizipative Demokratie.

Wir müssen als demokratische Gesellschaft die Frage beantworten, unter welchen Voraussetzungen unsere Demokratie lebendig bleibt oder wird und überlebt. Eine Demokratie, an der wirklich alle teilhaben können.

Hinzu kommt: Nichts ist Menschen in Deutschland so wichtig wie gute Freund_innen zu haben, sowie möglichst lange gesund zu bleiben. Nimmt man also ernst, welche Werte innerhalb einer Gesellschaft breit geteilt werden, kann ich daraus sehr klar ableiten, dass Zeitpolitik ein notwendiges politisches Feld ist, dass fragt und auflöst, wie unsere wichtigsten Werte von möglichst vielen Menschen gelebt werden können.

Ohne diese Zeitpolitik, die ich fordere, leben wir in einem anhaltenden Widerspruch zu unseren Werten. Dieser Konflikt entfremdet uns voneinander und von der Welt.

https://www.youtube.com/watch?v=qJkNBCXG-gA (Öffnet in neuem Fenster)

Indem man Menschen zu viele Aufgaben überträgt, die sie nicht verweigern können, so wie es Care-Personen geschieht oder Menschen in prekär bezahlten Jobs, nimmt man ihnen die Möglichkeit, sich über den Alltag ihrer Pflichten hinaus für etwas anderes, das sie wichtig finden, zu interessieren.

Wer nicht einmal Zeit zum Nachdenken hat, dem fehlt erst recht die Macht, etwas zu verändern. Die Verdrängung von Sorgepersonen und Kindern aus der öffentlichen Sphäre, insbesondere der Ausschluss von Müttern, den Feminist_innen seit Jahrzehnten kritisieren, steht im Widerspruch zur Idee der lebendigen Demokratie.

Ein politischer Diskurs, der ohne die Menschen auskommt, die über Fürsorge das Fundament unserer Gesellschaft legen, ist eine kümmerliche Gesprächsrunde. Ein solcher Diskurs hat keine Aussagekraft über die Welt. Das ist keine Politik für alle.

Wir können nicht über unsere Gesellschaft reden, wenn wir ausblenden, wie wir geboren werden, aufwachsen und wie wir sterben. Wir müssen Sorgebeziehungen als gesellschaftliches Fundament wieder politisieren.

Und: Wir müssen in gesellschaftlichen Debatten immer wieder herausarbeiten, warum wir uns für demokratische Politik entschieden haben und was wir mit ihr erreichen wollen.

Wissen wir das aktuell?

Eine Zeitpolitik, die sowohl Zeitwohlstand als auch Zeitgerechtigkeit in den Blick nimmt, ist Politik für die Breite der Gesellschaft, die diese deutlich krisenfester, resilienter und innovativer machen würde als die derzeitige Politik es kann. Sie sichert die Demokratie. Zeitpolitik nicht grundlegend neu anzugehen, erscheint mir politisch fahrlässig.

Warum aber wird die Forderung nach einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung und nach einer Zeitkultur, die Aufgaben wie Care, Zeit zum Denken und Lernen, Engagement, Ehrenamt gleichwertig mit einbeziehen will, oft als utopisch bezeichnet?

Wenn Ideen für gesellschaftliche Veränderungen als Utopie bezeichnet werden, ist das ein Versuch, ihnen das Politische zu entreißen und diejenigen, die sie formulieren, als Träumer_innen zu delegitimieren. Indem Utopien als etwas Unerreichbares, zu Großes und weit in der Zukunft Liegendes interpretiert werden, gefährden sie die Machtverhältnisse nicht. Sie sind ja nicht greifbar, sie sind zu weit entfernt.

Zudem klingt »das ist utopisch« eleganter als »Freiheit für Frauen« unterstütze ich nicht. Denn die Forderung nach einer Vier-Tage-Woche ist im Kern ein feministisches Projekt.

Sie fordert heraus, wie die Mehrheit der cis Männer bislang lebt – mit überlangen Erwerbsarbeitszeiten und der Ausbeutung von Care – und setzt ein inklusiveres Modell für Erwerbsarbeit dagegen. Die Forderung der allgemeinen Arbeitszeitverkürzung ist ein Angriff auf die patriarchale Lebensweise. Sie denkt Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen mit.

Feministische Interventionen wollen stets etwas Neues, Freies und Offenes in die Welt bringen. Zeit ist ein Thema, das alte Macht aufbrechen kann und ein Anliegen feministischer Bewegungen erfüllt: Möglichst vielen Menschen mehr Handlungsoptionen und damit neue Freiheitsgrade eines selbstbestimmten Lebens bieten.

Zeitpolitik ist bislang wenig bekannt und wird abgewehrt, weil sie bisherige Machtverhältnisse transformieren will. Die Verteidiger einer alten Ordnung haben ein nachvollziehbares Interesse daran, dass Zeitpolitik sich nicht als Politikfeld etabliert.

Zeit gerecht zu verteilen ist ein weiterer emanzipativer Schritt und ein radikales Projekt. Zeitpolitik bringt die Welt durcheinander, bevor durch sie mehr Gerechtigkeit entsteht.

Etwas als Utopie zu bezeichnen steht dafür, sich einer ernsthaften politischen Auseinandersetzung mit einer Idee zu verweigern. Auch aus dem Grund, weil die Gegner_innen einer Idee mit sachlichen Argumenten nicht gegen sie ankommen würden. Labelt man etwas als Utopie, braucht man keine differenzierte Argumentation gegen sie. Der Begriff der Utopie wird dann missbraucht als Machtmittel, um bereits die Diskussion über gesellschaftlichen Wandel zu verhindern.

Ein Beispiel: Eine Neuverteilung der Arbeitszeiten – das ist der Kern der Arbeitszeitverkürzung: Arbeit neu und gerecht zu verteilen, nicht insgesamt weniger zu arbeiten – ist u.a. notwendig dafür, Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen zu erreichen und prekäre Beschäftigung abzuschaffen.

Eine 30- oder 25-Stunden-Woche für alle als unerreichbar zu bezeichnen, die Forderung mit Drohkulissen des Wirtschaftskollaps zu kontern, beantwortet jedoch die Frage nicht, wie Gleichberechtigung, Equal-Care und existenzsichernde Löhne dann erreicht werden sollen. Oder in welcher Zeit Engagement gegen Rechtsextremismus geschehen soll.

Hier zeigt sich eine argumentative Verweigerung.

Utopie ist der hübsch klingende Shortcut, einer differenzierten Antwort auszuweichen und zeigen zu müssen, keine eigenen Ideen für Gleichberechtigung und gute Arbeit für alle zu haben.

Spoiler an dieser Stelle: Der Ausbau von Kitas, Hortbetreuung und Pflege sind keine durchdringende Lösung für ein gleichberechtigtes Leben, u.a. deswegen, weil der bedarfsgerechte Ausbau jahrzehnteweit entfernt ist.

Im bisherigen Ausbau hat sich gezeigt hat, dass die Qualität der bezahlten Care-Aufgaben sowie die Arbeitsbedingungen der Fachkräfte schlechter werden. Die wachsende Nachfrage nach professioneller Care-Arbeit hat den Sektor nicht aufgewertet. Der Care-Krise wird aktuell so gut wie nichts entgegengesetzt, weil ihre Dimension politisch bisher nicht verstanden wird. Das liegt auch daran, dass Gleichberechtigung im Werteset des politischen Raums keinen Ausschlag gibt. Wir füllen den Wert der Gleichberechtigung derzeit nicht mit Leben. Und das nach 75 Jahren Grundgesetz.

Wer Gleichstellung absehbar erreichen will, kommt an einer neuen, kürzeren Vollzeitnorm nicht vorbei.

Das heißt auch, dass alle Parteien, die glaubhaft für Gleichberechtigung eintreten wollen, zeitpolitische Antworten haben müssen, die jetzt umgesetzt werden können.

Während das Label der Utopie problematisch sein kann, ist das Denken in Utopien hingegen gutes Werkzeug für gesellschaftlichen Wandel. Utopien sind hilfreich dafür, die Gegenwart zu verstehen. Die in einer Utopie formulierten Sehnsüchte erzählen etwas über den Ort und die Zeit, in der sie entstehen. Das, was wir uns für die Zukunft wünschen und vorstellen können, ist eine Reaktion auf das, was wir bereits kennen. Utopien beziehen sich auf Einschränkungen und Nöte, die wir am liebsten heute noch loswerden wollen. Medizinische Forschung ist etwa davon motiviert, Krebs zu besiegen. In Utopien steckt echte politische Kraft. Viele Utopien sind keine fantastischen und unerreichbaren Gebilde, sondern Ausdruck von Bedürfnissen, die Menschen real verspüren, die nachvollziehbar und angemessen sind.

Utopien stehen sehr oft für realistisches, vor allem aber für zugewandtes Denken:

Sie sind Ideen von Menschen, die nicht aufgehört haben, aneinander zu glauben. Die sich und anderen – der Gesellschaft – zutrauen, Werte wie Gerechtigkeit und Solidarität nicht nur rhetorisch zu bedienen, sondern sie mit Leben zu füllen. Utopien – wie die der zeitgerechten Welt – sind ein Vertrauensvorschuss an andere Menschen.

Wir kennen Phasen im Leben, in denen die Zeit reicht für die Dinge, die uns am Herzen liegen und sowohl uns selbst, als auch unser soziales Umfeld in Balance halten. Wir kennen Phasen, in denen wir Zeit haben zum Lernen, Nachdenken, Neues ausdenken. Wir kennen Momente, in denen wir Zeit haben, uns zu verlieben. Uns um andere zu kümmern. Zeiten, in denen andere sich um uns gekümmert haben.

Viele Menschen kennen diese anderen, zarten, kraftvollen Normalitäten – die bereits Wirklichkeit waren. Diese Normalitäten sind kein Science-Fiction, sondern ein klar umrissenes Bild eines guten und erfüllten Lebens in Verbindung mit anderen Menschen.

Wir haben Umrisse dieses Lebens bereits gespürt. Die Utopie des Zeitwohlstands ist nicht deswegen motivierend, weil es ein leichtes und bequemes Leben wäre, sondern weil es das Leben ist, das uns in Verbindung mit den Werten bringt, die wir erlernt haben und weitergeben. Und weil diese Utopie die Entfremdung, die wir von uns selbst und von anderen spüren, auflöst.

Eine Gesellschaft, in der Zeit reich und gerecht verteilt ist, ist eine vertraute Welt, die wir intuitiv verstehen und die allen Menschen die Möglichkeit gibt, sich selbst sowie andere Menschen umfassend kennenzulernen. Sie bringt uns in Kontakt damit, was uns als Menschen ausmacht. Die zeitgerechte Welt gibt uns Klarheit und Orientierung zurück. Auch deswegen ist sie für bestehende Machtverhältnisse gefährlich.

Denn nicht, dass wir effizient arbeiten können, ist die wichtigste menschliche Qualität, sondern die, dass wir dafür Sorge tragen, dass alle Menschen würdevoll leben können, egal, wie sehr sie sich unterscheiden.

Utopien können den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken, wenn die Wege zu ihnen verständlich, erweiterbar und inklusiv sind.

Die Philosophin Ruth Levitas hat Utopien nicht als Ziel, sondern als Methode beschrieben, bei der »provisorische Versionen einer besseren Zukunft« gemeinschaftlich verhandelt werden müssten und Scheitern dazugehöre.

Groß denken, Aufgaben teilen, offen sein, die Zwischenstufen wertschätzen, ohne sich zu sehr auf ihnen auszuruhen – Utopien können uns leiten, den Weg dorthin müssen wir konkret, täglich und gemeinschaftlich organisieren.

Im politischen Diskurs sind Menschen immer wieder damit vertröstet worden, dass sich gesellschaftlicher Fortschritt von allein einstellen wird. Magisches Denken statt Politik.

Darauf hat die britische Planungsprofessorin Clara Greed (Öffnet in neuem Fenster)hingewiesen, die sich mit Zukunftsvisionen für Städte beschäftigt, in denen alle Menschen gut leben können. Menschen, die in einem bestimmten Bereich über die meiste Macht verfügen, so Greed, verweisen oft auf eine Zukunft, in der sich Fortschritt und Gerechtigkeit von selbst einstellen würden, damit sie selbst nicht handeln müssen und Ungerechtigkeiten aufrechterhalten können.

Wir kennen diese Taktik aus aktuellen politischen Diskursen in Deutschland, in denen es zum Beispiel heißt, Gleichberechtigung stelle sich mit der Zeit von selbst ein, wir seien quasi morgen da, oder die technologischen Lösungen für eine CO2-Reduktion in der Atmosphäre würden übermorgen erfunden. Politische Lösungen werden mit dieser Taktik bewusst hinausgezögert.

Die Aufforderung zum Warten auf die überraschenden Lösungen ist eine Machtstrategie derer, die keine Veränderung wollen und wissen, dass sie für politische Ziele wie Gleichberechtigung oder Klimaschutz jetzt bessere politische Lösungen entwickeln müssten. Lösungen, die eventuell schwieriger zu vermitteln sind, da Menschen für sie einen Teil ihrer Privilegien aufgeben müssten und die notwendigen Veränderungen ein wenig unbequem wären.

Greed plädiert dafür, Diskurse über von Zauberhand eintretende blühende Zukünfte kritischer zu sehen und stattdessen mit konkreten Vorhaben zu beginnen: „Auf die Revolution zu warten ist keine Politik. […] Wir müssen unsere eigenen Realitäten erschaffen. […] Wir alle können uns Dinge vorstellen und planen. Das ist nicht egoistisch und wird nicht zu Brüchen führen, da wir die Gesellschaft sind.“ 

Ihre Analyse für eine inklusivere Stadtplanung lässt sich auf Zeitpolitik übertragen. Denn die Zukunftsprognosen, dass wir einmal in freier Zeit schwimmen und nur noch sehr wenig arbeiten würden, haben sich auch deswegen nicht in die Realität übersetzt, weil wir uns zu sehr darauf verlassen haben, dieser Wandel würde plötzlich geschehen oder von selbst angestoßen werden – durch technologischen Fortschritt, wachsenden Wohlstand.

Die Triebkräfte aber sind wir.

Wie Zeit unsere Gesellschaft ordnet, haben Menschen entschieden, wir bringen die gegenwärtige Zeitordnung durch Alltagspraktiken jeden Tag mit hervor.

In einem ihrer Texte beschreibt die Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp die „Politik des Alltäglichen“ (Öffnet in neuem Fenster)und zeichnet nach, wie die Frauenbewegung der 70er-Jahre in Deutschland damit erfolgreich war:

„Die Frauenbewegung hat genau auf diese Weise das Geschlechterverhältnis in Europa nachhaltig umgekrempelt: nicht durch die eine große Revolte, sondern durch beständige Modifikationen des Bestehenden. Es gab natürlich auch theoretische Texte und originelle Ideen Einzelner, aber die wurden dann am Küchentisch und im Frauenzentrum diskutiert, woraus manchmal neue Texte und Ideen hervorgingen, viel öfter aber konkrete Veränderungen, die nach und nach im persönlichen Alltag Realität wurden: Frauen trennten sich aus unguten Beziehungen, führten neue Verhandlungen über die Aufteilung der Hausarbeit, wechselten ihren Kleidungsstil, suchten sich andere Berufe… alles kleine Modifikationen, die in der Summe eine enorme gesellschaftliche Veränderung bewirkt haben.“

Unseren Alltag zu verändern ist eine wirkmächtige Form der Politik.

Weil die Verteilung von Zeit auch ein Ergebnis politischer Übereinkünfte ist, ist sie politisch verhandelbar:

Wir können unsere Zeitkultur diskutieren und sie kritisieren, sie neu denken, sie selbstbewusst einfordern und Neues praktizieren, wo es möglich ist.

Warten verändert nichts. Macht muss herausgefordert werden, indem man sich für etwas zusammentut.

Für ein politisches Verständnis von Zeit ist die wichtigste Erkenntnis: Zeit dehnt sich aus, wenn wir uns auf andere einlassen. Eine Gesellschaft, die uns in die Vereinzelung treibt, schränkt die Macht ein, die in unserer Zeit steckt. Macht »entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen«, schreibt Hannah Arendt.

Zu oft glauben wir, keine Zeit zu haben, um engagiert zu sein, aber wir müssen genau das tun:

So viel Zeit miteinander verbringen, wie wir brauchen, um wieder gemeinsam handlungsfähig zu sein. Diese Zeit müssen wir erkämpfen und verteidigen.

Damit uns die Zeit für Engagement zugänglich wird, müssen wir uns bewusst werden, dass politisches Engagement eine Form notwendiger gesellschaftlicher Sorgearbeit ist. Wir schöpfen unseren vollen Handlungsspielraum – unsere Freiheit – darüber aus, dass die Welt uns etwas angeht und wir uns einbringen.

Mir wurde neulich einmal im Gespräch von einem Mann gesagt, es gäbe aktuell keinen Freiheitsbegriff, der die neoliberale Umdeutung der Freiheit, der schnelles Auto-Fahren und Egoismus meint, kontern könne. Was soll ich sagen? Feministische Denkerinnen bieten Diskurse über Freiheit en masse an. Nicht nur Eva von Redecker (Öffnet in neuem Fenster), mein Buch, sondern auch Joan Tronto (Öffnet in neuem Fenster), die schreibt:

»Eine wirklich freie Gesellschaft gibt Menschen die Freiheit, sich zu kümmern. Eine wirklich freie Gesellschaft gibt Menschen die gleichen Chancen, dass sie gut umsorgt werden und fürsorgliche Beziehungen eingehen können.«

Ohne die Fürsorge und Zuwendung von anderen, sind wir nicht frei. Ohne Care-Beziehungen sind wir nur ein rasender Mensch auf einer Autobahn, der im Kreis fährt, weil niemand auf ihn wartet und ihm durchs Haar streicht, wenn er nach Hause kommt.

Gesellschaften, die allen Menschen Freiheit bieten wollen, die eine Zukunft haben wollen, müssen Care als Praxis zentrieren.

Die Welt, in der Menschen frei sind, weil sie sich liebevoll umeinander kümmern, existiert bereits an vielen Orten. Eine Politik, die sich Freiheit und Gleichberechtigung verpflichtet, öffnet diese Welt für alle.

Wenn Menschen sich gegenseitig gut umsorgen können, bauen sie stabile Beziehungen zueinander auf und erleben Zugehörigkeit und Selbstwirksamkeit. Zugehörigkeit und Selbstwirksamkeit sind die Grundlage dafür, dass Menschen informiert und selbstbewusst Ja sagen zu dem, was sie brauchen, und Nein zu dem, was ihnen schadet. Die Care-Revolution verleiht ihnen Zeit und Kraft, sich gegen Fremdbestimmung und Unterdrückung zu wehren und gemeinsam und demokratisch eine Welt zu bauen, in der die Zukunft wieder offen und hoffnungsvoll ist.

Politisches Engagement als unverzichtbare gesellschaftliche Sorgearbeit aufzufassen, ohne die wir nicht leben können, so wie ein Baby ohne Care stirbt, ermöglicht es uns, die Zeit für Engagement als Recht zu erkennen und uns dafür einzusetzen, dass alle dieses Recht bekommen.

Wenn wir es als Recht verstehen, uns um andere, die Umwelt, Demokratie und Zukunft zu kümmern, können wir ebenso das Recht auf die notwendige Zeit dafür einfordern, denn fürsorgliches Handeln und eine lebendige Demokratie, in die sich viele Menschen einbringen, sind untrennbar verbunden mit ausreichend und großzügig bemessener Zeit.

Warum es sich für eine neue Zeitkultur lohnt, utopisch zu denken, wurde mir nach diesem Zitat von Ruth Levitas besonders klar: 

»Die utopische Herangehensweise ermöglicht es uns nicht nur, uns vorzustellen, wie eine andere Gesellschaft aussehen könnte, sondern befähigt uns dazu, uns vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, sie zu bewohnen.«

Sich Zeitgerechtigkeit zu nähern, wird ein zäher politischer Kampf. Wenn wir uns über die eigene Vorstellungskraft in sie einfühlen, eignen wir sie uns bereits ein Stück an. Zeit als etwas zu sehen, das in erster Linie unser Wohlbefinden, unsere Selbstbestimmung, unsere Beziehungen zueinander stärkt, ist eine radikale Umdeutung der gegenwärtigen Erfahrung von Zeitstress, Zeitarmut und Isolation. Schon dieser Perspektivwechsel ist politischer Widerstand.

Eine neue Zeitkultur ist keine Utopie, da sie in der Vorstellung so vieler Menschen bereits existiert. Die bisherige Zeitkultur wird sich dann verändern, wenn genügend Menschen davon überzeugt sind, dass sie zeitgerechter mit anderen leben wollen und verstehen, dass wechselseitige und verlässliche Care-Beziehungen, in die sie sich einbringen, die Basis für gesellschaftlichen Wandel sind. Weil das gute Kümmern umeinander viel mehr Menschen handlungsfähig macht.

Jede soziale Bewegung muss Teil der Care-Revolution sein.

Es ist unser menschlicher Kern, genug Zeit haben zu wollen für Freund_innen, Schlaf, Kinder, die Mitgestaltung der Gesellschaft und Aufgaben, aus denen wir Sinn ziehen.

Diese einfachen Wünsche, ausgeruht, eingebunden, geliebt und handlungsfähig zu sein, sollten wir niemals mit einer Utopie – einem Ort, den es nicht geben kann – verwechseln.

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Lesungen und Gespräche mit mir 2024

teresabuecker.de/termine (Öffnet in neuem Fenster)

05. Juni 2024 – Online-Lesung & Gespräch
18 Uhr
organisiert vom Katholischen Frauenbund Regensburg
Infos und Anmeldung (Öffnet in neuem Fenster)

12. Juni 2024 – Aachen, Lesung & Gespräch
19:00 20:30 Uhr
Roter Saal im Kulturhaus Barockfabrik
22 Löhergraben
Aachen
Mehr (Öffnet in neuem Fenster)Infos (Öffnet in neuem Fenster)

20. (Öffnet in neuem Fenster) Juni 2024 – Marbach, Lesung
Infos und Tickets (Öffnet in neuem Fenster)

25. Juni 2024  – Berlin
Denkart, Friedrich-Ebert-Stiftung
Infos folgen

26. Juni 2024 – Passau, Lesung
19:30 Uhr – 21:00 Uhr
Redoute, Gottfried-Schäffer-Straße 2, 94032 Passau
Infos und Tickets (Öffnet in neuem Fenster)

29. Juni 2024 – Berlin, Festival „Philosophie Live!“ (Öffnet in neuem Fenster)
20.30 Uhr
gemeinsames Gespräch mit Axel Honneth

08. Juli – Hannover, gemeinsames Gespräch mit Eva von Redecker
https://www.literarischersalon.de/ (Öffnet in neuem Fenster)

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