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Die unerträgliche Last der Unzulänglichkeit: Wie die Leistungsgesellschaft auf Klassismus baut

Disclaimer: Dieser Text enthält eine Bezahlschranke.

Hier kannst du dir den Text von mir vorlesen lassen (6:04 Minuten bis zur Bezahlschranke, 8:13 nach Bezahlschranke):

Haben wir in unseren Debatten über Diskriminierung den Klassismus vergessen? “Anders als andere Formen von Diskriminierung werde Klassismus ganz offen ‘ausgepackt’”, zitierte der Deutschlandfunk vor 14 Tagen auf Instagram Francis Seeck. Seeck, Professor*in, Antidiskriminierungstrainer*in und Autor*in, nennt ihn deswegen die “vergessene Diskriminierungsform”.

Klassismus, das ist die systematische Benachteiligung oder Bevorzugung von Menschen aufgrund ihres sozioökonomischen Status. Er kann verschiedene Formen annehmen: finanzielle Ausgrenzung, soziale Stigmatisierung, eingeschränkter Zugang zu Ressourcen und Möglichkeiten sowie mangelnde Anerkennung der Würde und des Wertes von Menschen aus bestimmten sozialen Schichten. Und es stimmt: Anders als Sexismus oder Rassismus haben eher wenige ihn so richtig auf Schirm.

Quelle: Deutschlandfunk via Instagram

„Vergessen“ ist meiner Meinung nach jedoch kaum das richtige Wort. Denn die Abwertung von Menschen ohne oder mit wenig Geld und von Arbeit, die wenig Geld bringt, ist Teil unserer Wirtschaftskultur. Sie ist das Fundament der Leistungsgesellschaft, in der sich der Wert der Menschen durch ihre Fähigkeit bemisst, Geld zu verdienen. 

Wobei es natürlich nur vorgeblich um das Verdienen geht, es geht vor allem um den Besitz. Als Erbin steht man zwar moralisch nicht auf der gleichen Stufe wie der so genannte „Selfmade-Millionär“, aber der ist ja bei Lichte betrachtet eine absolute Ausnahmeerscheinung. Die allermeisten Menschen, die mit Millionen hantieren, haben mindestens einen Grundstock dieser finanziellen Ausstattung geerbt und nicht selbst erarbeitet. Auch wenn sie gern anderes behaupten (und vermutlich auch selbst glauben). 

Beispiele wie der junge Unternehmer, der kinderlos und frei von jeglichen Care-Verpflichtungen mehrere Jobs parallel macht und nachts seine Angebote schreibt, taugen nicht als grandioses Vorbild für alle. Als able-bodied, weißer, normschöner Mann mit einem Namen wie Paul Neudorf von sich auf andere zu schließen und zu behaupten, das könne jeder, ist ein Trugschluss. 

Quelle: Die ZEIT via Instagram

Win win win!

Nichtsdestotrotz lieben wir diese Geschichten. Wir lieben es, von Menschen zu lesen, die es geschafft haben. Dass es möglich ist, sozial aufzusteigen, ist als Narrativ ebenfalls elementarer Bestandteil unserer Wirtschafts- und Arbeitskultur. Freudig wird es reproduziert und sendet unmissverständlich das Signal, dass die Leute doch nur mehr tun oder früher aufstehen müssten, um „alles“ erreichen zu können. Ungleiche Voraussetzungen? Ach was! Eiserner Wille und persönliche Leistungsfähigkeit sorgen für Erfolg oder Misserfolg. Sonst nix!

Dabei ist es doch so, und das zeigen alle Zahlen zu Aufstiegschancen im Land der Pünktlichen (Öffnet in neuem Fenster): Menschen, die gewinnen, haben Privilegien, und Menschen, die nicht gewinnen, haben weniger Privilegien. Die Ursache für den Gewinn dennoch in der eigenen Leistungs- und Opferbereitschaft zu verorten, ist jedoch entscheidend: Nur so können wir weiter hinabblicken auf die Verlierer*innen in unserer Gesellschaft. Würden wir ihnen die Verantwortung für ihre prekäre Lage nicht selbst zuschreiben, gerieten wir in die unangenehme Situation, unsere eigenen Privilegien reflektieren und anerkennen zu müssen und dass unsere Lebensumstände nur sehr bedingt mit unseren individuellen Fähigkeiten und Ressourcen zu tun haben. 

Die Verantwortung dem Einzelnen zuzuschieben befreit zudem von jeglicher Notwendigkeit, strukturell etwas zu verändern und politische Rahmenbedingungen so anzupassen, dass die Schere zwischen den Vielhabenden und den Habenichtsen nicht weiter aufgeht. Merkt ihr, wie normativ geladen der Begriff „Habenichts“ ist?

Die Dysfunktionalität des Systems der geerbten Privilegien stellt sich dabei allerdings nur für diejenigen dar, die nicht davon profitieren. Für alle anderen, die in diesem System auf der Sonnenseite der Besitzenden stehen, erfüllt es zu 100% seinen Zweck. Darüber weg zu schauen und Klassismus nicht als Diskriminierungsform ins Bewusstsein zu holen, ist daher kein Versehen und keine Nachlässigkeit. Das gilt zwar durchaus auch für andere Diskriminierungsformen, aber die Besonderheit ist, dass selbst die davon betroffene Bevölkerungsgruppe sich überwiegend sozial erwünscht positioniert und sich kaum ungerecht behandelt fühlt (siehe hierzu die sehr aufschlussreiche Analyse Triggerpunkte (Öffnet in neuem Fenster)). Ich würde mal ganz forsch behaupten, dass es keine stärker internalisierte und als gerechtfertigt empfundene Diskriminierungsform als Klassismus gibt. Der Grund:

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