Le-Sage-Gravitation - Wie funktioniert die Schwerkraft?
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Sternengeschichten Folge 635: Wie zerstört man einen Planeten?
Sternengeschichten Folge 636: Le-Sage-Gravitation - Wie funktioniert die Schwerkraft?
Wie funktioniert die Schwerkraft? Wissen wir nicht! Aber weil dass in diesem Fall eine sehr kurze Podcastfolge wäre, schauen wir uns das, was wir nicht wissen, dann doch lieber ein wenig genauer an. Die aktuell beste Theorie, die wir zur Beschreibung der Gravitation haben, ist die Allgemeine Relativitätstheorie von Albert Einstein. Darin wird die Schwerkraft als Auswirkung der Krümmung der Raumzeit beschrieben. Masse krümmt den Raum und alles, was sich bewegt, folgt dieser Krümmung, was für uns so aussieht, als würde eine Kraft zwischen den Massen wirken. Und das ist zwar eine sehr originelle Erklärung und die Allgemeine Relativitätstheorie funktioniert wirklich, wirklich gut. Seit über hundert Jahren konnte jede ihrer Vorhersagen immer wieder und sehr genau bestätigt werden. Wir wissen aber auch, dass die Allgemeine Relativitätstheorie trotzdem nur eine Näherung an die Realität sein kann. Gut, das gilt für jede wissenschaftliche Theorie, aber wir wissen, dass die Beschreibung der Gravitation durch die Relativitätstheorie zum Beispiel dann nicht funktioniert, wenn die Massendichten sehr groß werden; wenn wir es zum Beispiel mit schwarzen Löchern zu tun haben.
Aber irgendwie MUSS die Gravitation ja funktionieren. Und natürlich haben sich sehr viele Menschen im Laufe der Zeit sehr viele Gedanken darüber gemacht. Denn die Schwerkraft ist ja etwas, was wir in unserem Leben ständig beobachten. Wenn wir etwas nach oben werfen, dann kommt es wieder nach unten. Wenn wir etwas fallen lassen, dann fällt es. Und so weiter. Und dafür muss es nicht nur eine Beschreibung geben, sondern auch eine Erklärung. Eine dieser Erklärungen könnte "Ja, das ist halt so!" sein. Und das war es im Wesentlichen auch, was man sich vor langer Zeit in der Antike gedacht hat. Dinge fallen nach unten, weil sie da halt hin wollen! Oder ein bisschen exakter gesagt: Alle Materie will zum Zentrum des Universums, das ist quasi fix eingebaut in die Natur der Dinge und weil die Erde im Zentrum des Universums ist, bewegt sich halt alles nach unten.
Gut, aus heutiger Sicht ist das keine sonderlich wissenschaftliche Erklärung. Der erste, der sich tatsächlich auf eine Art mit der Gravitation beschäftigt hat, die mit der modernen Naturwissenschaft zu tun hat, war natürlich Isaac Newton. Er hat eine mathematische Formel gefunden, um zu beschreiben, wie sich die Gravitation verhält; ein universell gültiges Naturgesetz. Diese Formel war und ist enorm erfolgreich; auch heute noch und auch im Wissen, dass sie in speziellen Fällen nicht mehr funktioniert und durch die Relativitätstheorie ersetzt werden muss, wird sie in der gesamten Naturwissenschaft verwendet.
Was Newton aber nicht getan hat, war zu erklären, warum die Gravitation so funktioniert, wie sie es tut. Er hat beschrieben, wie man ihre Stärke ausrechnen kann und dass diese Stärke von den beteiligten Massen und ihrem Abstand abhängen. Aber warum das so ist, hat er nicht erklärt. Aber sein Freund und Kollege, der Schweizer Mathematiker Nicolas Fatio de Duillier hat es gegen Ende des 17. Jahrhunderts versucht. Isaac Newton hat nicht viele Freunde gehabt, aber Fatio war einer davon. Und er hat das entwickelt, was wir heute die "Le-Sage-Gravitation" nennen und wir werden noch dazu kommen, wer Le Sage war.
Die Idee von Fatio ist auf den ersten Blick recht simpel. Stellen wir uns vor, der gesamte Raum ist voll mit Teilchen. Die bewegen sich sehr schnell, mit konstanter Geschwindigkeit und geradlinig in alle Richtung. Und wenn da jetzt im Raum irgendwas ist, zum Beispiel ein Planet, dann ist der natürlich dem ständigen Bombardement dieser Teilchen ausgesetzt. Weil sie aber ja alle mit der selben Geschwindigkeit und aus allen Richtungen auf den Planeten treffen, hat das keinen Effekt. Die Teilchen schieben, vereinfacht gesagt, aus allen Richtungen gleich stark an und die Kräfte heben sich auf. Aber was, wenn da jetzt auch noch ein zweiter Planet ist, nicht allzu weit entfernt vom ersten? Dann blockiert der ja ein bisschen was von diesem Teilchenstrom. Aus Sicht des ersten Planeten kommen die Teilchen immer noch gleichmäßig aus allen Richtungen. Nur nicht aus der Richtung, in der sich der zweite Planet befindet, denn der blockt sie ja ab. Das bedeutet: Der erste Planet wird durch die Teilchen in Richtung des zweiten Planeten geschoben. Und aus Sicht des zweiten Planeten läuft das alles genau so, nur umgekehrt. Oder anders gesagt: Man wird beobachten, dass sich die beiden Planeten gegenseitig anziehen.
Das klingt, wie gesagt, sehr simpel. Es klingt auch sehr plausibel. Man kann sich das gut vorstellen und verstehen, wie diese Teilchen, die sich da überall bewegen, etwas erzeugen, was für uns so aussieht wie eine Anziehungskraft zwischen den Objekten. Aber auf den zweiten Blick wird die Sache dann schwieriger. Man kann mit diesem Modell erklären, warum die Gravitationskraft vom Abstand zwischen den Objekten abhängt, beziehungsweise sogar, warum sie vom Quadrat des Abstands abhängt, wie es Newtons Formel sagt. Je mehr Abstand zwischen den Objekten ist, desto mehr Teilchen können noch dazwischen kommen; desto schlechter wird also die wechselseitige Abschirmung und desto schwächer die Kraft. Aber Newtons Formel sagt ja auch, dass die Stärke der Gravitationskraft von der Masse abhängt. Und warum sollte eine massereiches Objekt diese komischen Teilchen stärker abschirmen als ein Objekt mit weniger Masse?
Ganz einfach, hat Fatio gesagt: Weil alle Objekte zum größten Teil aus leerem Raum bestehen! Die Teilchen können da problemlos reinfliegen. Und im Objekt werden die Teilchen zum Teil absorbiert und es kommen weniger wieder raus, als reingeflogen sind. Und zwar um so weniger, je mehr Masse da ist. Also: Die Stärke der Gravitationskraft ist auch proportional zur Masse.
Man kann das tatsächlich alles auch mathematisch einigermaßen exakt aufschreiben, so dass sich damit Newtons Gravitationsgesetz erklären lässt. Aber man muss sich schon ein wenig anstrengen. Man muss sich zum Beispiel überlegen, wie die Kollisionen zwischen den Objekten und den komischen Teilchen im Detail ablaufen. Es kann sich dabei nicht um sogenannte "elastische Stöße" handeln, also Kollisionen bei denen keine Energie ausgetauscht wird. Bei einem elastischen Stoß hat das Teilchen vor der Kollision genau so viel Energie wie danach. Die Theorie von Fatio funktioniert aber nur, wenn ein Teil der Energie der Teilchen bei der Kollision auf die Objekte übergeht.
Das wäre jetzt an sich noch kein Problem. Wir wissen, dass so ein elastischer Stoß sowieso nur eine idealisierter Vorstellung ist und in der Realität bei allen Kollisionen immer irgendwie Energie übertragen wird. Und nachdem Fatio sehr lange an seiner Theorie gearbeitet hatte, war er der Meinung, er könnte damit alles erklären, was erklärt werden muss. Isaac Newton war auch damit zufrieden, aber trotzdem hat Fatio es irgendwie nie geschafft, die Sache so zu veröffentlichen, dass seine Theorie allgemein bekannt werden hat können. Aber ein paar Jahrzehnte später, in der Mitte des 18. Jahrhunderts, hat der Physiker und Mathematiker Georges-Louis Le Sage, ebenfalls ein Schweizer, eine eigene Theorie der Gravitation veröffentlicht. Sie ist quasi identisch mit dem, was sich Fatio ausgedacht hat, aber Le Sage hat immer darauf beharrt, nicht bei ihm abgeschrieben zu haben. Er habe erst später von Fatios Arbeit erfahren und seine eigene Theorie sei zwar sehr ähnlich, aber deutlich besser ausgearbeitet. Ob das stimmt oder nicht, darüber kann die Wissenschaftsgeschichte diskutieren (was sie auch tut) - aber wir schauen jetzt noch mal auf das, was mittlerweile und bis heute als "Le-Sage-Gravitation" bekannt ist.
Die Teilchen, die überall durch die Gegend fliegen hat Le Sage die "ultramundanen Korpuskel" genannt und der Rest war im Wesentlichen wie bei Fatio. Richtig erfolgreich war er damit aber nicht. Leonhard Euler, einer der berühmtesten Mathematiker und Physiker der Moderne, hat in einem Brief an Le Sage zum Beispiel geschrieben: "Sie müssen mich entschuldigen, wenn ich eine große Abneigung gegen Ihre ultramundanen Korpuskel habe, und ich werde es immer vorziehen, meine Unkenntnis über die Ursache für Schwerkraft zu gestehen, als auf solch fremdartige Hypothesen zurückzugreifen."
Tja. Es haben sich auch andere berühmte Forscher damit beschäftigt, zum Beispiel der Astronom Pierre-Simon Laplace zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Er hat ausrechnet, dass sich die Gravitationskraft im Modell von Le Sage ungefähr 100 Millionen Mal schneller als das Licht ausbreiten muss, damit das alles funktionieren kann. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts hat die Le-Sage-Gravitation noch einmal ein bisschen mehr Aufmerksamkeit bekommen, weil man mittlerweile die kinetische Gastheorie entwickelt hatte. Also, vereinfacht gesagt, die Idee, das man die Eigenschaften eines Gases durch die zufällige Bewegung der ganzen Moleküle und Atome beschreiben kann, die da rumfliegen. Eigenschaften wie Druck oder Temperatur sind das Resultat der vielen kleinen Kollisionen zwischen den Teilchen und das klingt ja schon ein wenig wie das, was Fatio und Le Sage bei der Gravitation erklärt haben. Nur sind wir jetzt halt wieder bei der Sache mit der Energie, die übertragen wird. Die kinetische Gastheorie beschreibt, wie die Übertragung der Energie bei den Kollisionen dafür sorgt, dass ein Körper wärmer (oder kälter) wird. Wenn jetzt aber auch die ultramundanen Korpuskel Energie übertragen und wenn sie das so tun, dass die Sache mit der Gravitation dadurch beschrieben werden kann, dann kann man jetzt auch ausrechnen, wie stark die Körper dadurch erhitzt werden. Das hat unter anderem der französische Physiker und Mathematiker Henri Poincaré zu Beginn des 20. Jahrhunderts getan und festgestellt, dass sich zum Beispiel die Erde dadurch in jede Sekunde um ein paar Billionen Grad aufheizen müsste.
Einer der letzten seriösen Wissenschaftler, der sich mit dem Thema beschäftigt hat, war der amerikanische Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman in den 1960er Jahren. Er hatte nicht vor die, damals schon durchaus gut bestätigte Relativitätstheorie von Einstein zu widerlegen, sondern wollte nur wissen, ob man die Gravitation nicht vielleicht doch auch prinzipiell mit einfacherer Mathematik beschreiben kann als mit der, die Einstein verwendet hat. Aber auch Feynman ist auf die ganzen Probleme gestoßen, die Poincaré, Laplace & Co vor ihm entdeckt haben.
Heute taucht die Le-Sage-Gravitation eigentlich nur noch in der Pseudowissenschaft auf. In der echten Wissenschaft hat man akzeptiert, dass man mit dieser Hypothese nicht weiter kommt. Aber definitiv nicht akzeptiert haben wir, dass so etwas die Gravitation am Ende trotzdem eine Erklärung braucht. Daran werden wir weiterforschen, so lange bis wir wissen, warum die Dinge WIRKLICH nach unten fallen.