Jungs
von Victoria Hohmann
Jungs sind nun mal so. Die sind nun mal Rabauken. Spricht die Oma von zwei Jungs ca. 2 und 5 Jahre alt neben mir, die gerade über das Sandspielzeug meiner Tochter trampeln, sich ihren LKW und das Boot-Förmchen schnappen und damit quer über den Spielplatz abhauen. Der Oma zur Seite steht der Vater der Jungs. Er sagt nichts. Kein Wort, kein Protest, kein Eingriff. Ich frage mich den Bruchteil einer Sekunde, wie ich was wann wie sagen soll. Weil die Erziehung anderer Eltern zu ignorieren bzw. sich da nicht einzumischen ist schließlich Regel Nummer Eins im Family-Kosmos. Zu spät. Intuitiv habe ich bereits ein EY! ausgestoßen. Das EY! schallt über den Spielplatz. Genau wie die Protestschreie meiner Tochter. Der Vater der Jungs sieht sich genötigt, jetzt doch den Namen des Älteren zu rufen. Seine Mutter, nein, ich merke: seine Schwiegermutter schweigt. Als der Ältere nicht hört, sagt sie dann doch zu mir: Jungs…! Als Spielplatz-Traumatisierte habe ich die Schnauze bereits so voll, dass ich sie nun partout nicht mehr halten kann. Aus dem EY! wird ein HEY! und Erstmal fragen! Meinen Impulshinter den Jungs her zu stapfen und ihnen das Spielzeug einigermaßen freundlich, aber bestimmt aus den Händen zu entwenden, unterdrücke ich allerdings. Eltern sollen ja erstmal die Kinder machen lassen. Die regeln das schon unter sich. Erst bei Eskalation greift das Elt ein.
Die Jungs haben sich jetzt mit dem Spielzeug meiner Tochter ein ganzes Stück entfernt von uns niedergelassen. Der Ältere hat mittlerweile dem Jüngeren das Boot-Förmchen abgenommen und schaufelt damit Sand auf die Ladefläche des LKWs. Der Jüngere schreit. Das nimmt der Vater zum Anlass über den Spielplatz zu rufen, der Ältere solle dem Jüngeren das Förmchen zurückgeben. Dass es meiner Tochter gehört, interessiert ihn nicht. Jungs…! Tja, die Jüngeren müssen lernen, sich durchzusetzen – belehrt mich jetzt auch noch die Schwiegeroma von der Seite. Meine Tochter jammert noch immer, denn es sind nicht nur ihre Spielsachen, sondern es ist ausgerechnet auch noch ihr neuer Sand-LKW, der räuberisch beladen wird. Ich seufze. Oder stoße Luft durch die zusammengebissenen Zähne hervor. Die Eskalationsstufe ist mal wieder erreicht.
Komm, sage ich zu meiner Tochter, ohne die Erziehungsberechtigten in irgendeiner Form weiter zu beachten, wir gehen jetzt da rüber und du holst dir deine Sachen zurück. Gesagt, getan. Mit meiner Tochter an der Hand stapfe ich durch den Sand. Du sagst denen jetzt einfach, dass du dein Spielzeug zurück möchtest – instruiere ich sie. Ich will mein Spielzeug zurück, sagt meine Tochter auch prompt. Die Jungs reagieren nicht. Gebt ihr bitte das Spielzeug zurück. Sage ich. Die Jungs reagieren nicht. So. Sage ich. Ihr gebt jetzt das Spielzeug zurück. Damit nehme ich es ihnen weg. Oder will es wegnehmen. Der Ältere lässt den LKW nicht los. Ich ziehe. Einmal behutsam. Noch einmal behutsam. Dann reiße ich ihm, so behutsam wie noch irgendwie möglich, den LKW aus den Händen. Er schreit. Das ist meiner, sagt meine Tochter. Komm, sage ich zu meiner Tochter, wie gehen jetzt ein Eis essen. Mittlerweile ist auch der Vater der Jungs angerückt. Breitschultrig baut er sich hinter seiner Brut auf. Ich gehe mit meiner Tochter an der Hand wortlos so dicht an ihm vorbei, dass ich ihn beinahe streife. Wir packen das Sandspielzeug ein und verlassen den Spielplatz. Jungs…! murmelt die Schwiegeroma uns hinterher.
Am nächsten Tag sind die Arschloch-Jungs, wie ich sie im Stillen lauthals nenne, wieder auf dem Spielplatz. Auch Vater und die Schwiegeroma. Hallo, sagt die Schwiegeroma, als sie mich und meine Tochter erblickt. Wir kennen uns schließlich schon. Es ist ein Samstag. Ich habe gut geschlafen. Ich habe Kaffee getrunken. Mein Mann wird gleich mit frischen Croissants und einem zweiten Kaffee für mich im verantwortungsvollen Recup-Becher zu uns stoßen. Darum sage auch ich: Hallo. In einer Großstadt begegnest du ja in der Regel so vielen Kindern und Eltern täglich auf Spielplätzen, dass du die meisten schnell wieder vergessen kannst. Es sei denn, es ist der Spielplatz neben der eigenen Kita. Aber das ist etwas anderes. Selten hast du also das Pech an zwei aufeinander folgenden Tagen trotz unterschiedlicher Uhrzeit auf einem Kita ferneren Spielplatz auf die gleichen Kids zu treffen. Wobei das manchmal auch Glück sein kann. Aber das ist noch viel seltener und dann schon richtiges, echtes Glück.
Da sind sie also, die Jungs…! Ich beschließe, meiner Tochter ihre Tasche mit dem Sandspielzeug, die ich über der Schulter trage, erstmal nicht auszuhändigen. Stattdessen schlage ich vor, während sie ihren Roller parkt: Willst du erstmal eine Runde rutschen? Oder schaukeln? Sie will. Und zwar beides. Mir fallen mindestens zwei Steine vom Herzen. Landen im Sand. Ich setze mich auf die Bank davor. Meine Tochter steuert als Erstes die Rutsche an mit angebautem Klettergerüst. Mit ihren knapp vier Jahren braucht sie beim Klettern dort keine Hilfe mehr und Mutter darf auf Spähposition an den Rand. Als Schieds- Linienrichterin. Hält für eine Minute entspannt ihr Gesicht in die Sonne. Ein Elt lernt ja jede Minute optimal zu nutzen. Auszukosten. Elterliche Effizienz. Mein Lieblings-TED-Talk-Thema. Ist da ein Moment für Me-Time. Zack. Bad in der Sekundenlänge. 60 Sekunden. Können ja eine Ewigkeit… Weiß Mensch ja. Die wirklich wichtigen Dingen im Leben, die großen Wendungen, das dauert nur Sekunden. Die Nachricht, die Kugel, die Liebe. Das Gesicht in die Sonne. Auch wenn das eigentliche Wenden und Kurven dann Jahre oder Jahrzehnte in Anspruch nimmt.
Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder meiner Tochter zu. Sie sitzt oben auf der Rutsche. Die blockiert ist, weil unten der jüngere der Jungs steht und Anstalten macht, die Rutschbahn hochzuklettern. Meine Tochter weiß, dass er ein Jüngerer ist und wartet darum geduldig oben ab. Bahn frei, ruft sie schließlich. Der Jüngere klettert weiter. Sie wartet. Der Jüngere klettert. EY! ruft meine Tochter. Sie lernt schnell. Vater und Schwiegeroma sind mittlerweile ebenfalls auf die Situation aufmerksam geworden. Plötzlich setzen sie sich überraschend gleichzeitig in Bewegung Richtung Rutsche. Ich erwarte, dass Vater seinen Sohn von der Rutschbahn heben oder ihm bei einer Wendung auf den Po behilflich sein wird, damit er die schon halb hochgekletterte Rutsche ab der Mitte runterrutschen kann und meine Tochter freie Bahn hat. Aber. Stattdessen stützt er dem Sohn den Po und hilft ihm beim Hinaufklettern. Er ist ja noch klein, erklärt Schwiegeroma unterdessen meiner Tochter. Die weiter dasitzt, schaut. Einen Weg für sie selbst in dieser Situation zu sehen sucht. Ich erhebe mich. Seufzend. Oder sowas ähnliches. Von der Bank in den Himmel. Die Tasche mit dem Sandspielzeug an die Schulter gepresst. Betrete ich den Sandplatz im Wilden Westen. Die Sonne steht hoch am Himmel. Meine Colts glänzen im Waffengürtel. Genau wie die Rutsche. Ich stoße die Saloontür auf. Die Schnapsgläser auf dem Tresen zittern. Aber niemand dreht sich um. Sie wissen, wem die Cowboystiefel mit den Sporen gehören. Die ich unfreiwillig trage. In diesem scheiß Sand. Der überhaupt nicht zu dem Piratenschiff artigen Kletter-Anbau der Rutsche passt. Oder erst recht. Ich visiere die Rutsche mit dem Schatz an. Dem enternden Fremdpiraten. Oder ist es nur ein Äffchen? Dem meine Cowboystiefel so wenig sagen wie mein Waffengurt. So wenig wie der Schnaps auf dem Tresen und das Lasso am Horn meines Sattels. Mein Auftritt hat auch den fünfjährigen Papagei aufgescheucht, der jetzt das Schiff und die verhinderte Rutschpartie ansteuert, umflattert. Wenn du ein bisschen Platz machst, kann er ganz nach oben klettern, sagt Vater gerade zu meiner Tochter, während er unvermindert seinen Sohn die Rutschbahn hochschiebt. Meine Tochter rührt sich nicht. Rück doch mal ein bisschen zur Seite, schiebt Schwiegeroma nach. Ich feuere. Meine Colts rauchen. Zweimal exakt durch die Hüte, i tell you. Es hilft nicht. Ich versuche, das Kriegsbeil mit dem Boot-Förmchen direkt neben dem Piratenschiffgerüst im Sand zu verbuddeln.
Wenn du ein bisschen Platz machst, kann er ganz nach oben klettern und dann kannst du rutschen, sage ich halbherzig diplomatisch. Meine Tochter rührt sich nicht. Er will doch nur hoch, sagt Vater. Jetzt mach doch mal Platz, sagt Schwiegeroma. Diesmal treffen meinen Kugeln. Schneller als mein eigener Schatten bin ich bei meiner Tochter. Fasse mit einer Hand schützend an die Rutsche neben ihren Füßen. Höher komme ich auch nicht. Bringe meine Hand in Stellung zwischen ihr und dem Pack, das über sie steigen will. Ihr das Rutschrecht als Erste vor Ort abspricht. Sie klein zu machen versucht, kleiner als den Jüngeren, klitzeklein. Meine Tochter rührt sich nicht. Ich bin stolz auf sie. Sag ihm einfach, dass er nach dir rutschen kann. Sage ich meiner Tochter an der Invasion vorbei. Du kannst nach mir rutschen, sagt meine Tochter zum Äffchen. Genau, sage ich. Sage ihm auch das nächste Mal einfach, dass er nach die rutschen kann, solange aber von der Rutsche runtergehen soll. Obwohl ich bezweifele, dass es wirkt. Er ist ja noch klein, sagt Schwiegeroma. Aber er wird auch mal groß, sage ich. Sehe jedoch nur ein Fragezeichen auf Schwiegeromas Gesicht.
So. Was machen wir? frage ich. Ich weiß nicht genau, wen, oder ob nur mich selbst. In diesem Augenblick löst der Kleine selbst das Problem. Er lässt sich auf den Bauch fallen, entreißt sich dem Vater und rutscht lachend auf dem Bauch die Rutsche runter. Landet auf dem Po im Sand. Rennt los Richtung Schaukel. Oder Wippe. Oder, ach, aus dem Spielplatztörchen hinaus. Durch das just in dem Moment mein Mann mit einer Tüte frischer Croissants und einem prächtigen Recup-Becher mit Kaffee für mich treten will. Der den Kleinen nicht durchlässt, erst als er Schwiegeroma gewahr wird, die beim Anblick eines männlichen Erziehungsberechtigten pflichtbewusst dem Ausreißer hinterherläuft. Jungs…! Beim Anblick meines Mannes spricht auch Vater zum älteren Sohn: Komm. Das Logo auf dem Recup-Becher interpretiert er offenbar als Sheriffstern. Papagei und Seewolf mit Augenklappe verlassen den Spielplatz. Wahrscheinlich, um auf dem Schneewittchen-und-die-sieben-Zwerge-Spielplatz nebenan Kartoffeln zu zerquetschen. Meine Tochter rutscht. Stürmt vergnügt quietschend ihrem Croissant entgegen. Oder ihrem Vater? Ich ziehe die Cowboystiefel aus und schmeiße sie über den Zaun in die Büsche. Zu den ganzen Tempotaschentüchern da. Der Waffengurt ist bereits von selbst verschwunden. Man muss den Leuten halt Kuchen geben. Außerdem bezahlten Urlaub. Und dann. Also jedenfalls mehr als diesen Pippi-Langstrumpf-Spielplatz, der bringt`s auch nicht, jedenfalls nicht allein der. Obwohl der Bezirk ja mittlerweile immerhin diesen Scheiterhaufen von Hexenspielplatz wieder aufgebaut hat, aber das ist auch alles.
Meine Tochter sitzt auf der Bank und kaut ihr Croissant. Mädchen gegen Jungs, Mädchen gegen Jungs, intoniert sie zwischen den Bissen. Verarbeitet offenbar. Hat diesen Kampfgesang aus der Kita. Genau wie ihr Faible für Kleider. Weil Mädchen nun mal Kleider tragen. Sogar in Berlin-Kreuzberg. Oder gleich Hosenanzüge. Für Shorts bleibt da nicht viel Platz. Mir ist schon das Wetter extrem genug. Das als Small-Talk-Thema auf Spielplätzen ja auch immer unbeliebter wird. Weil du einfach nicht mehr weißt, was du darüber sagen sollst. Oder darfst. Weil eventuell könnte ja trotzdem eine Freundschaft entstehen. Also zwischen den Kindern.
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