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Tacheles

Offenbar besteht die hauptsächliche Arbeit an einem Buch darin, sehr viel zu schreiben und dann wieder zu streichen. Kill your Darlings, erinnert mich meine Agentin sanft, aber ich habe kein Problem mit dem Kürzen, genauso wenig wie mit dem Kleiderschrank-ausmisten. Es sind zwar Darlings, aber da wo die herkommen, ist noch vielviel mehr. Abundance.

Natürlich ist es trotzdem schade, wenn die ganzen fleischigen Texte sang- und klanglos auf einer Festplatte verstauben. Vielleicht wird mal ein zweites Buch draus, vielleicht auch nicht, aber bis dahin ist ihre Zukunft ungewiss. Dann sollen sie wenigstens jetzt euch erfreuen.

Hier kommt ein Abschnitt darüber, wie ich mit zwanzig im berüchtigten Kunsthaus Tacheles zu arbeiten anfing.

2005 / Tacheles

Der erste Frühling mit Heiner verfliegt wie ein wilder Traum. Noch bevor ich meine eigene Wohnung mit meinem Computer, meinen dreißig Büchern, meinem Ikea-Bett und einer an die Wand gepinnten Postkarte von Marilyn Monroe möbliert habe, bin ich bereits inoffiziell in Heiners Kreuzberger Wohnung eingezogen, denn eine Nacht ohne ihn ist eine verlorene Nacht. Ich bin crazy in Love. Mein ganzes Leben fühlt sich an wie ein süßer, fettiger Schokoladenkuchen, der langsam in der Sonne vor sich hin schmilzt. Ich schreibe lange Emails an Philipp, in denen ich mich selbst mit Frida Kahlo und Heiner mit Diego Rivera vergleiche. Jeden Tag, nach der letzten Stunde Deutsch oder Bio, die ich unkonzentriert mit meinen Haaren spielend in der hintersten Bankreihe abgesessen habe, renne ich raus auf den Hof und der Tag knallt los in multicolor, vom Schultor aus kann ich schon Heiners roten, zerbeulten Mazda MX 5 leuchten sehen, und dagegen gelehnt: mein Typ. Mit Sonnenbrille und Kippe im Mundwinkel. Ich schmeiße meine Tasche auf die Rückbank, springe auf den Beifahrersitz und während er mich noch knutscht, drückt er schon den Fuß aufs Gas.

»Es macht überhaupt keinen Sinn, dass du irgendwo anders arbeitest«, sagt Heiner. Und ich kündige leichtherzig meinen langweiligen, schlecht bezahlten Kellnerinnen-Job im Theater, um mich in einen ebenso schlecht bezahlten, dafür aber sehr interessanten Job im Tacheles zu stürzen.

Heiners Entourage im Tacheles ist eine große, prekäre Familie, die nur aus schwarzen Schafen besteht. Die Barbetreiber sind die Anführer einer Reihe von halbseidenen Clans, die durch jahrzehntelange Fehden und Seilschaften und komplexe Rechtsstreitigkeiten miteinander verflochten sind. Heiner, Arda und Ludwig haben die unteren Stockwerke und den Garten des Hauses untereinander aufgeteilt und regieren es zusammen mit einer illustren Gefolgschaft aus Barkeepern, DJs, Künstlern, Kleinkriminellen und Steuerbetrügern. Ich bin in meiner Rolle als Freundin vom Kinochef so etwas wie eine First Lady der Unterwelt. Genau wie eine richtige Präsidentengattin herrsche ich nicht, sondern bin reine Dekoration.

Die Tacheles Crew ist wie eine Schaustellerfamilie aus einem Tarantino Film.

Da ist zum Beispiel Gilo, der Boss der Dealer. Kurzes, wasserstoffblond gebleichtes Haar, gegerbtes Gesicht, ein Grinsen wie ein Haifisch, blitzende Goldzähne, sein Alter schwer zu schätzen, irgendwas zwischen fünfzig und siebzig, und meistens ein bis zwei vermutlich gerade eben volljährige Girls im Arm. Er hat den Freifahrtschein, in allen Läden des Hauses seine Geschäfte zu machen, ohne dass einer der Barbetreiber ihm auf den Sack geht und im Gegenzug kontrolliert er souverän die unübersichtliche Bande von Kleinkriminellen, die im Haus ein und aus geht. Ich habe Gilos Nummer auf Kurzwahl in meinem pinken Motorola Razr abgespeichert und wann immer ich nachts allein den Laden zumache und mich wegen irgendeiner zwielichtigen Gestalt unwohl fühle, kann ich ihn anrufen und er taucht Minuten später auf, nimmt sich den Typen zur Seite, spricht leise und ununterbrochen lächelnd ein paar Sätze in irgendeinem brutal klingenden arabischen Dialekt, woraufhin der kleine Mafioso bleich wird und auf nimmer Wiedersehen verschwindet. Gilo wohnt in einem ausgebauten Container im Tacheles Garten. Einmal sehe ich seine winzigen Höhle von innen. Ein warm beleuchtetes Bett nimmt siebzig Prozent der Wohnfläche ein, die Wände sind holzvertäfelt, neben der Tür an der Wand klebt eine Postkarte, auf der eine Muschi mit gefletschten Zähnen abgebildet ist. Vagina dentata. Gilo ist von Zeit zu Zeit in Untersuchungshaft, was jedes Mal die ganze Belegschaft in Aufregung stürzt. Die Chefs besuchen ihn im Gefängnis und bringen ihm irgendwelches Zeug vorbei – wahrscheinlich Kuchen mit eingebackenen Feilen. Gilo selbst bringen seine Knastbesuche nicht im Mindesten aus der Ruhe. Er trainiert seinen Sixpack, lässt die Zeit für sich arbeiten und betrachtet das alles offenbar als seinen wohlverdienten Urlaub. Er bleibt eh nie lange drin. Man erzählt sich, die Bullen hätten nichts gegen ihn in der Hand, weil das Zeug, das er den spanischen Party-Touristen verkauft, mit Kokain so wenig zu tun hat, dass man ihn deswegen nicht lange festhalten kann.

Wenn Gilo im Knast ist, kümmert sich Easy um seinen Container. Easy ist ebenfalls mit einigen Goldzähnen geschmückt. Er hat eine müde, kleine Frau und neun Kinder, die man ungefähr einmal im Jahr sieht, wenn sie zu Besuch ins Tacheles kommen und sich, zur Belustigung der Menge, nach Größe geordnet nebeneinander aufstellen wie ein kicherndes, strubbeliges Balkendiagramm. Easy geht offenbar nur nach Hause, wenn es mal wieder an der Zeit ist, ein neues Kind zu machen, ansonsten wohnt er zusammen mit seiner sehr jungen und unerklärlich hübschen Freundin, deren Namen ich nie richtig mitkriege, weil sie nie spricht, in einem Wohnwagen auf der Freifläche.

Weil die unterschiedlichen Parteien im Tacheles in einen langwierigen, unendlich komplizierten Rechtsstreit miteinander verwickelt sind, gehört auch ein Anwalt zur ständigen Belegschaft. Martin Griebe ist genau die Sorte verschlagener Winkeladvokat, den man aus jedem glamourösen siebziger Jahre Krimi kennt; ein untersetzter Typ mit Aknenarben, Nickelbrille und viel Pomade im Haar und einem meckernden, gemeinen Lachen. Griebe ist einen bis anderthalb Köpfe kleiner als seine Highheel tragende, aufgebrezelte und durch unzählige übereinander geschichtete kosmetische Interventionen unkenntlich gemachte Ehefrau Claudia, die aussieht wie die Karikatur eines verlebten California Girls: Plastiklippen, Plastiktitten, Perlzähne und jede Menge kupfern schimmernde Kunstbräune. Ihre Art zu flirten besteht darin, sich vor allen Leuten auf Heiners Schoß zu setzen, die mit Acrylnägeln bewaffneten Hände um ihn zu legen und sich vor Lachen über seine Witze dermaßen auszuschütten, dass ihre Ohrringe klimpern. 

Bela, Heiners bester Freund, regiert draußen in seinem Skulpturengarten. Seine riesigen metallenen Stiere und nackten Amazonen sind überall im Hofgarten verteilt. Er scheint der letzte aus dem Untergeschoss zu sein, der die Sache mit der Kunst wirklich ernst nimmt, was bedeutet, er arbeitet tagsüber wie eine Maschine und trinkt nachts immense Mengen Whiskey.  

Georg, der Chef des Café Zapata, ist mehr oder wenige der einzige, der so was wie ein bürgerliches Leben außerhalb des Tacheles hat. Er hat eine resolute Ehefrau und zwei Kinder im Teenageralter, die er nie auch nur in die Nähe eines Barkeeperjobs kommen lässt. Georg hat ein Büro backstage, in das man über eine steile Metalltreppe klettern kann und das von oben bis unten mit Aktenordnern vollgestopft ist: Die gesammelten Papiere des Mietrechtsstreites des Kunsthauses Tacheles (dem kleinen gallischen Dorf) mit der HSH Nordbank (Rom). Georg führt das Zapata mit pragmatischer Autorität, was hauptsächlich bedeutet: er übersieht geflissentlich, wenn die Barkeeper routiniert ein, zwei Liter Absolut Wodka pro Abend als zusätzliches Trinkgeld mitgehen lassen, weil sie dann seltener auf die Idee kommen, Geld aus der Kasse zu klauen.

 Und dann gibt es natürlich meine Kollegen in der Kinobar. Da ist Çan, der hübsche Sohn eines wohlhabenden türkischen Geschäftsmannes, den alle nur den Doktor nennen. Der Doktor nimmt an, sein Sohn werde sich bei solider körperlicher Arbeit die Flausen aus dem Kopf schlagen. Aber alles, was Çan interessiert, ist französischen Partytouristinnen zu erzählen, dass er Fotograf ist, um sie dann nach Feierabend auf den Barsesseln zu knallen. 

Da ist Ricarda, eine extrem gut gelaunte Filmemacherin, die nur deswegen immer noch ihren alten Studentenjob als Vorführerin macht, weil sie die Atmosphäre so liebt.

Andreas, ein Filmvorführer Mitte vierzig, der ein solides Nebeneinkommen als Statist in Kriegsfilmen verdient, in dem er immer KZ-Insassen verkörpert. Simona, Filmstudentin im sechzehnten Semester, die immer an die falschen  Frauen gerät.

André, der aus seinem letzten Kinojob geflogen ist, weil er ein Feuer gelegt haben soll.

Izzy, furchteinflößender Türsteher mit Reibeisenstimme und gelber Sonnenbrille, angeblich der Sohn des ehemaligen libanesischen Botschafters.

Jérome, der hinter der Bar Sartre liest und jeden spüren lässt, dass er die ganze, barbarische Szenerie jenseits des Tresens zutiefst verachtet.

Reza, ein unglaublich verpeilter Koreaner mit einer dicken Hornbrille, der so charmant ist, dass Heiner ihm jedes Mal verzeiht, wenn er auf Pilzen zur Arbeit erscheint. Eines Tages verschwindet er für immer, in der Kasse hinterlässt er bloß einen Zettel, auf den er gekritzelt hat: Wohne von nun an auf dem Pluto.

Zusätzlich gibt es immer eine Handvoll saisonaler Girls: Eine dekorative Parade von ahnungslosen Mädchen mit Rehaugen und tiefen Ausschnitten, die auf der Suche nach Abenteuer und ihrem ersten Studentenjob ins Haus geweht und dann spontan von irgendwem angeheuert werden, weil sie hübsch aussehen, nur um nach einem kurzen, heißen Sommer wieder raus zu fliegen, weil sie mit einem der Chefs, DJs oder Türstehern schlafen und den daraus resultierenden Eifersüchteleien nicht gewachsen sind. Zunächst gehöre auch ich klar in diese Gruppe. Als neue Freundin von Heiner macht mich zwar niemand dumm an, aber es nimmt mich auch niemand ernst oder macht sich die Mühe, meinen Namen zu lernen. In meinen engen, roten, selbstgeflickten Secondhand-Kleidchen und mit meinen zerfledderten Notizbüchern voller melodramatischer Prosa wirke ich auf der schmutzigen Barkulisse wie ein Klecks Klatschmohn: Hübsch und vergänglich. Für die Leute, die was zu sagen haben, bin ich eine plätschernde Hintergrundmelodie. Die Leute, die genauso wenig zu sagen haben, halten mich für arrogant.

Love ❤️ Mia

Kategorie Weekly

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