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Gastbeitrag: »Betrunken - Über die Freiheit und den Druck« von Galika Ivanov

Lieber Klub,

wir freuen uns, dass wir euch heute einen Gastbeitrag aus der Community präsentieren dürfen. Galika Ivanov wohnt im Ruhrgebiet. Die 37-Jährige arbeitet als Pressereferentin bei einer nachhaltigen Bank und ist gelernte Wirtschaftsredakteurin. Sie beschäftigt sich viel mit Geld, Gefühlen und Gerechtigkeit. Vielen Dank für den schönen Text, Galika!

Weiter unten findet ihr außerdem unsere aktuellen Termine.

Tausend Dank für euren Support und schönen Sonntag!

Mika & Mia

Betrunken - Über die Freiheit und den Druck

Von Galika Ivanov

Wie ich die Freiheit gesucht und die Enge in mir gefunden habe. Eine Anleitung mit 3 Fehlern und einer Lösung. (Damit du sie nicht wiederholen musst.)

Mit Mia und Mika im Ohr laufe ich zur Arbeit. „Habe ich wirklich ein Alkoholproblem und wann weiß ich das“ ist eine der bohrenden Fragen, die ich in mir drin, und die beiden stellvertretend für mich behandeln. Sie tönen in mir. Sie reihen sich ein in mein inneres Konzert. 

Neben Mia und Mika sind da noch andere Stimmen. Erstmal meine eigene, dann die Stimme der Vernunft, die Stimme der Unvernunft, die Stimme des Exzess, die Stimme der Kritik, die Stimme der Liebe und die innere Rebellin. Sie alle labern gleichzeitig drauflos. An einem ganz normalen Tag ertönt in mir der Chor des Chaos. Gerade streitet er darum, ob ich wirklich denke, dass ich zu viel Alkohol trinke. Und ob damit aufzuhören, DIE Lösung ist. „Ja, für was eigentlich?!“, höre ich die Rebellin nur noch leise. Dann muss ich die Kopfhörer ausmachen und ins Büro huschen.

Der Rückblick: Was habe ich da getan?

Ich bin nüchtern. Schon seit 31 Tagen. Am 1.1.2025 kurz nach Mitternacht habe ich mein vorerst letztes Glas getrunken. Es war Sekt. Wieso vorerst? Weil ich es einfacher finde, Tag für Tag nicht zu trinken, als ab jetzt für immer. 

Ich habe gern getrunken. Und viel. Seitdem ich 14 Jahre alt bin, gab es eigentlich jedes Wochenende Wein oder Vodka. Manchmal auch Bier, weil Bier immer da ist. Als ich studiert habe, war von Sonntag bis Freitag Wochenende. Als ich anfing zu arbeiten, wurden die Partys seltener. Dafür kamen Abendessen begleitet von „feinen Weinen“ dazu. Oder auch ner Pulle, aber das hinterfragt niemand so genau. 

Fehler Nr. 1: Ich sollte den Traum meiner Eltern leben

Alkohol war meine Auszeit. Schließlich war immer fleißig. Ich hatte große Ziele, war schnell und schlau, wollte viel über die Welt wissen. Als Kind mit Migrationsgeschichte, wenig Vitamin B und noch weniger Geld von zu Hause, sollte ich alles erreichen. Karriere, Schönheit, Macht, Vermögen und Liebe. Dafür sind doch meine Eltern aus Osteuropa nach Deutschland gekommen! Ich wollte ihren Traum erfüllen, egal, was es kostet. Auch meine Gesundheit. 

Fehler Nr. 2: Ich kann mich selbst nur betrunken spüren

Und dann gab es diese Momente, da wollte ich nur noch raus. Raus aus meinem zu eng geschnürten Korsett. Ich wollte frei sein, leicht sein. Ich wollte Verbundenheit, Freundschaft und Gemeinschaft. Ich wollte Spaß. Ich wollte leben. Heute weiß ich, dass ich mich selbst spüren wollte. Ich hatte einen brutalen Trugschluss begangen: Ich dachte, dass ich mich nur betrunken selbst spüren kann. Zauberwasser, ich komme!

Wow! Eine liebevolle Stimme in mir
In meinem nüchternen Monat höre ich immer wieder Podcastfolgen von Mika und Mia. Die Erinnerungen dieser beiden Frauen überlappen sich mit den Bildern meiner Vergangenheit. Wieso habe ich eigentlich so viel getrunken? Weil es diese tollen betrunkenen Momente gab. 

Ich erinnere mich, wie ich Freitagnacht den Club betrete. Die Musik rauscht durch meinen Körper. Ich sehe nur noch einen Tunnel aus Menschen. Sie sind mir egal. Ich stürme auf die Tanzfläche, um wild abzugehen. Meine innerer ChaosChor ist fast stumm. Da bleibt nur noch diese eine Stimme. Und sie ist grandios! Sie mag mich, sich ist nett und steht hinter mir. Es ist die Rauschstimme. „Hallo, ich habe dich unter der Woche so vermisst!“, höre ich mich denken. Sie ist diese wunderbare Person in meinem Kopf. 

Ich mache Pause, gehe an die Bar. Der Kellner gibt mir einen Schnaps - „geht aufs Haus“, sagt er. Ich zögere nicht lange. Stürze den Kurzen. Ich halte inne, ich fühle mich gut. Ich bin ausgelassen und froh. Kurz denke ich: Ist diese Rauschstimme etwa mein wahres Ich? Das wäre wirklich traurig. Ich will ja nicht immer trinken, um mich so zu fühlen, denke ich. Dann rempelt mich jemand aus versehen kann. Kurzer Augenkontakt, es war nichts. Ich unterbreche mich selbst beim denken und gehe wieder tanzen. 

Der Morgen nach dem Rausch

Viel zu früh wache ich auf. Mein Hals ist trocken, ich muss dringend auf Klo. Also wuchte ich mich aus dem Bett, laufe zum Bad, pinkle. Es dauert ewig. In der Zwischenzeit schaue ich meine Beine entlang und sehe neue blaue Flecken. Kein Blut. Dann ist alles ok, stelle ich fest. Ich war noch nie sehr gut, meinen Körper im Raum einzuschätzen.

Auf dem Weg zurück zum Bett komme ich unweigerlich am Spiegel vorbei. Ich schaue hinein. Mein Körper ist groß, zu groß. Mein Bauch aufgebläht. Oh neee, ich muss Sport machen. Ich muss den Alkohol rausschwitzen, denke ich. Eigentlich bin ich noch müde, aber auch unruhig. Ich trinke ein großes Wasser mit Magnesium, ziehe meine Laufsachen an, mache mir einen Kaffee. 

In voller Laufmontur setze ich mich erstmal auf die Couch. Gleich gehst du los, sagt eine Stimme. Ich bekomme Hunger. Mache mir ein Brot – nicht zu viel, ich will ja noch laufen gehen – und esse das Brot. Zwei Stunden später sitze ich noch immer auf der gleichen Stelle, hungrig und verkatert.

Fehler Nr. 3: Aufstehen, abnehmen, Druck machen

Ich fühle mich schlecht. Jetzt sind wirklich alle wieder wach. „Du bist faul. Häßlich. So wird das nie was! Wieso denkst du eigentlich, dass du irgendwie Liebe verdient hast?!“, pöbeln die Stimmen des ChaosChors durcheinander.

Ich vermisse das freie Gefühl von gestern Abend. Heute spüre ich nur Druck. Es rasselt im Kopf, ich fühle mich unwohl, eng. Ich gehe raus. „Wenigstens einmal frische Luft und um den Block“, redet sie auf mich ein, die Stimme der Vernunft. Hallo. 

Ich schaffe 23 Minuten. Duschen, umziehen, danach Leben in den Griff bekommen. Gesichtsmaske, aufräumen, abnehmen, sowas. Ein paar Stunden später kommt diese seltsame Gefühl zurück. Ich fühle mich eingeengt und allein. Ich brauche Gesellschaft und das Zauberwasser, denke ich. Ganz viel Zauberwasser.

Lösung Nr. 4: Kein Zauberwasser mehr

Das war 23 Jahre lang mein Kreislauf. Bis jetzt. Seit mehr als einem Monat bin ich ausgestiegen. Wieso? Weil ich nicht glücklicher wurde. Weil die Rauschstimme seltener vorbei kam. Weil ich hoffe, dass sie sich zeigt, wenn ich andere Formen der Auszeit und Entspannung finde. Und auch wenn ich gerade erst am Anfang stehe, spüre ich jeden Tag kleine Details, die einen Vorgeschmack auf etwas Großes bieten.

Ich ahne, dass es echte Freiheit ist.

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Kategorie Gastbeiträge

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