Schon wieder #notallmen
Hallo alle,
entschuldigt die kleine Verspätung. Ich habe diese Woche viele Termine (Öffnet in neuem Fenster). Heute am 21. September sehen wir uns um 15 Uhr in Eberswalde in Palanca e.V. Und morgen zur gleichen Uhrzeit in Rostock im Peter Weiß Haus. Ich lese aus “Weißen Feminismus canceln” und wir diskutieren gemeinsam über Feminismus. Ein paar Bücher zu erwerben gibt es, und für Snacks und Getränke ist auch gesorgt. Kommt rum!
September war kein sonderlich guter Monat für Frauen. Der Avignon-Prozess, in dem es gegen die vielfache Vergewaltigung einer 72-jährigen Frau Gisèle Pelicot durch ihren Mann und duzende Männer, denen er sie zur Vergewaltigung “anbot”, geht. Der Mord an die Marathon-Läuferin Rebecca Cheptegei aus Uganda und der an die angehende 31-jährige Ärztin in Indien. Schon wieder kocht Social Media über: #notallmen #butalwaysaman, heißt es dort: Nicht alle Männer, aber immer wieder Männer.
Die Kollegin Elisa von Hof schrieb am 15. September für “Der Spiegel” einen wütenden Text (Öffnet in neuem Fenster) und forderte unter anderem, dass Männer endlich anfangen sollten an sich zu arbeiten, weil es für Frauen keinerlei sicheren Orte gibt. Sie zählt sexistische Diskriminierung und Benachteiligung von Frauen und Mädchen auf, von Pay Gap bis hin zu Femiziden. Ihr Ton ist wütend, aber Wut ist nachvollziehbar, wenn man eine brutale Nachricht nach der anderen bekommt und die Täter halt immer Männer sind, die unter diesen Nachrichten nichts besseres zu schreiben haben als “nicht alle Männer”. Von Hof hatte in ihrem Text darauf verzichtet, über die strukturelle Ebene nachzudenken und konkrete Lösungsvorschläge zu formulieren. Wenn die Redaktion kein Problem damit hat, habe ich auch kein Problem damit. Manchmal muss einfach die Wut raus.
Nun erschien aber eine Replik (Öffnet in neuem Fenster) von ihrem Spiegel-Kollegen Ralf Neukirch und er scheint, so steht es zumindest in seinem Text, sehr wohl ein Problem damit zu haben, dass Kollegin von Hof nicht über die Strukturen nachzudenken scheint. Nun ja, in seinem Text will er seine Kollegin kritisieren, nicht über die Strukturen nachzudenken, sodass man erwartet, dass es dies zumindest selber besser macht. Was er stattdessen macht? Das schauen wir uns jetzt mal kurz an.
Neukirch schreibt davon, dass Männer stärker und heftiger von Gewalt betroffen sind als Frauen. Statistisch betrachtet trifft es für Deutschland teilweise zu (im Nachbarland Österreich werden allerdings jährlich mehr Frauen als Männer getötet, aber naja). Dieses sehr reale Problem namens Männergewalt nimmt er als Anlass, um den Feminismus Eigeninteresse und böse Absichten zu unterstellen und auf seinem Weg Jungen und Männer skrupellos der Gnade gewalttätiger Männer auszuliefern:
“Es bringt nur nichts, Benachteiligungen gegeneinander aufzurechnen. Das macht die Frauenlobby auch nicht. Sie bestreitet schlicht, dass es Bereiche gibt, in denen Männer systematisch benachteiligt werden.
Das hat seine innere Logik. Aufmerksamkeit und öffentliches Geld sind begrenzte Ressourcen. Das Geld, das in eine Anlaufstelle für missbrauchte Jungen geht, fehlt vielleicht für ein Frauenhaus. Andererseits: Wenn der Staat sich mehr um missbrauchte Jungen kümmern würde, wären vielleicht auch weniger Frauenhäuser nötig.”
Erstens sind öffentliche Gelder nicht begrenzt, sie werden ungleich und sinnlos verteilt. Zweitens kann er seine Behauptung, dass es darum ginge, Jungs unter den Bus zu werfen, um das nächste Frauenhaus zu bauen, nicht belegen, und sie grenzt an Diffamierung. Drittens ist es realitätsfern, denn Feminist*innen sagen schon seit Jahren, dass Frauenhäuser keinerlei die Lösung bzw. Prävention darstellen, sondern vielmehr Ausdruck einer Gesellschaft sind, die nicht bevor, sondern erst nachdem Gewalt geschehen ist, agieren möchte. Faktenchecken wäre Teil des Jobs, aber wem erzähle ich das.
Dem Kollegen, der offensichtlich ein sehr großes Problem mit Feminismus hat, reicht diese Unterstellung aber scheinbar nicht. Ungebremst und frontal erklärt er den Feminismus für Menschenhandel, Vergewaltigung und Gewalt für verantwortlich:
“Jungen werden in der Schule abgehängt, sie finden in ihrer Not keine Hilfe, ihnen wird andauernd gespiegelt, dass sie im Vergleich zu Mädchen defizitäre Wesen sind - und dann bekommen sie von meiner Kollegin den Ratschlag: »Es wird Zeit, dass ihr endlich an euch arbeitet.« Es braucht sich niemand zu wundern, dass viele junge Männer einem chauvinistischen und gewalttätigen Influencer wie Andrew Tate hinterherlaufen.”
Aus der Gruppe der Männer, die Andrew Tate hinterherlaufen, werden die zukünftigen Andrew Tates herauswachsen – das ist überhaupt der Sinn, dass Tate alles, was er macht, öffentlich zur Schau stellt. Das auf diese Weise zu verharmlosen gleicht, Andrew Tate und all seine Taten zu verharmlosen und all die Schuld auf Feminismus abzuladen. Frauen werden entführt und vergewaltigt wegen Feminismus. Frauen werden geschlagen und ermordet wegen Feminismus. Nein. Frauen dürfen nicht mehr von ihren Ehemännern vergewaltigt werden wegen Feminismus. Frauen müssen nicht mehr heiraten, um überhaupt existieren zu können, wegen Feminismus. Aber echt, meine herzlichen Glückwünsche an Kollegen Ralf Neukirch: Ein Nazi mit dem Auftrag, etwas über Feminismus zu schreiben, hätte den Text genauso schreiben können.
Zwei nicht so schlimme Aspekte dieses Artikels gab es schon. Das erste war die Behauptung, Männerhass sei inzwischen ein ganzes journalistisches Genre (hahahahaha). Und das zweite zitiere ich unten:
“Männer missbrauchen Macht, weil sie welche haben. Wenn Frauen mehr Macht bekommen, missbrauchen sie diese auch. Das zeigt die Praxis. Am besten wäre es wohl, man suchte gemeinsam nach Lösungen. Das scheint nur nicht gewünscht zu sein.”
Ayayay. Genau über dieses Problem habe ich ein ganzes Buch geschrieben. Dass es Unsinn ist, Frauen per se als Opfer und Männer per se als Täter darzustellen. Dass es ein Erbe vom Kolonialismus ist und mit Weißsein zu tun hat. Ralf hat es nicht gelesen. Kein Mensch vom Spiegel hat es gelesen, und es ist auch nicht so, als hätten sie das Buch nicht mitbekommen. Mich haben sie nie für ein Interview angefragt, mein Buch ignoriert, es nicht einmal rezensiert. Warum? Damit Ralfs der Redaktion die Existenz von Büchern wie meins verleugnen können?
Und überhaupt finde ich es sehr interessant, dass der Kollege erst nach dem Text von Kollegin von Hof an das Wohlergehen von Jungs und Männern zu denken scheint. Ich habe mir sein Autorenprofil angesehen und konnte leider keinen einzigen Text zu dem Thema finden. Dabei sagt er zu Beginn, dass er auf das Thema nicht neutral schaue, weil er Söhne habe. Warum gerade jetzt daran denken, wo patriarchale Gewalt eine neue Eskalationsstufe erreicht? Und dabei so tun, als ob Feminismus Männerhass wäre und seinen Söhnen was böses antun würde, während es der Feminismus ist, der auch seine Söhne befreit? Das ist antifeministische Propaganda, getarnt als väterliche Fürsorge.
Seit Jahren versuchen zahlreiche Feminist*innen, auch im deutschsprachigen Raum, den Fokus vom Persönlichen zu nehmen und auf das Strukturelle zu lenken, weil sie wissen, dass man Probleme nur so nachhaltig lösen kann. Ihre Bemühungen finden kaum Einklang, reichweiten- bzw. auflagenstarke Medien wie Spiegel ignorieren sie weitestgehend. Stattdessen geben sie Stimmen Raum, die mit weißem Feminismus an der Oberfläche kratzen – damit lässt scheinbar mehr Geld generieren. Diese Personen dann als Projektionsfläche zu nutzen und den gesamten Feminismus anzugreifen macht dazu vielleicht auch noch Spaß, ich weiß es nicht.
Der Spiegel würde sich selbst und der Gesellschaft einen Gefallen tun, auch jenen Stimmen, die sich eine freie Welt und eine gerechte Gesellschaft wünschen und auf dieses Ziel hinarbeiten, Raum zu geben und sie zu verstärken. Wenn es weitergeht wie bisher, dauert es nicht lange, bis die AfD Deutschland regiert. So könnte man wenigstens noch sagen, man hätte etwas dagegen gemacht.
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Danke fürs Lesen und bis Oktober liebe Grüße
Sibel Schick 🍋