Sind Creators die besseren Journalist:innen?
Mein Membership-Newsletter "Blaupause" hilft dir, dich unabhängig zu machen, indem du erfolgreich Mitgliedschaften anbietest. Heute schreibe ich über neue Arten, vom Krieg zu berichten, und was das mit der Veränderung der Medienindustrie zu tun hat. Ganz am Ende findest du außerdem eine Einladung.
Hallo!
Ich weiß nicht viel über Kamil Galeev. Er ist wahrscheinlich ein junger Russe, Studium in Peking, St. Andrews, Washington. Als Teilnehmer der Proteste in Moskau 2020 soll er einmal verhaftet worden sein, sagt das Internet. Viel mehr weiß ich über Kamil Galeev nicht.
Ich kann nicht sicher sein, dass Galeev zu trauen ist. Aber trotzdem lese ich alles, was er zum Krieg zu sagen hat. Und ich bin nicht der einzige. Sein Twitter-Account (@kamilkazani (Öffnet in neuem Fenster)) ist in den vergangenen beiden Wochen von 9.000 auf heute mehr als 140.000 Follower angeschwollen. Der Grund: Seine Mini-Essays in Form von Threads (Öffnet in neuem Fenster). Von soziologischen und militärhistorischen Bezügen strotzende Analysen des russischen Vormarschs. Teilweise enthalten die Texte gewagte Prognosen und Zuspitzungen (die russischen Fallschirmjäger sind seiner Meinung nach eher eine Show-Truppe als eine Elite-Einheit (Öffnet in neuem Fenster)). Anderes sind schwer überprüfbare Spekulationen (ist Telegram ein Instrument des russischen Staates (Öffnet in neuem Fenster)?). Manches ist vielleicht eher Wunschdenken (“Warum Russland den Krieg verlieren wird (Öffnet in neuem Fenster)”). Aber im Großen und Ganzen sind diese Texte ungewöhnlich intelligent, informiert und intellektuell originell.
Bei jede neuen großen Krise unserer Zeit wurden Analyst:innen wie Kamil Galeev wichtiger. Vom Irak-Krieg, über die Weltfinanzkrise und die Flucht der Syrer bis zur Corona-Epidemie haben Leute wie er von Mal zu Mal besser geholfen, die komplexen Informationen zu verdauen. Ich glaube, es gibt noch keinen etablierten Begriff für diese neue Rolle in der Öffentlichkeit, die der aktuell und ohne Umweg über die traditionellen Medien publizierenden Expert:innen. Ihre zunehmende Bedeutung gehört aber zu einem größeren Trend, der mich und wahrscheinlich auch dich als Leser:in dieses Newsletters interessiert: der Aufstieg der Creator Economy.
Ich weiß nicht viel über Hubert aus Polen. 2019 hat er geheiratet, wurde Patenonkel, adoptierte einen Hund und startete Good Times Bad Times (Öffnet in neuem Fenster), einen englischsprachigen YouTube-Kanal über Geopolitik. Viel mehr weiß ich über Hubert nicht.
Seit dem ersten Tag des Überfalls auf die Ukraine veröffentlicht er Zusammenfassungen der militärischen Lage, und für mich sind diese Videos im Moment die am besten aufbereiteten Nachrichten über den Konflikt. Hier die aktuellste Ausgabe.
https://youtu.be/j7HKH7AGQNc (Öffnet in neuem Fenster)Vielen Dank an "Komet", der mich im Krautreporter Discord-Channel #Geopolitik (Öffnet in neuem Fenster) auf Good Times Bad Times gestoßen hat. So hat sich die Zahl der YouTube-Subscriber von Good Times Bad Times entwickelt:
Quelle: Socialblade.com (Öffnet in neuem Fenster)
Hubert und Kamil verbindet einiges. Beide bitten ihr Publikum um finanzielle Beteiligung durch Memberships; Kamil bei Patreon (Öffnet in neuem Fenster), Hubert bei YouTube (Öffnet in neuem Fenster) und Patreon (Öffnet in neuem Fenster). Kamil schreibt zusätzlich einen Newsletter bei Substack (Öffnet in neuem Fenster), beide verbreiten ihre Inhalte über Twitter. Beide bezeichnen sich nicht als Journalisten. Sie bezeichnen ihre Rolle gar nicht.
Beide betreiben aber kleine Medienunternehmen. Sie haben einen direkten Draht zu Publikum via Social Media, einen Ort, um Texte, Videos oder Podcasts zu veröffentlichen, manchmal einen Ort, zum Beispiel einen Discord, um mit der Community zu kommunizieren. Und dazu einen Membership-Plattform, um Geld zu verdienen. So sehen Medien 2022 aus.
Ich weiß nicht viel über Tanja Maier. "Russischsprachige Arizonierin in Wien. In Kanada geboren. Geburtsname endet auf ić. Mutter von 3 Kindern. Russland, Ukraine, Weißrussland, Österreich, USA, Balkan", lautet ihre Twitter-Bio (Öffnet in neuem Fenster). Viel mehr weiß ich über Tanja Maier nicht.
Ich weiß aber, dass ihr täglicher Substack-Newsletter (Öffnet in neuem Fenster) mir das Herz bricht. Sie berichtet über die Verwandlung der russischen Gesellschaft zur Diktatur, die sich in diesen Tagen ruckartig vollzieht. Sie schreibt aus ihrem Alltag, immer zwischendurch, kurz bevor sie ihr elfjähriges Kind vom Training abholen muss zum Beispiel. Zwischen den Zeilen spürt man ihren Schmerz und die Wut, den dieser Krieg auch denen bereitet, die auf ein anderes Russland gehofft haben.
https://twitter.com/tanjamaier17/status/1500113714758000643 (Öffnet in neuem Fenster)Dabei befindet sich Tanja Maier gar nicht in Russland. Trotzdem informieren mich ihre E-Mails über die Lage dort viel eindrucksvoller und ganz anders, als es Fernsehsendern und Tageszeitungen je schaffen könnten.
Wer ist Creator? Und wer Journalist:in?
Ich finde es aber überflüssig, die beiden Mediengattung gegeneinander auszuspielen. Viele der Journalist:innen vor Ort leisten mit Mut gerade Außergewöhnliches (übrigens zu oft schlecht bezahlt (Öffnet in neuem Fenster) und geschützt (Öffnet in neuem Fenster)). Drei Beispiele. Diese beeindruckende Schalte der CNN-Korrespondentin Clarissa Ward.
https://youtu.be/4pdNnpCD5Ew (Öffnet in neuem Fenster)Diese Zoom-Unterhaltung (Öffnet in neuem Fenster) zwischen vier Economist-Redakteur:innen öffnet die Augen, so erscheckend die Analysen auch sind. Oder dieses Zusammenhangs-Paket (Öffnet in neuem Fenster), das meine Krautreporter-Kolleg:innen gerade veröffentlicht haben und das es tatsächlich schafft, den Krieg verständlich zu machen.
Gleichzeitig hilft die neue publizistische Arbeit der “Creators”, ein vollständigeres, menschlicheres Bild der aktuellen Nachrichten zu erzeugen – durch ihre enge Bindung an die Community und den nicht-journalitischen Blick. Sie ergänzen die traditionell auf Objektivität und Sachlichkeit getrimmten Informationen des professionellen Journalismus um eine bisher fehlende Perspektive.
Tatsächlich wird es schwerer, die Rollen Creator und Journalist:in voneinander abzugrenzen. In Amerika führt diese Entwicklung gerade zu Verwerfungen in der Medienindustrie. Reporter:innen, die sich mithilfe einer der großen Medienmarken einen Namen gemacht haben, verlassen immer häufiger ihre festen Jobs auf der Suche nach Freiheit. Die New York Times sah sich gezwungen, eine spezielle Abteilung einzurichten, das Newsroom Culture and Careers Department (Öffnet in neuem Fenster), um einer Kündigungswelle ihrer besten Leute entgegenzuwirken (Öffnet in neuem Fenster). Creator sein ist attraktiv als alternatives Job-Modell, das es Journalist:innen erlaubt, ihre eigenen Communitys zu bedienen und ihre Arbeit so zu machen, wie sie es für richtig halten, statt einer Chefredaktion gefallen zu müssen. Für manche big names in Amerika sind die Creator-Einkommen attraktiver als eine Festanstellungen bei einem Verlag.
Von diesem Konflikt handelt eine Auseinandersetzung, die am Wochenende zwischen Taylor Lorenz und Maggie Haberman eskaliert ist, zwei Ikonen unterschiedlicher Journalist:innen-Generationen der New York Times. Haberman ist eine politische Investigativ-Reporterin, die mit ihren Enthüllungen Donald Trump immer wieder zusetzen konnte und für ihre Recherchen über die Manipulationen Russlands im Präsidentschaftswahl 2016 den Pulitzerpreis erhielt. Lorenz hat sich einen Namen gemacht, indem sie mehr oder weniger im Alleingang einen neuen Beat (ein journalistisches Fachgebiet) erfand, die Berichterstattung über die Creator Economy nämlich, also die Analyse der digitalen Öffentlichkeit in sozialen Netzwerken.
Lorenz wechselt nun zur Konkurrenz Washington Post (Öffnet in neuem Fenster). Die Zeitung baut um die Journalistin herum eine Art Markenwelt auf mit Podcasts, Newslettern und Events. So viel Star-Tamtam führt zu Irritationen unterhaltsamer Art. Lorenz und Haberman können sich eh nicht leiden – erstere soll letztere im NYT-Slack mit einem Schimpfworten belegt haben (Öffnet in neuem Fenster), das mit B anfängt. Nun fragt die Investigativ-Reporterin auf Twitter genervt, ob auf der Welt gerade nichts los sei als das Aufmerksamkeits-Geheische “mancher Leute”.
https://twitter.com/maggieNYT/status/1499450934111449090 (Öffnet in neuem Fenster)Worauf sich Lorenz angesprochen fühlen durfte und mit der durchaus nachvollziehbaren Beobachtung zurückschlug, dass Haberman das Spiel mit dem eigenen Namen als Marke ja selbst bestens beherrsche:
https://twitter.com/TaylorLorenz/status/1499975617088917505 (Öffnet in neuem Fenster)Und so ging es weiter hin und her. Solche Nervositäten deuten meiner Meinung nach auf grundsätzliche Verschiebungen im Beruf Journalismus hin.
Die Creator Economy kommt nach Deutschland
In Amerika geschieht ja bekanntlich das Gleiche wie bei uns, nur ein paar Jahre früher. Deswegen sollte sich die Medienindustrie auch in Deutschland besser schon jetzt mit der neuen Konkurrenz der Creator Economy auseinandersetzen. Tatsächlich gibt es entsprechende Entwicklungen auch hier, wenn man genau hinsieht. Gerade erst hat Spiegel-Kolumnistin Anja Rützel ihren ersten wöchentlichen Steady-Newsletter (Öffnet in neuem Fenster) veröffentlicht. Seit er dem Spiegel den Rücken kehrte, schriebt Star-Essayist Nils Minkmar seinen erfolgreichen Newsletter “Der Siebte Tag” (Öffnet in neuem Fenster). Und auch der Investigativ-Reporter Hans-Martin Tillack startete, als er den Stern verließ, erstmal einen Newsletter.
Ich persönlich hätte dem Kolumnisten Harald Martenstein geraten, sein sehr spezielles Publikum nicht zur Welt mitzunehmen (Öffnet in neuem Fenster), sondern einfach auf eigene Faust loszulegen, mit Newsletter, Podcast, Büchern und so weiter. (Noch wahrscheinlicher hätte ich Martenstein allerdings geraten, sich zur Ruhe zu setzen.) Bei seinem ehemaligen Chefredakteur Lorenz Maroldt wiederum stellt sich die Frage, wer wen mehr braucht: Maroldt den Tagesspiegel? Oder der Tagesspiegel Maroldt und seinen Newsletter “Checkpoint”? Auch Gabor Steingarts Community-Plattform The Pioneer (Öffnet in neuem Fenster) ist eine Creator-Story: Teil seiner Abfindung als Handelsblatt-Chef war eine Datei mit dem E-Mail-Verteiler seines Newsletters “Morning Briefing”. Diese Community von Menschen, die einem Character wie Steingart folgen, war dem Verlag Axel Springer viele Millionen Investment wert. Das Geschäftsmodell: Mitgliedschaften.
Der Wettbewerb um die besten Journalismus-Talente hat also einen neuen Wettbewerber: eine selbsständige Karriere außerhalb der traditionellen Medien. Daran glaubt auch die Journalistin und Managerin Anita Zielina, die am Freitag bekannt machte (Öffnet in neuem Fenster), dass sie ihren Job an der Newmark Journalism School in New York aufgibt, um in Wien ein eigenes Talent-Unternehmen aufzubauen. “I often get asked what I think will be the biggest disruption in media in the next 2-3 years. My answer: Talent, Recruiting, Retention, Development, Culture - every media organization competes with the creator economy & the big resignation for talent, and legacy HR (and leadership, for that matter) are NOT ready for that competition”, schreibt sie. Ich tippe, sie hat recht.
Es gibt noch viel zu sagen über das Unglück der Medien in Russland und der Ukraine, und wie Memberships für die meisten von ihnen schon bisher die beste Hoffnung waren und es jetzt ganz besonders sind. Wahrscheinlich schreibe ich die nächste Blaupause darüber, will aber schon heute auf zwei dringende Hilferufe aufmerksam machen:
Medusa (Öffnet in neuem Fenster) in Moskau wurde gestern komplett ausgeschaltet. Die Redaktion braucht uns wie nie zuvor.
Das Magazin The Fix (Öffnet in neuem Fenster) organisiert Überlebenshilfe für ukrainische unabhängige Medien. Die Gründer Daryna Shevchenko ist immer noch in Kyiv als Geschäftsführer des Kyiv Independent. Der zweite Gründer, Jakub Parusinski, ist der ehemalige Geschäftsführer der Kyiv Post, auch Chefredakteur Zakhar Protsiuk ist Ukrainer. Geld kommt also zielgenau an.
Viel können wir nicht tun gerade, aber diese Hilfe ist nur zwei Klicks entfernt.
Bis nächsten Montag,
👋 Sebastian
Einladung 🎈
Ich habe in den vergangenen Wochen mit einigen Blaupause-Leser:innen gesprochen. Jede dieser Unterhaltungen war interessant und inspirierend. Mehrere meiner Gesprächspartner:innen wünschten sich, mit anderen Leuten regelmäßig in Kontakt zu sein, die sich für das Thema Mitgliedschaften interessieren oder selbst Memberships anbieten. Darum habe ich am Wochenende eine Blaupause-Discord-Community eingerichtet und würde mich sehr freuen, wenn du auch vorbeikommen würdest!
PS: Für Blaupause-Mitglieder organisiere ich von jetzt an jeden Montag um fünf ein Membership Think-In, gleich heute zum ersten Mal. Wir treffen uns im Video-Chat und reden, zum Beispiel über das Thema der aktuellen Ausgabe. Eine separate Einladung für Mitglieder folgt gleich. Jetzt Mitglied werden! (Öffnet in neuem Fenster)