Kennst du Terry Gross?
Es ist Montagmorgen. Du liest die Blaupause, den Newsletter, mit dem du Communitys besser verstehst und erfolgreich Mitgliedschaften anbietest. Heute: mein amerikanisches Vorbild.
Hallo!
Wenn ich kurz persönlich werden darf: Ich war am Wochenende erschöpft. Keine große, grundsätzliche Erschöpfung. Eher die, die du sicher auch kennst, wenn der letzte Urlaub zu lange her ist. Wenn vieles gleichzeitig passiert. Wenn der Schlaf zu kurz kommt. Und wenn die Liste der Aufgaben lang wirkt.
Nach zwei Mittagsschlafen, Musik hören, ein paar Stunden im Wald mit dem Hund geht es mir besser. Darum erlaube mir heute, aus Erholungsgründen leicht vom gewohnten Blaupause-Thema abzuweichen und über jemanden zu schreiben, die ich nicht kenne, aber die mir am Herzen liegt.
In diesem Newsletter habe ich in den letzten Monaten (nicht ohne Größenwahn) gefordert, dass wir uns als deutsche und europäische Medien und User unabhängiger machen sollten von amerikanischer Infrastruktur und politischem Einfluss.
Ich habe die Washington Post zu Washington Toast erklärt (Öffnet in neuem Fenster).
Ich habe ein Verbot amerikanischer Plattformen gefordert (Öffnet in neuem Fenster).
Ich habe mich von X und Meta verabschiedet (Öffnet in neuem Fenster).
Diese Haltung liegt in der Luft in Europa. Spätestens seit der zweiten Trump-Amtszeit, eigentlich seit dem Irak-Krieg unter George W. Bush. Viele der neuen amerikanischen Werte sind nicht mehr meine, und auch nicht die von vielen anderen Europäer:innen. Das beruht auf Gegenseitigkeit, sagt JD Vance.
Die andere Hälfte Amerika
Und trotzdem fühlt sich das Schlussmachen mit Amerika nicht ganz richtig an. Denn es gibt die andere Hälfte. Ihr fühle ich mich oft näher als vielem bei uns.
In Europa gilt es als ausgemacht, Amerikaner hätten keine Kultur. Ich finde: Das Gegenteil ist richtig. Die amerikanische Kultur hat Seele, Tiefe, Menschlichkeit. Sie hat einen Sound, der meinen Bauch und mein Herz leichter erreicht. Sie wirkt auf mich authentischer als das, was in Deutschland produziert wird.
So eine pauschale Aussage fordert sofort Widerspruch heraus. Ich will aber gar nicht provozieren. Wenn wir ehrlich sind, stimmt es einfach: Bücher, Filme, Musik und auch Medien haben in Amerika eine bessere Qualität als bei uns, es gibt dort viel zu lernen.
Mein erstes Podcast-Abo
Daran musste ich denken, als ich diese Woche eine Podcast-Folge gehört habe. Die Sendung heißt Fresh Air und wird vom Radiosender NPR produziert – ein Interview-Format. Ich höre seit 2007 zu. Es war das erste, was ich in meiner Podcast-App Pocket Casts (Öffnet in neuem Fenster) abonniert habe.
In der erwähnten Episode spricht die Moderatorin Terry Gross eine halbe Stunde über ihren Ehemann, den Jazz-Kritiker Francis Davis, der vor wenigen Wochen 78-jährig nach schwerer Krankheit gestorben ist. Sie spricht über ihre 47 gemeinsamen Jahre mit Francis, die Poster in ihrer Wohnung und das gemeinsame Musikhören am Küchentisch. Sie zitiert aus den Nachrufen auf ihn, spielt seine Lieblingsmusik, liest aus seinen Texten vor: For me, reading him is now my best way of feeling like I’m spending time with him. I’ve been reading him a lot lately.
https://www.npr.org/2025/05/01/nx-s1-5382583/terry-gross-francis-davis (Öffnet in neuem Fenster)Diese halbe Stunde ist so berührend, weil die Journalistin ihre Trauer und Liebe in einfache Worte fasst. Aber auch, weil ich einem Menschen zuhöre, den ich nicht persönlich kenne, dessen Stimme aber seit 17 Jahren in meinem Kopf präsent ist und mein Leben begleitet.
Man muss dazu sagen, dass Gross in Amerika kein Geheimtipp ist, sondern Millionen Hörer:innen sie als Teil ihrer Familie betrachten. Sie führt seit Mitte der 70er-Jahre jeden Tag Interviews, also länger als ich lebe. Sie spricht mit Präsidenten und Nobelpreisträgern, Wissenschaftlern und Journalistinnen, am liebsten aber mit Musiker:innen und anderen Kulturleuten. Mit denen fachsimpelt sie über einzelne Textzeilen, traditionelle Songs, ihre Instrumente und andere handwerkliche Details. Sie spricht ihre Sprache.
Disziplin, Ausdauer und Fleiß von Terry Gross dürften einmalig sein. Seit 50 Jahren arbeitet sie von 8 bis 6 und bereitet sich am Wochenende in ihrer Wohnung in Philadelphia auf die nächsten Interviews vor. Das Fresh Air Archive (Öffnet in neuem Fenster) – ihr Lebenswerk – enthält mehr als 22.000 Beiträge. Ich empfehle, sich dort eine Playlist nach den eigenen Interessen zusammenzustellen. Danach kannst du buchstäblich jahrelang Gesprächen mit interessanten Menschen zuhören.
Wie Interviews besser werden
Seit ich Terry Gross höre, führe ich auch selbst andere Interviews. Konfrontative Befragungen interessieren mich nicht mehr. Mein Ziel ist es vielmehr, einem Gespräch, wie sie es führt, auch nur entfernt nahezukommen.
https://www.nytimes.com/2018/11/17/style/self-care/terry-gross-conversation-advice.html (Öffnet in neuem Fenster)Sie hört so gut zu, beobachtet so scharf, ihre Fragen sind so einfach und gleichzeitig ausnahmslos originell. Ziel ist es, ihr Gegenüber als Menschen kennenzulernen und dabei herauszufinden, wie es zu diesem Menschen wurde. Dabei ist sie geduldig und nachsichtig, aber sie kontrolliert das Gespräch mühelos. Sie behält totale Kontrolle. Schwer zu beschreiben, bitte hör es dir an.
Der deutsche Illustrator Christoph Niemann, der 2012 noch in New York lebte, hat damals ein Video gezeichnet, das auf einem Terry-Gross-Interview mit dem Kinderbuchillustrator Maurice Sendak beruht. Der Künstler („Wo die wilden Kerle wohnen“) spricht darin über seinem kurz bevorstehenden Tod, aber er beschreibt auch seine Zuneigung zur Interviewerin, die wohl viele Hörer:innen nachvollziehen können.
https://www.youtube.com/watch?v=TH2OaaktJrw (Öffnet in neuem Fenster)Wie Terry Gross aussieht, weiß man erst seit dem Internet, denn vorher weigerte sie sich, Fotos zu veröffentlichen; die Zuhörer:innen sollten ein eigenes Bild von ihr finden. Jetzt kann man sie anschauen und feststellen, dass ihre warme, große Stimme in einem winzigen Körper wohnt. Sie ist 4 Fuß, 11 Zoll groß, also etwa 1,50 Meter – hier zu sehen im direkten Vergleich mit dem bekannten Moderator Ira Glass („This American Life“), einer der wenigen, der sie selbst interviewen darf.

This is exciting stuff to me
Der andere ist der Komiker und legendäre Podcaster Marc Maron („WFT“), ebenfalls ein Ausnahme-Interviewer. Sein Gespräch mit Terry Gross von 2015 vor einem Live-Publikum ist wirklich sehr unterhaltsam – lustig und gleichzeitig rührend, weil man ihm die Freude anmerkt, etwas Persönliches aus Terry herauszuquetschen, quasi in unser aller Namen.
https://www.wtfpod.com/podcast/episodes/episode_604_-_terry_gross (Öffnet in neuem Fenster)Erstaunlicherweise klappt das: Sie gibt preis, in den Sechzigerjahren schon einmal verheiratet gewesen zu sein. Worauf hin er entschuldigend anmerkt: You have to understand – a lot of us have created a life for you, Terry. This is all exciting information. We can be funny, and just brush over stuff all night long, but this is exciting stuff to me.
Um den Bogen zum Anfang zu schlagen:
Für mich ist Terry Gross eines meiner wenigen Vorbilder. Nicht, obwohl sie amerikanische Kultur kennt, vermittelt und verkörpert. Sondern weil.
Bis nächsten Montag!
👋 Sebastian
PS:
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https://lu.ma/n6bp2822 (Öffnet in neuem Fenster)🤗 Fand ich hilfreich (Öffnet in neuem Fenster) 😐 War ganz okay (Öffnet in neuem Fenster) 🥱 Für mich uninteressant (Öffnet in neuem Fenster)
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