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„Wo ist dein Platz, ey?“

Montagmorgen. Du liest die Blaupause, den Newsletter, mit dem du Communitys besser verstehst und erfolgreich Mitgliedschaften anbietest. Diese Woche: Ein Gespräch mit Sebastian Turner.

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Sebastian Turner, Gründer von Table Media

Hallo!

Es gibt ja nicht viele Gründer:innen von Medienunternehmen heutzutage, und Sebastian Turner ist einer der interessantesten unter ihnen. Ich habe mich in der vergangenen Woche mit dem Unternehmer, Verleger und Blaupause-Mitglied zu einem langen Gespräch getroffen. Sein Journalismus-Start-up Table Media (Öffnet in neuem Fenster) setzt ganz auf Newsletter-Abos für Spezial-Communitys. Etwa hundert Leute arbeiten dort inzwischen und produzieren sogenannte Professional Briefings, die zwischen 159 und 199 Euro im Monat kosten, zu den Themen China, Berliner Politik, Europa, Bildung, Forschung, Klima, Sicherheit, Nachhaltigkeitspolitik und Afrika.

Sebastian Turner ist (bis morgen noch) 56 Jahre alt, liberal-konservativer Schwabe, Sohn eines Jura-Professors und Hochschul-Managers. Sehr jung startete er das Fachblatt Medium Magazin (Öffnet in neuem Fenster). Mit dem Mauerfall ging er nach Ostdeutschland und gründete eine Werbeagentur, die in Scholz & Friends aufging, einer der größten Europas. „Wir können alles. Außer Hochdeutsch.“ – das ist beispielsweise von ihm. Bei Scholz & Friends war Turner bis 2008 Chef und Teilhaber. Er ist parteilos, kandidierte aber 2012 für CDU, FDP und Freie Wähler bei der Wahl zum Oberbürgermeister von Stuttgart. Nach seiner Zeit als Werber zog es ihn zurück zum Journalismus; erst als Gesellschafter und Herausgeber des Tagesspiegels und Investor in Medien-Technologie-Unternehmen, ab 2020 als Gründer von Table Media.

Ich würde die Assoziationen der Leute, die ich in den Tagen vor unserem Treffen nach Sebastian Turner gefragt habe, als Mischung aus Ehrfurcht und Bammel beschreiben. Der Mann habe scharfe Analysen auf Lager, und er tue sie genauso scharf kund, ohne sich mit Befindlichkeiten des Gegenübers aufzuhalten. Darum war ich zunächst überrascht von der Umgänglichkeit eines geduldigen und originell denkenden Gesprächspartners, der – wie ich – Schwächen hat für die Veränderung der Medien, differenzierenden Journalismus – und Vier-Felder-Matrizes.

Hier bei Spotify oder in der App deiner Wahl hören (Öffnet in neuem Fenster)

Sebastian Turner, lassen Sie uns über die Grafik sprechen, die Sie auf Ihre Webseite gestellt haben, um zu erklären, was Table Media anders macht. Wie ist die zu interpretieren?

Wenn man versucht, ein neues Produkt zu entwickeln oder einen Markt zu verstehen, dann kommt man auf den kürzlich in einer Fachinformation für Mediengründer namens Blaupause (Öffnet in neuem Fenster) ausführlich gewürdigten Begriff Positionierung. Der Begriff ist eigentlich banal: „Wo ist dein Platz, ey?“ Es ist aber ungemein hilfreich, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was genau die Dimensionen des Marktes sind und worin die eigene Alleinstellung liegt. Auf beiden Achsen stehen Dimensionen, die zusammengehörig sind: groß und klein; sportlich und traditionell; hochwertig und preiswert. Dabei darf es keinen einzigen negativen Begriff geben. 

Warum?

Weil man seine Wettbewerber sonst falsch einschätzt. Also wenn man sagt: „Alle doof, außer Mutti!“, dann hat man kein Marktverständnis. Stattdessen sollte man überlegen, warum sich Leute eigentlich für andere Angebote entscheiden. Es ist wichtig, dass man auch in der Beschränkung des Marktes klug ist. Wenn der Markt als „alle Medien“ beschrieben ist, dann hat man eine riesige Pizza vor sich, mit sehr viel drauf. Man hat keinen Überblick mehr.

Ihre Grafik beschreibt aber doch eigentlich „alle Medien“?

Nein, es geht um die sogenannten Entscheider-Medien, nach der verbreiteten Definition (Öffnet in neuem Fenster). Da ist keine Boulevardzeitung dabei, kein Radiosender, keine Fernsehstation, kein Buchverlag und kein Stream. Es muss immer zu erkennen sein, dass Kunden sagen: Ich entscheide mich dafür oder dafür.

Also Angebote, die Alternativen darstellen, die miteinander im Wettbewerb stehen.

Genau. Das Allerwichtigste bei der Positionierung ist es, immer die Empfängerperspektive einzunehmen. Das ist eine ziemliche Zumutung, weil wir alle von Geburt an aus der Absender-Perspektive denken und argumentieren. Aber wie sieht es der Empfänger? Wie sieht es das Publikum, das wir erreichen wollen? Und nicht: Wie hätte ich es gern?

Steht am Anfang so eine Vier-Felder-Grafik, wenn sie die Gründung von beispielsweise Table Media nachdenken oder den Einstieg beim Tagesspiegel?

Sollte es, ist es aber nicht immer. Beim Tagesspiegel stellte sich mir die Frage, ob die recht hatten, die mir sagten: Bist du verrückt, auf so einer Titanic anzuheuern? Der Verleger Dieter von Holtzbrinck hatte mich gefragt: Wie hat der Tagesspiegel eine Zukunft? Das ist was anderes als die Neugründung einer Firma. Ich hatte einen ungefähren Plan, aber aufmalen können hätte ich ihn nicht. Ich habe überlegt – aus meiner eigenen Berliner Leserrolle heraus – was mich eigentlich  interessiert. Was interessiert die Leute? Wer lebt eigentlich in dieser Stadt?

Es war verdammt naheliegend, etwas Kleinteiliges auch für Berlin zu machen – in der günstigsten Form: Newsletter. Null Distributionskosten, fast keine Herstellkosten, nur Redaktionsaufwand.

Da sind mir ein paar Beobachtungen gekommen – kein bisschen originell, eigentlich auf der Hand liegend: Die allermeisten Zeitungen in Deutschland sind Zeitungen für ein kleines Gebiet, oft mit einer starken lokalen Identität. Nur in den Großstädten kommen Abo-Zeitungen selten über eine Haushaltsabdeckung von 20 Prozent hinaus. Der größte Teil der Haushalte in den vier Millionen-Städten Berlin-Hamburg-München-Köln liest kein Abo-Blatt. Aber in der Fläche gibt es sehr erfolgreiche Zeitungen mit Haushaltsabdeckung mit immer noch über 40, manchmal 50 Prozent. Also war es verdammt naheliegend, etwas Kleinteiliges auch für Berlin zu machen – in der günstigsten Form: Newsletter. Null Distributionskosten, fast keine Herstellkosten, nur Redaktionsaufwand. Inzwischen haben 300.000 Berliner so einen Newsletter abonniert. Das ist die größte Zeitung Berlins, größer als die Reichweite des Tagesspiegels. Und die Bezirks-Newsletter sind grandiose Abonnement-Produzenten für die Zeitung.

Es hieß immer: Berlin ist der meist umkämpfte Zeitungsmarkt Deutschlands, weil es hier so viele Angebote gibt. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann haben Sie neue Märkte erschlossen, statt anderen Marktanteile wegzunehmen?

Ja. Der allgemeine Ansatz war – beginnend bei Erich Böhme und der „deutschen Washington Post (Öffnet in neuem Fenster)“ –: Wir schlagen das Feuilleton der FAZ, dann gewinnen wir auch Berlin. Die FAZ ist aber kaum zu schlagen und Berlin gewinnt man damit auch nicht. Außerdem gibt es bei allen Zeitungen in Berlin sehr gute Leute in fast allen klassischen Ressorts.  Ein Qualitätsunterschied ist für die Kunden da nur schwer zu erkennen. Man bohrt die Wand also an der dicksten Stelle. Aber im Lokalen waren riesige Freiflächen. Sogar in Lichtenberg [im Ostteil der Stadt, Red.] lesen heute viele den Bezirksnewsletter des Tagesspiegels.

Früher undenkbar – im Westen las man Tagesspiegel, im Osten die Berliner Zeitung.

Den Tagesspiegel konnte man im alten Stasi-Bezirk nur unter Polizeischutz am Kiosk holen. Das war ein Antisymbol. Heute hat der Tagesspiegel in Ostberlin mehr lokale Newsletter-Empfänger als die Berliner Zeitung Leser. Es geht um das Markterschließen an unerwarteter Stelle. Davon gab es noch mehr. Es gibt in Berlin ein paar große Berufsgruppen. 300.000 Menschen arbeiten zum Beispiel in Gesundheitsberufen, 300.000 in Verwaltung und Politik und 300.000 in Wissenschaft, Forschung und Lehre. Jede Gruppe für sich ist doppelt so groß wie ganz Heidelberg. Macht man für diese drei Gruppen jeden Tag die am wenigsten schlechte Zeitung, spricht sich das schnell herum. Man verkauft dann irgendwann mehr Zeitungen als die anderen.

Ich bin da schwäbisch: Nie mit dem riesigen Geldsack kommen und alles verblasen, sondern ganz punktuell anfangen, lernen und optimieren. 

Haben Sie mit kostenlosen Newslettern auf Reichweite gesetzt, um Dynamik zu erzeugen und dann zu schauen, wo das Geld herkommt?

Wir haben immer mit möglichst wenig Aufwand etwas ausprobiert, um etwas zu lernen und dann intensiver weiter zu machen. Ich bin da schwäbisch: Nie mit dem riesigen Geldsack kommen und alles verblasen, sondern ganz punktuell anfangen, lernen und optimieren. 

Ein MVP bauen, ein Minimal Viable Product.

Die ganzen Fachbegriffe aus der Startup-Welt waren mir zu dem Zeitpunkt nicht bekannt, aber es stimmt: Genau, erstmal einen einfachen Prototyp machen und dann weitersehen. Die meisten Zeitungen berichten über Politik aus der Perspektive der Wähler und Bürger. Das ist auch goldrichtig. Eine Hauptstadtzeitung kann aber auch mal die Perspektive der Verwaltungsleute einnehmen, wenn man 300.000 davon in der Stadt hat.

Warum ist diese Strategie der 360-Grad-Medien, wie sie sie nennen, goldrichtig? Die jüngeren Intellektuellen aus Wissenschaft, aus Kunst und Institutionen lesen heute nicht mehr unbedingt eine Tageszeitung, sondern diverse Informations-Feeds. Dabei sind sie nicht schlechter informiert. 

Wir befinden uns in einer Übergangsperiode. Die traditionellen Mediengewohnheiten verändern sich zugunsten von, sagen wir, selbstgebauten Kompendien. Ich selbst baue mir meinen 360-Grad-Blick auch aus verschiedenen Bausteinen zusammen. Wobei die großen Zeitungen weiterhin die wichtigsten davon sind. Deren Kuratierungs- und Verifizierungsleistung ist wirklich wertvoll. Die ist mir auch was wert. Man hört und redet dann weniger Quatsch.

Die Zeitungen werden aber auch dünner, sind weniger gut ausgestattet, haben weniger Leute.

Das stimmt. Und an der Stelle greift das Konzept von Table Media, Deep Journalism. Über den Angriffskrieg der Russen in der Ukraine informieren mich große Zeitungen sehr gut. Aber in meinem engsten Berufsgebiet, der Medienabowirtschaft, lese ich PV Digest (Öffnet in neuem Fenster). Kennt niemand! 

Gemacht vom Vertriebsspezialisten Markus Schöberl als One-Man-Show.

Das erscheint einmal im Monat und der analysiert dann etwa die Abo-Strategie von Le Monde. In der FAZ wäre das für alle bis auf 100 Leser unpassend, als Vertical aber ist es selbsttragend. Der Markt fächert sich also auf. Das ist besonders gut machbar bei verlässlichen, exzellenten Fachinformation, in unserem Segment: Das Publikum hat da ein hervorragendes Qualitätsurteil.

Weil sich die Leser und Leserinnen von Table Media im Zweifel besser auskennen?

Genau. Und die Redakteure haben sich über Jahre in diesem Segment einen Ruf erarbeitet. Das sind Fachleute, die in der Tiefe versiert sind, hohen Respekt genießen und auf Augenhöhe mit den Profis reden. Thomas Wiegold (Öffnet in neuem Fenster), der bei uns im Security Table mitschreibt, ist unter Sicherheitsleuten eine Währung. 

Wie ein Donnerhall eilt ihm sein Ruf voraus, wie ich aus seiner Zeit bei Krautreporter weiß. Sie verwenden für Leute wie ihn den Begriff „Domänen-Kompetenz“ – hoch spezialisierte Journalist:innen mit einem tiefen Fachwissen und über Jahre erarbeiteten Netzwerken. Auch durchaus aus dem Bauch heraus …

Eher aus dem klügsten Kopf. Domänenkompetenz heißt auch: Sie können sich aus dem üblichen Meinungskorridor lösen, weil Sie mit begründetem Selbstbewusstsein sagen, ich stehe durch, einen anderen Standpunkt einzunehmen, weil ich tief genug im Stoff bin und alles im Blick habe. Das ist eher ein Gegenpol zum Bauch. 

Aber bleiben wir noch bei den 360-Grad-Medien. Die NZZ oder auch die Welt tendieren seit längerem in Richtung des Thesenrittertums im links-unten-Quadranten. Sehen sie das auch so?

Positionierungskreuze sind Abstraktionen. Die Frage ist: Wo ist der Kernnutzen? Dass in einer guten Tageszeitung auch mal eine steile These vorkommt, finde ich vollkommen in Ordnung. Dennoch gibt sie einen breiten Überblick.

Aber bei den genannten Beispielen handelt es sich ja offensichtlich um eine Strategie.

Es wäre kein Fehler, auch unter den 360-Grad-Medien eine Alleinstellung zu suchen.

Für die NZZ wäre das also eine etwas populistischere Ausprägung von Qualitätszeitungen im rechten Spektrum?

Ich weiß nicht, ob ich die NZZ populistisch finde. Das ist abwertend. Es fehlt der Positiv-Aspekt.

Stimmt vielleicht, aber trotzdem ist es mehr als eine Zuschreibung, dass diese Zeitungen Zuspitzung strategisch einsetzen.

Ich glaube nicht, dass die NZZ sich als populistisch bezeichnen würde. Populismus ist für ein Qualitätsmedium ein Ausschlusskriterium. Die haben diesen freiheitlich-schweizerischen Staats-distanzierten Blick, natürlich auch einen kritischen Blick auf uns Deutsche. Den finde ich als Kontrastmittel wertvoll.

Der NZZ-Chefredakteur in Deutschland, Marc-Felix Serrao, war früher bei der Süddeutschen. Da ist mir nicht aufgefallen, dass er das geschrieben hätte, was er jetzt bei der NZZ vertritt, nämlich grundsätzlich das Gegenteil. Offensichtlich ist das der Versuch, anschlussfähig zu sein für ein rechtes Milieu.

Rechtes Milieu ist ein Totschlagargument. Alles, was ich bisher in der NZZ gelesen habe, ist innerhalb des demokratischen Diskurses. Aber wenn man über Positionierung spricht, gibt es in jedem Segment Untersegmente. Man könnte da auch noch Haare spalten.

Mein eigentlicher Punkt: Da es für viele Zeitungen wirtschaftlich schwieriger wird, müssen sie sich bewegen. Statt sich in Richtung des Deep Journalism zu bewegen, wie Sie es wahrscheinlich empfehlen würden, bewegen sie sich in Richtung des Thesen-Journalismus. 

Ich empfehle gar nichts. Ich bin weit davon entfernt, irgendeinen Ratschlag zu geben – außer mir selbst und außer denen, mit denen ich mich intensiv beschäftigt habe, wie dem Tagesspiegel. Dort haben wir keine politische Polarisierung angestrebt. Der Tagesspiegel war 2014 auf Platz 4 unter den Berliner Tageszeitungen und ist jetzt auf Platz 1, doppelt so groß wie die Nummer 2 - ohne politische Außenschwinger. Ein interessanter Effekt, wenn man eine wirksame Positionierung kraftvoll in den Markt kommuniziert: Alle um einen herum werden nervös. Die attraktivste Position in einem Markt – die beste Alleinstellung – ist manchmal frei. Wenn man den Platz dann einnimmt, und sich da verankert, suchen die anderen Konkurrenten Alternativen und lassen sogar noch mehr von diesem Platz. Als der Tagesspiegel sagte, wir sind das Leitmedium der Hauptstadt, wurde er es.

Ein interessanter Effekt: Alle um einen herum werden nervös. Die attraktivste Position in einem Markt ist manchmal frei. Wenn man den Platz dann einnimmt, und sich da verankert, suchen die anderen Konkurrenten Alternativen und lassen sogar noch mehr von diesem Platz.

Aber das kriegt man nicht umsonst. Sie waren Teilhaber des Verlags und mussten sicher massiv investieren.

Nicht wirklich. Wir alle im Team mussten uns aber massiv anstrengen. Wir haben vor allem die vorhandenen Ressourcen passend zur Strategie eingesetzt: 150 Leute in der Redaktion waren ja da, dazu die Verlagsmannschaft. Wir haben sie nur anders eingesetzt, etwa für unser Lokalkonzept oder den Start der Fachinformation. Als wir sahen: Es läuft, haben wir über 100 neue Leute dazugeholt, davon über 50 zusätzliche Journalisten.

Es gibt nicht viele Gründer oder Verleger-Persönlichkeiten in den Zeitungsverlagen, oder? Da ist natürlich Mathias Döpfner mit seiner Spezialsituation …

Unbedingt.

Schwer nachzumachen. Wen gibt es noch?

Rainer Esser und sein Zeit-Team machen seit Jahren exzellente Arbeit. Und jemand, mit dem ich mich immer wieder gern austausche, ist Gabor Steingart.

Da sind wir aber hier unten, im Segment Thesen-Journalismus. Da gibt es ja einige Leute, die sich durch Zuspitzung profilieren, negativ formuliert, etwa Wolfram Weimer oder Roland Tichy.

Wenn Thesen-Journalismus bedeutet: Ich habe einen speziellen Blick auf die Welt, ich gebe dem Leser einen interessanten Impuls, finde ich das wertvoll. Aber da, wo ich beruflich etwas zu verantworten habe, reicht mir das nicht. Beispiel: Ich bin für eine Organisation mitverantwortlich, die internationale Kongresse macht, Falling Walls (Öffnet in neuem Fenster). Ich habe bei Gabor Steingart gelesen über diesen Virus, der aus Wuhan kam. Seine thesenhafte Zuspitzung: das ist einfach ein Schnupfen, Entwarnung! Ein interessanter Standpunkt, klar abweichend von den Virologen. Aber eben nicht das domänenkompetente, umfassende, vertiefende Wissen. Ich habe auf der anderen Seite dann in der FAZ gelesen, an dem Virus und seinen Folgen sei leider überhaupt nichts Einfaches, sondern das sei wahnsinnig kompliziert. Die haben auch die Traute zu schreiben: Unsere Gesprächspartner und wir selbst durchschauen es noch nicht.  Und in The Atlantic (Öffnet in neuem Fenster) hat schließlich ein wirkliches Genie in Italien, Korea und Taiwan analysiert: Egal wie das ausgeht, es wird für internationale Reisende Quarantäne geben. Dann war für mich klar, meine internationalen Kongresse sind mausetot, wenn wir nicht sofort alles auf den Kopf stellen. Also haben wir komplett umgeschaltet, eine Zumutung für alle Mitarbeiter, alle Hallen abgegeben und alles auf digital umgestellt – vor allen anderen, weil wir uns domänkompetent informiert haben. Hätte ich der Zuspitzung vertraut – das ist ein Schnupfen! –, wäre Falling Walls jetzt möglicherweise insolvent und 80 tolle Leute ohne Job. 

Ist diese Marktlücke des „Contrarian“ überhaupt Journalismus? Wenn man also stets das Gegenteil geliefert bekommt – ist das nicht eher Unterhaltung?

Unterhaltung kann ja auch Journalismus sein.

Im besten Fall schon. Aber häufig nehme ich Steingart nicht ab, dass er wirklich glaubt, was er sagt.

Jeder Zuspitzer ist ungemein wertvoll, wenn man ihn mit Vorsicht genießt. Wirklich verlassen kann man sich aber nur auf die tiefschürfende Analyse. Die ist Pflicht, wenn es einen wirklich existenziell betrifft. Indem aber jemand wie Gabor Steingart sagt: Ich bin der Contrarian, hat er sich klar positioniert. Er ist im großen Medien-Orchester die Pauke – von ihm gibt es verlässlich eine Irritation auf die Ohren. Das ist großartig.

Jeder Zuspitzer ist ungemein wertvoll, wenn man ihn mit Vorsicht genießt. Wirklich verlassen kann man sich aber nur auf die tiefschürfende Analyse.

Unter Umständen landet man dann aber bei MSNBC gegen Fox News und die Leute bekommen ihre Nachrichten nur noch über ultra-polarisierende Medien. Das ist Demokratie-zersetzend.

Wenn sich alle Teile der Öffentlichkeit nur aus jeweils einem einzigen Medium ernähren und diese Medien wählen jeweils einen einseitigen Weg ohne Binnenpluralität, dann ist man kurz vor der Zersetzung der Gesellschaft. Wenn alle Gruppen sich vollkommen insular aus einer einseitigen Publikation ernähren, dann hat man am Ende Sekten oder schlimmstenfalls das späte Weimar. Wenn man dagegen in einem reichen Medienangebot viele kontroverse, unterschiedliche Blickpunkte hat, dann hat man eine lebendige, resiliente Demokratie. 

Wir sind nun rechts unten angekommen, wo ich mich am besten auskenne. Die erfolgreichste Autorin bei Substack ist Geschichtsprofessorin und schreibt recht trocken. Geht es hier wirklich um Zuspitzung? 

Die meisten Wissenschaftler würde ich eher oben bei der domänenkompetenten Differenzierung verorten, weil sie meistens keinen zugespitzten Standpunkt einnehmen, sondern breit auffächern. Ein Zuspitzer unter den Wissenschaftlern wäre wohl Timothy Snyder (Öffnet in neuem Fenster), ein Yale-Professor, Ukraine- und Osteuropa-Fachmann, Bloodlands (Öffnet in neuem Fenster) hat er geschrieben. Aus umfassender Kenntnis kommt er zum pointierten Standpunkt – ich lese ihn gern und finde seine Sicht wertvoll. Eine Kolumnistin im Sinne dieser Gliederung wäre vielleicht Teresa Bücker (Öffnet in neuem Fenster). Ihre Domäne ist ein selbstbewusster, origineller und zeitgemäßer Feminismus, sie ist eine beeindruckende Persönlichkeit mit einem hohen Maß an Subjektivität. Das Leistungsversprechen von Snyder und Bücker ist Thought Leadership. Da, wo Steingart ist, geht es wiederum eher um inspirierende Herausforderung. Die Medien in allen vier Quadranten haben jeweils ihre Funktion und wenn man sich von diesem Buffet ausgewogen bedient, dann ist man großartig informiert.

Warum funktioniert das Geschäftsmodell beim Deep Journalism besser, wie sie ihn mit Table Media praktizieren? Ist Zuspitzung möglicherweise einfach kein Geld wert?

Der Kundennutzen „Wettbewerbsvorteil“, wie ihn Deep Journalism schafft, hat den höchsten wirtschaftlichen Wert, das rechtfertigt B2B-Preise. Inspiration und Thought Leadership verkauft sich eher zu B2C-Preisen, etwa als Buch für 25 Euro, während bei uns die Lizenz zwischen 159 und 199 Euro im Monat kostet. Für einen Wettbewerbsvorteil ist das wiederum günstig. Mal zum Vergleich: Ein guter Anwalt verlangt das für 20 bis 30 Minuten. Bei den Kolumnisten steht zudem Recherche meist nicht im Mittelpunkt, sondern eher die weniger belastbare Deutung.

Andererseits verkauft allein Steady inzwischen 200.000 Mitgliedschaften im Monat. Viele Leute verdienen damit ihren Lebensunterhalt – bei geringen Kosten.

Ich bin kleiner Teilhaber von Steady und finde das sehr gut. Das ist einfach eine toll gedeckte Tafel mit ganz vielen Angeboten. Teresa Bücker hat gelegentlich Informationen, die für mich vollkommen neu sind – Recherchen, wenn man so will. Dazu gibt es ihre Deutungen, die auch neu für mich sein kann. Aber die liegen eher in ihrer gedanklichen Leistung als in der Recherche. Bei Table Media ist exklusive Recherche dagegen ein fundamentaler Teil des Angebotes.

Durch Zuspitzung entsteht Identität. Funktioniert das auch bei Table Media? Fühlt man sich über Fachkenntnis als Community?

Ja, aber nicht durch spitze Meinung wie bei einer Partei, sondern durch tiefe Kenntnis wie in einer Fakultät. Die China-Szene zum Beispiel wird beschrieben als „Panda-Hasser“ oder „Panda-Knutscher“. Diese Meinungen scheinen unversöhnlich. Die Antwort von China Table (Öffnet in neuem Fenster) ist tiefe Kenntnis von beiden Standpunkten, dafür haben wir einen der besten Menschenrechtskenner Chinas als Autor gewonnen, Marcel Grzanna (Öffnet in neuem Fenster), und gleichzeitig Experten, die die Wirtschaftszusammenhänge gut analysieren können. Inzwischen ist China.Table das Lagerfeuer der ganzen China-Szene und versammelt jeden Tag 13.000 Chinakenner. Das ist das, was wir grundsätzlich anstreben: Das Lagerfeuer zu sein, an dem jeweils die China-, die Europa-, die Afrika-, die ESG-, die Klima-Szene zusammenkommt. Der Tisch, an dem sich diejenigen treffen, die in der Tiefe informiert sind.

Ein Hinweis zur Transparenz: Sebastian Turner ist wie ich Gesellschafter der Membership-Plattform Steady, die ich mitgegründet habe. Wir kannten uns bisher nicht.

Eine gute Woche!
👋 Sebastian

PS:

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Kategorie Storys

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