Guten Tag, werte Lesende!
Ich war vor Jahren mal auf einem Schweigeseminar, mit meinen gesammelten Bedenken und Vorurteilen, was Eso-Kram angeht. Und? Es war großartig. Entspannend. Befriedend. Oder wie Frau Merkel bei den Restkatholiken sagte: "Nur wer Frieden sucht, kann auch Frieden finden – so langwierig und schwierig die Suche auch ist."
Preisfrage: Welche Menschen sind mir näher, vertrauter? Die, mit denen ich unentwegt rede oder solche, mit denen ich mich vorwurfslos anschweigen kann, einfach so, weil alles gesagt ist gerade, weil jede/r in seiner/ihrer kleinen Gedankenwelt unterwegs ist und der/die andere eine/n lässt. Vertrauen finde ich, wo ich Halbfertiges, Angefühltes, Schräges sicher äußern kann ohne dass wer anderes davon erfährt.
Von wegen Recht auf Transparenz. Bullshit.
Firmen, Redaktionen, Paare (auch Dreiecke) – sie alle brauchen Schutzräume, in die nicht jeder Honk sofort uriniert, mit Verweis auf diese angebliche Öffentlichkeit, deren Rechte situativ definiert werden. Wer Artikel 5 des Grundgesetzes interpretiert als öffentliches Recht auf jeden Satz, der fordert auch freie Fahrt für freie Bürger. Merke: Wer totale Transparenz von anderen fordert, sollte selbst auch total transparent sein. Kevin Kühnert ist da ziemlich weit gegangen, weil er den Mut hatte, sich jahrelang von einem TV-Team begleiten zu lassen, inklusive Ansteckmikro, was wiederum zu einer bewegenden, tiefen, klugen und zeigefingerfreien sechsteiligen Serie (Öffnet in neuem Fenster) geführt hat, die mich mehr bewegte als fast alles bei Netflix. Pflichststoff für den Politikunterricht.
Womit wir bei Armin Laschet wären. Kann es sein, dass der Gelegenheitslistige aus Aachen am Donnerstag die Republik gefoppt hat? In den Gremien erst den Rücktritt ins Spiel bringen, was von den lieben Parteifreunden natürlich umgehend live durchgereicht wurde, um sich wenig später vorm Mikrofon umso fester an die letzten Amtstage zu klammern – das ist die hohe Schule der politischen Überlebenskunst, auch wenn sie zu nicht mehr führt als zur Genugtuung, sich nicht vom Hof jagen lassen zu wollen.
Schon weit vorm Ruhestand, in Kombination mit "Un-" oder "verdient" übrigens eines der missbrauchtesten Worte des Landes, empfehle ich das neue Buch von Professor Volker Busch, Neurologe, Psychiater und netter Kerl.
Unter allen Steady-Förderern, alt und neu, wird ein fangfrisches Exemplar verlost. Mail reicht. Hä, Steady? Wasndas? Was sehr Modernes. Mehr hier (Öffnet in neuem Fenster).
PS: Spaß an Schumachers Woche? Für alle, die meine Arbeit unterstützen möchten und können, gibt's hier (Öffnet in neuem Fenster) die Möglichkeit. Diese Woche verlose ich unter allen Steady-Freunden ein auf Wunsch signiertes Exemplar von Kein Netz. (Öffnet in neuem Fenster)
So, jetzt Klappe. Es geht los.
Viel Spaß!
Ihr/Euer Hajo Schumacher
Der Pörksen der Woche
Einfach mal schweigen und nachspüren knapp zwölf Minuten lang, in denen Professor Bernhard Pörksen uns politischen JournalistInnen aber sowas von den Kopf wäscht. Klickgeil, ausgebrannt, banalitätsgetriebene Stichflammen-Berichterstattung – so ballert er vom Start weg. Leider ist Pörksen ein Kluger, weswegen man seine Kritik nicht einfach wegwischen kann. Noch leiderer liefert er keine überzeugende Lösung, wie wir zunehmend Atemlosen wieder zu Luft kommen. Vielleicht findet sich unter Punkt zwei ein erster Therapieansatz.
Deutschlandfunk (Öffnet in neuem Fenster)
Der Entschluss der Woche
Die frühere Facebook-Mitarbeiterin Frances Haugen hat dem US-Senat nichts erzählt, was man nicht wüsste über die Geschäftspraktiken der weltgrößten Reklamebude. Steht ja alles in meinem Buch "Kein Netz. Wie wir unser Leben zurückerobern". In Kürze: Eines der kostbarsten Unternehmen unserer Tage steigert seinen Gewinn vor allem durch das Verbreiten von Dreck, ob Hass oder Lügen oder Mobbing. Das Netzwerk verdient mit sozialem Gift, das Gesellschaften erodieren lässt. Facebook ist Glyphosat für die Seele. Dummerweise hängen 3,5 Milliarden Nutzer mit drin. Egal. Irgendwer muss ja mal anfangen. Deswegen meine Ankündigung: In den kommenden Wochen, spätestens bis Ende des Jahres, werde ich von Facebook verschwinden, wo ich, wie bei Instagram, ohnehin nur passives Mitglied bin. WhatsApp ist komplexer; mal sehen, zu welcher Lösung wir da kommen. Ich werde hier berichten.
Der Rohstoff der Woche
Um auch mal was Fröhliches zu sagen: Neulich lernte ich bei einem klugen Menschen, vielleicht ein Ethnologe, dass wir Menschen des 21. Jahrhunderts einander unendlich mehr vertrauen als unsere befellten Vorfahren. Wieviel Vertrauen gehört etwa dazu, einen digitalen Knopf anzuklicken und damit einem Computersystem zu erlauben, unser Geld, das gar nicht real existiert, von unserem Konto woanders hin zu transferieren in der Erwartung, dass tags darauf ein fremder Mensch an unserer Tür klingelt und uns ein teures Paar Schuhe übergibt anstatt damit längst getürmt zu sein. Im Mittelalter hätte jeder Schritt eines Online-Kaufs zum finalen Keulenschlag geführt. Womit wir schon wieder bei der Union sind. Und ihrem auch kulturellen Gegenüber namens Ampel. Die Beteiligten können schweigen, bis jetzt jedenfalls. Sie vertrauen sich. Preisfrage: Wer möchte in einem Land des röhrenden Misstrauens leben? Nicht mal viele Bayern, oder?
Die Macht des Vertrauens
Klima, Steuern, Rente – alles wichtig. Aber viel wichtiger für gelingendes Koalieren ist kollektive Zuverlässigkeit. Blüht Misstrauen zwischen den Partnern, wird selten gut regiert.
Es war Vertrauen, das vor 38 Jahren die Welt rettete. Im September 1983, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, gingen in einer Frühwarnzentrale bei Moskau verstörende Signale ein. In den USA war scheinbar eine Atomrakete abgeschossen worden, die in wenigen Minuten russisches Gebiet erreichen würde. Begann in diesem Moment die nukleare Apokalypse? Stanislaw Petrow, der diensthabende Offizier, hielt das Schicksal der Welt in seinen Händen. Sollte er die Generäle alarmieren, die zweifellos den atomaren Gegenschlag befehlen würden? Petrow zögerte. Er misstraute den Satelliten und Maschinen. Und vertraute seiner Intuition sowie der Rationalität des Gegners. Die USA würden nicht nur eine einzige Rakete schicken, sondern Dutzende. Petrow, kein Militär, sondern gelernter Ingenieur, wiedersetzte sich den Signalen der Technik und meldete „Fehlalarm“. Und so war es auch. Vertrauen rettete womöglich einen großen Teil der Menschheit. Wie hätte ein Algorithmus entschieden?
Vertrauen in sich und andere ist eine schwer zu messende, aber entscheidende menschliche Ressource in der großen und kleinen Politik. Vertrauen lässt sich nicht bauen, kaufen oder erzwingen, sondern wächst langsam und basiert auf Kontrollverzicht, Intuition und Mut. Wer vertraut, geht in Vorleistung, denn im Falle des Enttäuschens drohen Verletzungen. Vertrauen bestimmt Politik, von der großen Diplomatie bis hin zu jedem Wähler. Bürger entscheiden sich mit dem Kopf für Programme, aber mit ihrem Instinkt für Personen, denen sie vor allem im Krisenfall vertrauen zu können glauben.
Eine neue Regierung braucht einen immensen Vorrat von Vertrauen, weil Wahlkampffeinde plötzlich zu Partnern werden sollen. Koalitionsverträge können Vertrauen nicht verordnen. Das scheinbare Traumbündnis von Union und FDP etwa begann 2009 ohne viel Vertrauen, das bis 2013 vollends schwand. Der Ausstieg Christian Lindners aus den Jamaika-Verhandlungen 2017 war auch Spätfolge des damaligen Misstrauens: Die FDP traute einer Kanzlerin noch nicht wieder, zumal sie auffallend viel Sympathie für die Grünen zeigte. Das rotgrüne Bündnis von 1998 wiederum war von Vertrauen zusammengehalten. Kulturell mochten Kanzler Schröder und sein hartlinks sozialisierter Umweltminister Jürgen Trittin weit auseinander liegen. Doch Schröder wusste aus niedersächsischen Tagen: Auf den Grünen Trittin war Verlass, er hielt sich an Abmachungen, auch wenn die Parteibasis grollte.
So sind Sondierungsgespräche zuallererst ein Vertrauenstest, vor allem für die Union. Kann man einem wankenden CDU-Chef Laschet und der zappeligen CSU trauen? Als Nachweis des Misstrauens drangen aus den Gremien von CDU und CSU zuletzt Informationen quasi in Echtzeit an die Öffentlichkeit. Plauderfreude war lange eher Spezialität der SPD, die wiederum von Olaf Scholz in eine überraschend wortkarge, also vertrauenswürdige Einheit verwandelt worden ist, bis jetzt jedenfalls. Macht drückt sich auch in kollektiver Verschwiegenheit aus.
Neben allen inhaltlichen Fragen klärt sich in den Gesprächen über einen fragilen Dreibund auch der aktuelle Charakterzustand der Parteien. Wer wird nervös, wenn Posten vergeben oder rote Linien verschoben werden? Klar ist: Werden unfertige Pläne nicht in kleiner Runde, sondern in einer daueraufgeregten Republik verhandelt, sind sie meist erledigt bevor ein Kompromiss gefunden ist. Wer Zwischenstände ausplaudert, senkt die Chancen auf ein Bündnis schlagartig.
Während sich Rot, Grün und Gelb in den Sondierungen an den Schweigekodex halten, erweist sich die Union einmal mehr als undicht. Blödheit oder Bosheit – wer Halbsätze an die Öffentlichkeit liefert, lässt Laschets Restmacht erodieren und damit seine ohnehin geringen Chancen auf eine Jamaika-Kanzlerschaft. Wer seinen Laden dagegen im Griff hat, der kann sich auf kollektives Klappehalten verlassen.
Mit freundlicher Genehmigung der Berliner Morgenpost
Tweets der Woche
Peter Thiel verachtet die Demokratie (Fußnote: vgl. Schumacher "Kein Netz"). Und soll den Frank-Schirrmacher-Preis bekommen, also Thiel. Laudator: angeblich Sebastian Kurz, der eventuell bald reichlich Tagesfreizeit hat. Schirrmacher hätte die Größe gehabt, sich über diese Groteskendichte köstlich zu amüsieren.
Die Ankara-Katja der Woche
Früher, als alles leicht und einfach war, haben wir im Berliner Büro von MAX ziemlich abgedrehte Sachen gemacht, die die hochprofessionellen Kollegen (kein Gendern nötig) in Hamburg bisweilen auch verstanden haben. Vor etwa 20 Jahren haben wir des Nachts ein echtes Pferd in (nicht "an") die Schweizer Botschaft am Kanzleramt geschafft, das damals noch nicht in Betrieb war. Auf dem Gaul saß in ihrem Hochzeitskleid die texanische Allzweckwaffe Shawne Fielding, damals Gattin des damaligen Botschafters Thomas Borer. Weil die gute Frau für ein anderes Motiv in Cowboy-Kostüm und mit Wasserpistolen auf einem irgendwie historischen Tisch lümmelte, bebte das moralfeste Land, das vom Verstecken von Blut- und Diktatorenmilliarden lebt. Und wer hat das Pferd auf den Flur gezerrt? Hatice Akyün, soeben mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Aus Verehrung für die damalige Bild-Klatschtante Kessler hat sich Hatice den Kampfnamen "Ankara-Katja" verliehen. Meine Gattin Suse Schumacher und ich haben mit meiner alte Kollegin Hatice Akyün für unseren Mutmach-Podcast über den Weg aus Anatolien zum Theodor-Wolff-Preis geredet, über Heldenvater Akyün, der all das ermöglicht hat und über Migrantenkinder wie die BionTech-Gründer, die sich nicht länger als Vorzeigeintegranten durch die Manege ziehen lassen sollten, so von wegen: "Sie können aber gut Deutsch".
"Gestatten: Ich bin die Ankara-Katja" (Öffnet in neuem Fenster)
Der Leslie der Woche
Aufmerksame Lesende dieses Newsletters wissen, dass ich neulich unerwartet Armin Laschets Bro Leslie Mandoki kennengelernt habe, der mich bat, sein neuestes Projekt hochleben zu lassen, zwar auf Instagram, abr dafür mit Helden meiner Jugend wie Ian Anderson und Al di Meola. Ich wünsche dem Musiker Leslie mehr Erfolg als dem Wahlkampfberater Mandoki.
Utopia for Realists (Öffnet in neuem Fenster)
Der Leibniz der Woche
Weil Lesen die schönste Form des Schweigens ist, hier noch rasch ein Buch, das beweist, dass hierzulande nicht alles den Bach runtergeht, wie Miesepetrige allenthalben erzählen. Professor Gerd Schöler hat Aufsätze seiner Studierenden zu einem Buch gebunden, das ich mir am Wochenende mit genüsslichem Schweigen geben werde. Nebenbei: Die aktuelle Nobelpreisquote für Forschende aus Deutschland zeigt, dass wir mehr Aufbruch wagen dürfen.
PS: Wie angekündigt starten wir hier mit einer Newsletter-Kolumne über eines der umstrittensten deutschen Reizklimathemen: Sylt. Die einen lieben diesen nierenförmigen Sandhaufen im Naturschutzgebiet Wattenmeer, die anderen verabscheuen ihn. Es geht um Zeigefreude, Geldgeilheit, notorisches Besoffenein, und ein paar Hells Angels brettern auch durchs Bild. Ab sofort plaudert ein Insider hier wöchentlich aus, was auf der Insel des gepflegten Irrsinns gern mal unter den Strandkorb gekehrt wird. Zur Einstimmung hier ein historisches Video mit Kammersänger Rudolf Schock auf dem Tennisplatz, einem Rolls Royce und vielen Heroen vor allem des Hamburger Medienwesens.
https://youtu.be/P0XLg5Z5SE8 (Öffnet in neuem Fenster)Sylt: Die Schönen und Reichen (Öffnet in neuem Fenster)
Sylter Geschichten (1):
Wenn die Engel Harley fahren.
Von xxxxx
Zu den wenigen Attraktionen, neben Ebbe und Flut, gehört die jährliche "Harley Davidson Summertime Party Sylt". An vier Tagen dürfen sich knapp 1000 Zahnärzte, Steuerberater, Best Ager und echte Motorradfreunde so fühlen wie Jack Nicholson, Peter Fonda und Dennis Hopper zusammen. Die Elisabethstraße in Westerland wird zum Fahrerlager, und die ganze Insel bebt wegen der Motorräder, denn man fährt Kolonne. Dagegen war die Love Parade ein leichtfüßiger Walzer.
Auch gern "in Kolonne" fährt eine andere Fangruppe der Zweizylinder aus Milwaukee - die Hells Angels. Rein zufällig hält der friedfertige Motorradclub zuweilen seine jährliche Konferenz dann ab, wenn auf Sylt sowieso mehr Harleys sind als Schafe auf dem Deich. Das ist aber gar nicht erlaubt. Wegen eines bedauerlichen Zwischenfalls im Jahre 1980, bei dem Höllenengel eine Sylter Diskothek zu Kleinholz gemacht und ihren Besitzer in den Himmel geschickt haben, darf sich der MC "Rot-Weiss" nicht mehr auf der Insel blicken lassen. Eine Art Hausverbot vom Innenministerium.
Natürlich wird das Landeskriminalamt darüber informiert, wenn um die 100 "extra Harleys" angemeldet sind. Aus organisatorischen Gründen wird aber ein Auge zugedrückt und auf Waffenkontrollen verzichtet - die nette jungen Männer versprechen dem LKA , keine dabei zu haben. So kann sich auch die Sylter Polizei wichtigeren Dingen zuwenden, und bekommt auch gar nicht mit, wenn die hochrangigen Präsidenten des Höllenclubs wie Präsidenten über die Insel chauffiert werden. In schweren S-Klasse Limousinen, standesgemäß begleitet von (rot)weißen Mäusen in Jeans Kutte, die sehr zur Verwunderung der Autofahrer für freies Geleit sorgen, indem sie mit Ihren Motorrädern die Zufahrtstraßen blockieren. Konferiert wird in einem Lokal direkt am Strand, dessen Besitzer immer hoch erfreut ist. Die Presse ist auch da und macht Fotos, auf denen man so einige Sylter erkennen kann, die angeblich nur einer Hausmeistertätigkeit nachgehen, aber offenbar noch einem ambulanten Nebenjob nachgehen.
Das Highlight der Harley Summertime Sylt ist die Abschlussparty im "Kursaal". Angels haben keinen Zutritt, Hausmeisterlieferdienste aber schon. Ausgerichtet wird die Summertime vom Harley-Chapter Sylt - eine Art Rockerclub der etwas reicheren Sylter ohne offizielle Erlaubnis des berüchtigten MC, aber genauso organisiert. Es ist nicht bekannt, ob Hells Angels an der Abschlussparty teilgenommen haben. Schüsse hat man auch keine gehört. Das kann aber auch an den lauten Zweiträdern liegen. Moin. Bis nächste Woche.
PS: Spaß an Schumachers Woche? Für alle, die meine Arbeit unterstützen möchten und können, gibt's hier (Öffnet in neuem Fenster) die Möglichkeit. Diese Woche verlose ich unter allen neuen Steady-Freunden ein auf Wunsch signiertes Exemplar von Kein Netz. (Öffnet in neuem Fenster)