Schätzung.
In dieser Woche habe ich mir viele Gedanken zum Thema „schätzen“ gemacht. Über Wertschätzung, Unterschätzung und darüber, dass Weihnachten auf eine bestimmte Weise zu feiern überschätzt wird.
Ich werde häufig maßlos unterschätzt, habe in den letzten Wochen sehr viel Wertschätzung erfahren und einige Menschen getroffen, die sich selbst ganz schön überschätzen oder es zumindest so aussehen lassen. Für mich ist es immer schwer vorstellbar, dass man wirklich so sehr von sich überzeugt sein kann. Ob es wohl auch Leute gibt, die sich absolut richtig einschätzen? Dazu muss man sich selbst ja nicht nur außerordentlich gut kennen, sondern auch frei machen von der höflichen Bescheidenheit, die nun einmal in einem gewissen Maße erwartet wird, jedoch verpönt ist, sollte man dabei zu dick auftragen. Und von unserem Stolz. Ein schmaler Grat zwischen selbstbewusst, arrogant und heuchlerisch - der Option, bei der unser Gegenüber nicht einmal daran denkt, dass du wirklich so wenig von dir hältst, wie du behauptest. Für Menschen, die sich selbst tatsächlich nicht so viel zutrauen, wie sie eigentlich zu bieten haben, ist es besonders tragisch, wenn ihnen dann auch noch „fishing for compliments“ vorgeworfen wird. Manchmal ist es kaum vorstellbar, welche Menschen unter diesem geringen Selbstwertgefühl leiden, denn nicht selten sind das Personen, die man bewundert, begehrt und denen man nacheifert. Ich weiß selbst oft nicht, wie ich damit umgehen soll, wenn Menschen mir schreiben oder persönlich sagen, dass sie mich für eine starke, mutige und beeindruckende Person halten und fasziniert davon sind, was ich schon alles geschafft habe und tue. Und dem gegenüber stehe dann ich und frage mich, wann alle merken, dass ich überhaupt keine Ahnung habe, was ich hier eigentlich mache und spiele im Grunde alles, was ich erreiche maßlos herunter.
Wir können hier mal einen kleinen Test machen, wenn du möchtest… Vor etwa zwei Jahren saß ich in der Therapiestunde mit Frau S. und sie gab mir eine Aufgabe mit nach Hause: Ich sollte zehn Dinge aufschreiben, die ich an mir mag. Was fällt dir spontan dazu ein?
Meine Reaktion darauf war ein entsetzter Blick, gefolgt von einem ungläubigen: „ZEHN???“. Frau S. blieb hart und wollte in der nächsten Stunde zehn Dinge von mir hören, die ich an mir mag. Ich kam auf ganze drei Punkte und einer davon war: „Ich arbeite viel an mir“. Die hochgezogene Augenbraue von Frau S. verriet mir, dass das nicht unbedingt wohlwollend mir selbst gegenüber war und sie erklärte mir, dass ihr schon nach unseren bisher fünf Stunden miteinander etwa 15 Dinge einfielen, die ich hätte notieren können. Da spreche ich hier die ganze Zeit davon, dass man doch auch einfach mal nur existieren darf und nicht immer etwas leisten muss und dann das. Übrigens waren die anderen beiden Punkte: „Ich lerne schnell“ und „Ich bin ehrgeizig“. Der Selbstoptimierungsmodus lief auf Hochtouren und laut meiner Liste war das auch das Einzige, was ich an mir mochte.
So richtig voll bekomme ich diese Zehn auch heute noch nicht, schon gar nicht mit Dingen, die meiner reinen Existenz zuzuschreiben wären und das ist auch gar nicht so wichtig, wie ich finde. Bei dieser Übung ging es damals auch einzig und allein darum, kugelschreiberblau auf kariert zu sehen, was ich eigentlich selbst von mir halte. Das war vor zwei Jahren nicht besonders viel und hat mich ehrlich gesagt tief erschüttert. Denn es war keine falsche Bescheidenheit im Spiel. Ich saß stundenlang vor diesem Blatt Papier und habe versucht, Dinge an mir zu finden, die ich ehrlich gut finde. Würde mir ein:e Freund:in so etwas von sich erzählen, wäre ich todtraurig, dass ein so wundervoller Mensch nicht sieht, was ich sehe.
Seitdem bin ich auf dem Weg meine beste Freundin zu werden, die mit dem Finger auf das zeigt, was ich wirklich schon erreicht habe und mir vor allem erklärt, dass ich so wie ich bin, vollständig und bereits ohne jegliche Leistung genug bin. Kürzlich las ich einen Kommentar auf Instagram, in dem eine Autorin schrieb, sie würde ihren Erfolg anhand der Verkaufszahlen ihrer Bücher messen und fühlte mich gleich ertappt. Obwohl wir ja ganz genau wissen, dass diese Zahlen rein gar nichts über unser Talent, Kreativität und uns als Autor:innen oder anderweitig kreative Menschen aussagen. Und vor allem: Es sagt nichts über unseren Wert als Mensch aus. Wir sind genug, allein dadurch, dass wir existieren und atmen. Und wir sind Schriftsteller:innen, allein durch die Tatsache, dass wir schreiben. Können wir uns das alle hinter die Ohren schreiben und aufhören, den Wert dieser Zahlen zu überschätzen?
Bei all meiner Selbstunterschätzung und Überschätzung irgendwelcher Zahlen, durfte ich besonders in den letzten Wochen sehr viel Wertschätzung von außen erfahren und das tat richtig gut. Wertschätzung kann man mit ganz kleinen Dingen zeigen und sie können so Großes bewirken. Mein Chef hat es sich beispielsweise zur Gewohnheit gemacht, mir jeden Tag einen Espresso an den Schreibtisch zu bringen, egal wie stressig sein Tag ist, weil er weiß, wie sehr ich guten Kaffee mag. Es müssen nicht die großen Reden und ausschweifenden Gesten sein, um jemandem zu zeigen, dass man ihn schätzt. ABER: So schön es sich auch anfühlt, dies von außen zu erfahren, ist es dennoch am wichtigsten, sich selbst gegenüber Wertschätzung zu zeigen. Uns selbst und unserer Kreativität, absolut wertfrei.
Schlagen wir an dieser Stelle doch einen Bogen zur Weihnachtszeit, denn immerhin erscheint dieser Beitrag an Heiligabend. Auch wenn wir in der letzten Woche schon über die Erwartungen zum Weihnachtsfest sprachen, möchte ich noch einmal auf diese Zeit eingehen. Es gilt im Allgemeinen immer noch als „normal“, die Feiertage mit der Familie zu verbringen und etwa ein bis zwei Wochen vor Weihnachten zu fragen: „Was wünschst du dir“, damit man das Wunschgeschenk eingepackt unter den geschmückten Tannenbaum legen kann. Es gibt viel Essen, manche Verwandten erträgt man eben irgendwie und auf andere Familienmitglieder freut man sich ehrlich von Herzen. So klingen die meisten Geschichten von Menschen in meinem Umfeld, die Weihnachten „normal“ feiern. Das ist okay. Auch okay ist es, Weihnachten mit Freund:innen zu verbringen und nicht zur Familie zu fahren. Es ist ebenso okay, die Feiertage allein zu sein und genauso in Ordnung ist es, überhaupt nichts mit Weihnachten am Hut zu haben. Du sagst jetzt vielleicht: „Klar ist das okay!“ Aber sind diese Optionen wirklich gleichwertig „okay“? Sind alle Varianten „normal“? Ich wünsche es mir sehr. All diese Möglichkeiten zu normalisieren und damit jeder und jedem Einzelnen den Druck zu nehmen, irgendwelche Erwartungen erfüllen zu müssen. Wir müssen gar nichts erfüllen, sondern nur dafür sorgen, dass es uns gut geht. Das wünsche ich euch allen von Herzen! Bei mir finden die Feiertage übrigens auch überwiegend allein statt und ich freue mich schon jetzt auf viel Zeit zum Lesen, Harry Potter gucken und lange Spaziergänge durch das winterliche Berlin.
Bis nächste Woche!
Alles Liebe
deine Sarah