Kevin fragt: „Warum bin ich anders?“ (Buchauszug)
Die ersten Jahre mit einem autistischen Kind
Vorwort
von Gudrun Anders
Als Regina J. mich vor einigen Jahren anrief und fragte, ob wir gemeinsam die Geschichte von ihrem autistischen Sohn aufschreiben könnten, war ich zunächst ehrlich gesagt gar nicht begeistert. Sie kam zu mir auf Empfehlung einer Autorin, der ich geholfen hatte, ihr Buch zu überarbeiten und die wusste, dass ich neben meiner Arbeit als Verlegerin auch ausgebildete Heilpraktikerin (Psychotherapie) bin.
Regina erzählte mir telefonisch oder auch per Skype Bruchteile ihrer Geschichte. Leider konnte sie überhaupt nicht mit dem Computer umgehen, verspürte aber in sich den unwiderstehlichen Drang, die Geschichte ihres autistischen Teenagers zu erzählen, um anderen Menschen – anderen Eltern – vielleicht damit ein wenig helfen zu können. Sie hoffte auf meine erfahrene Hilfe, weil ich Verlegerin gewesen war und auch Erfahrung in der Therapie hatte.
Ich selbst hatte keinerlei Bezug zum Thema Autismus, außer dem theoretischen Unterricht zum Thema während meiner Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie, die allerdings schon einige Zeit zurück lag.
Aber Theorie und Praxis schienen zwei komplett verschiedene Dinge zu sein. Zumindest hörten sich Teile der Geschichte vollständig anders an als der trockene Unterricht in der Schule vor vielen Jahren vermuten ließ.
Nach einigen Gesprächen einigten wir uns dann und ich begab mich auf die faszinierende Reise ins Land der autistischen Störung. Eine holperige Reise, die auch meine Emotionen triggerte.
Ich erlebte nicht nur beim Erzählen die vielen Emotionen der Mutter hautnah und intensiv mit, lernte viel über Autismus, was ich in der Heilpraktiker-Schule definitiv nicht gelernt hatte und hörte Dinge, die ich eigentlich gar nicht hatte hören wollen, weil ich dachte, dass diese Zustände schon längst ausgestorben waren. Waren sie aber offensichtlich noch längst nicht.
Nachdem wir die Rohfassung aufgeschrieben hatten, hatte Regina plötzlich bedenken, das Material zu veröffentlichen. Sie hatte Ängste, erkannt zu werden und als schlechte Mutter dazustehen. Oder schlimmer noch: Dafür gemobbt zu werden. Sie wollte auch ihren Sohn nicht in ein schlechtes Licht rücken. Offenbar war die Zeit für die Veröffentlichung noch nicht reif.
So vergingen einige Monate. In der Zwischenzeit entdeckte ich beim abendlichen Zappen in den Fernsehprogrammen die Serie „The good doctor“ in der der junge autistische Arzt Dr. Shaun Murphy mit ähnlichen Dingen kämpft, wie sie mir vor Monaten von Regina erzählt wurden.
Mich veranlasste das, wieder mit ihr in Kontakt zu treten, nachdem ich eigentlich das Projekt mehr oder weniger ad acta gelegt hatte.
Nachdem auch sie einige Episoden der Fernsehserie gesehen hatte, skypten wir ausgiebig und es reifte langsam der Entschluss heran, das Buch vielleicht doch noch fertig zu stellen. Eines Tages entschloss sie sich dann doch, dass es an der Zeit wäre, die Geschichte ihres Sohnes zu veröffentlichen.
Während des Corona-Lockdown 2020 begann langsam die komplette Überarbeitung des vorhandenen Materials, wobei wir etliche der von ihr diktierten Episoden teilweise ersatzlos strichen, zumindest aber stark kürzten, um einigen Menschen nicht zu nahe zu treten.
Wir wollten auch ausschließen, dass ihr Sohn anhand der Schilderungen in irgendeiner Weise erkannt werden konnte. So strichen wir alle Namen und Orte, an denen man Rückschlüsse auf die wahre Identität hätte ziehen können.
Selbstverständlich sind auch die Namen der Autorin und ihres Sohnes geändert worden, ebenso die Orte, an denen diese Geschichte spielt, wenn sie nicht ganz ausgelassen wurden.
Die sehr emotionalen Erzählungen riefen in mir teilweise Wut und auch Frustration hervor, aber auch eine unglaubliche Hochachtung vor diesen beiden Menschen, die so tapfer und mutig der Welt und ihren Mitmenschen entgegentreten und jeden Tag aufs Neue ihr hartes Schicksal in die Hände nehmen.
Ich hoffe sehr, dass der/die geneigte Leser/in aus diesem Büchlein Rückschlüsse oder Erkenntnisse für das eigene Leben ziehen können, wie auch immer sie mit dem Thema Autismus verknüpft sind.
Wir hoffen, es hilft Ihnen ein kleines Stückchen weiter.
Gudrun Anders
Neustadt, im Juli 2022
Kevin fragt: „Was an mir ist anders?“
Mein Sohn war schon immer etwas „schwierig“. Er war anders als andere. Weniger einfühlsam, manchmal unnahbar. Lauter, eigensinniger, unzugänglicher, versunken in seinem eigenen Inneren, wenig bis gar nicht interessiert am anderen Menschen.
Oft lebte er in seiner eigenen Welt, zu der ich keinen oder nur sehr wenig Zugang fand. Ihm fiel es immer schon schwer, mit anderen in Kontakt zu kommen und zu bleiben. Lieber tat er etwas allein und vergrub sich stundenlang in seinem Zimmer als sich mit anderen zu beschäftigen oder sich gar mit ihnen auseinandersetzen zu müssen.
Seine Welt war klein und eingeschränkt. Hätte ich irgendwie eine körperliche Behinderung vorgefunden, hätte ich wohl ganz anders damit leben können. Oder es anders gelernt. Aber ich habe keine Behinderung gesehen, und doch verstehe ich heute, dass er eine Beeinträchtigung hat, die ich niemals werde verändern können. Ich werde damit leben lernen müssen. Und es fällt mir extrem schwer.
Kevin ist heute ein Teenager. Vor sechs Jahren wurde er als „Asperger-Autist“ diagnostiziert. Kevin ist aber nicht unintelligent oder gar dumm. Und er ist auch nicht desinteressiert, er hat nur seine eigenen, sehr eingeschränkten Interessen.
Er denkt gern nach. Sein Kopf versucht Fragen und Probleme zu lösen.
Seit vielen Monaten ist er auf der Suche nach jemandem, der ihm erklären kann, was Autismus eigentlich genau ist. Er findet keine Antwort auf die Fragen:
Was an mir ist anders?
Was macht mich zum Autisten?
Kürzlich kam Kevin zu mir und ich erkläre ihm, dass ein Autist gar nicht so anders ist als andere Menschen. Äußerlich könne man ja nicht sehen, dass etwas bei ihm „anders“ funktioniert. Ich versuchte zu erklären, dass er Dinge einfach anders erkennt oder erlebt als andere Menschen. Wenn Menschen etwas erzählen, wenn sie von Gefühlen oder Erlebnissen berichten – viele Dinge kommen in seiner Welt ganz anders an als in meiner.
Natürlich hat jeder Mensch seine eigene Sichtweise. Natürlich denkt jeder Mensch „anders“ über das tägliche Leben und all die vielen menschlichen Erfahrungen, die wir damit machen.
Beim Autisten kommt jedoch erschwerend hinzu, dass es für ihn nur eine schwarze und eine weiße Welt gibt – es gibt keine Facetten von Grau, weil die Farbe Grau gar nicht wahrgenommen wird.
„Aber ich sehe doch die Farbe Grau!“ Kevin war unzufrieden mit meiner Antwort. Sie ist ihm nicht detailliert genug. Für ihn ist das keine klare Aussage, denn mit der Symbolik kann er nichts anfangen. Er kann es nicht greifen, nicht in seine eigene Wahrnehmungsweise integrieren.
Und so geht seine Suche weiter, wer ihm ganz genau erklären kann, was an ihm autistisch ist.
Wer hat den Autismus erfunden?
Ist Autismus eine Krankheit?
Wie wird Autismus festgestellt?
Was ist falsch an mir?
Wie viele Autisten gibt es?
Wer bestimmt ob jemand autistisch ist oder nicht?
Warum müssen wir den Regeln der Schule folgen, obwohl wir die gar nicht haben wollen?
Warum lässt man uns nicht einfach in unserer eigenen Welt leben?
Warum muss ich Sport machen, wenn ich keine Lust dazu habe?
Warum hören die Erwachsenen mir nicht richtig zu?
Woher weiß jemand, der nicht Autist ist, wie ich mich fühle?
Warum bin ich anders?
Kevin liest einen langen Artikel im Internet. Der ist allerdings sehr wissenschaftlich verfasst und für ihn auch nicht verständlich.
Er fragt mich, welche Person ihm das genau erklären kann. Und ich schicke ihn zu seiner Schulpsychologin. „Die Frau ist psychologisch ausgebildet, hat die nötigen Kenntnisse und betreut mehrere Autisten.“
Am nächsten Tag marschierte Kevin zur Schulpsychologin und fragte sie: „Was an mir ist autistisch?“
Die Frau antwortet auf die Frage sehr ähnlich wie ich. Als Kevin sie dann nach dem Warum fragte, hat sie allerdings auch keine Antwort mehr für ihn. Wissenschaftlich wisse man nur, dass die Reizverarbeitung zwischen den beiden Gehirnhälften gestört ist, was dazu führt, dass die Reize und Informationen beim Autisten anders verarbeitet werden.
Die Schulpsychologin vertröstet Kevin mit dem Versprechen, jemanden zu suchen, der ihm seine Fragen beantworten kann.
Kevins Suche ging also weiter. Er versucht durch seine Suche nach Wissen, seine Alltagsprobleme besser bewältigen zu können.
Er hat auch einmal gesagt, dass Nicht-Autisten inkompetent für ihn seien. Schließlich urteilen diese Personen über ihn als Menschen, wissen aber letztlich gar nicht wieso. Wüssten sie wieso, könnte ihm doch jemand seine Fragen beantworten. …
Buch-Info:
Dieses Buch schildert die Irrwege einer jungen Familie auf dem Weg zur Diagnose „Autismus“.
152 Seiten | Taschenbuch | ISBN 9783756518364
Dies ist die Geschichte von Kevin und seiner Mutter Regina J. in den ersten Lebensjahren des Kindes. Kevin verhält sich seltsam und ist stark verhaltensauffällig. Für beide beginnt ein jahrelanger Spießrutenlauf zwischen Behörden, Ärzten und Betreuern, der für sie mehr als nur herausfordernd ist und unter anderem mit der Diagnose Asperger-Autismus endet. Die Mutter, die gern unerkannt bleiben möchte, schildert uns hier die Irrungen und Wirrungen auf der herausfordernden und auch anstrengenden Suche nach dem richtigen Weg für das intelligente, aber kranke Kind.
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