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Heft 12: Der West Highland Way

Der West Highland Way

Wandern • Kult-Trip • Highlands

Nirgendwo bekommt man den Kopf so gut frei wie beim Wandern. Also schultern wir den Rucksack und machen uns auf den Weg, den West Highland Way.

Eins, zwei. Eins, zwei. Schritt für Schritt. Ein Fuß vor den anderen. So geht es schon seit Stunden. Die Sonne brennt im Nacken, und die Heide knackt unter meinen Füßen. Der Weg führt mich schnurstracks in die Highlands hinein. Doch meine Gedanken haben sich schon längst selbstständig gemacht . Nirgendwo kann man so gut nachdenken wie beim Wandern.

Dies ist der West Highland Way, der berühmteste Fernwanderweg Schottlands. Er führt 154 Kilometer durch Hochmoore, über alte Militärstraßen und Viehtreiberpfade. Der Lärm der Großstadt ist weit weg. Ich höre nur den Wind in den Blättern der Birkenwälder. Manchmal sitze ich still und beobachte Hirsche im Hochmoor oder Hummeln und die gelben Ginsterblüten am Wegesrand. 

Um den ganzen West Highland Way zu laufen, lassen sich die meisten Wanderer zwischen fünf und neun Tagen Zeit. Doch als Novizin war mir diese Herausforderung dann doch zu groß, und ich entschied mich für eine viertägige Wanderung entlang der Teilstrecke von Crianlarich in den Highlands nach Fort William an der Westküste. Das ist rund die Hälfte des West Highland Ways, und auch der schönste Abschnitt, wenn ich den vielen Wanderern Glauben schenke, die ich auf dem Weg traf.

Schon die Zugfahrt von Glasgow nach Crianlarich ist ein Erlebnis. Entlang der West Highland Line geht es quer durch die südlichen Highlands, zuerst am Ufer des Flusses Clyde entlang, dann am Seeufer des Loch Lomond. Im Zug treffe ich auch die ersten anderen Wanderer – zwei ältere Damen steigen in den Zug: beide von Kopf bis Fuß in Wanderkleidung. Die beiden visieren auch den West Highland Way an, allerdings nur für eine Tagestour. Sie grinsen breit, als ich von meinem Alleingang auf dem Fernwanderweg erzähle – das ist ja mal was! Langsam macht sich in mir der Stolz auf diese ganz besonderen Reise breit.

Am ersten Tag erreiche ich den kleinen Ort Tyndrum. Der Name Tyndrum bedeutet „Haus auf dem Grat“. Damit ist wohl die Wasserscheide gemeint, die sich unweit von Tyndrum befindet: alle schottischen Flüsse nach Osten hin ergießen sich in die Nordsee, die Flüsse westlich von Tyndrum fließen in den Atlantik.

Tyndrum war früher ein Verkehrsknotenpunkt und Rastplatz für die Farmer, die ihr Vieh aus den Bergen auf die Märkte nach Südschottland oder England trieben. Dabei ging es laut und hektisch her, wie die englische Lady Sarah Murray of Kensington bei ihrem Aufenthalt im Jahr 1799 bemerkte: „Mein Mann zog es wegen des Radaus vor, draußen in der Kutsche zu schlafen. Die armen Pferde im Stall standen so eng nebeneinander, dass man hätte meinen können, sie werden zu Tode gequetscht.“

Glücklicherweise sind die Unterkünfte in Tyndrum heutzutage deutlich bequemer. Ich bin sowieso nur hier, um meine Lunchvorräte für den Rest der Wanderung aufzustocken – den nächsten Lebensmittelladen auf der Strecke erreiche ich erst in zwei Tagen. Der Weg führt von nun an über eine alte Militärstraße. Die Landschaft hat sich drastisch geändert, und die Berge, die das Tal der Wanderstrecke säumen, werden deutlich höher und karger, aber auch imposanter.

Das Bridge of Orchy-Hotel

Am späten Nachmittag erreiche ich mein erstes Etappenziel – Bridge of Orchy. Von Tyndrum nach Bridge of Orchy sind es gut zehn Kilometer. Auf der Karte ist der Ort dick markiert, doch in Wahrheit besteht das kleine Hamlet aus kaum mehr als fünf Häusern. Seine Lage inmitten der Berglandschaft und die Bahnanbindung machen Bridge of Orchy zu einem Magnet für Wanderer, Wild-Camper und Kletterer. Am Ufer des River Orchy steht ein halbes Dutzend Campingzelte, in den einfachen Wanderunterkünften klappern die Türen und auch der Schankraum des Bridge of Orchy-Hotels ist gut gefüllt.

Dort treffe ich am Abend Sue aus der US-amerikanischen Stadt Boston. Sie läuft den ganzen Weg, aber in der entgegengesetzten Richtung. Sue ist Architektin, aber „between jobs“. Den alten Arbeitsplatz gibt es nicht mehr, einen neuen hat sie noch nicht. Sie ist nicht sicher, ob sie den neuen Job wieder in einem großen Architektenbüro findet, so wie den alten. „Ich  muss darüber nachdenken“, sagt Sue. Sie hat sich stundenlang durch strömenden Regen gekämpft, und sie hat sich einmal verlaufen. Dazu die körperliche Anstrengung. Sie ist das Wandern nicht gewohnt, sagt sie. „Aber es macht den Kopf frei.“ Sue wandert ohne Kompass. Den braucht sie nicht. Sie weiß, dass das Wandern selbst der richtige Weg für sie ist.

Ich muss am nächsten Tag noch lange an Sue denken. Ich kann gut verstehen, wie es ihr geht. Seien wir ehrlich: Immer gibt es noch einen Artikel zu schreiben, ein Projekt zu entwerfen oder eine Arbeit zu korrigieren. Selbst das Wochenende ist oft so ausgefüllt, dass keine Zeit bleibt, mal darüber nachzudenken, was auf der Prioritätenliste oben steht – und was nicht. Noch dazu muss ich persönlich mich ironischerweise richtig anstrengen, um meinem stressigen Berufsleben zu entfliehen und einen klaren Kopf zu bekommen. Beim Wandern kann ich mich komplett auf die Naturschönheit um mich herum konzentrieren, oder auf die Schmerzen in meinen Füßen – je nachdem, ob es der erste oder vierte Tag ist.

Also weiter... Am nächsten Tag verlasse ich das ruhige Tal Glen Orchy und erklimme einen kleinen bewaldeten Hügel. Vom Tal des River Orchy geht es nun rund 410 Höhenmeter hinauf nach Rannoch Moor. Schon bald geben die Bäume die Aussicht auf das hellblaue Wasser von Loch Tulla frei. Der Weg schlängelt sich um das Westufer des Sees. Vorbei am Inveroran Hotel führt der Weg nun über eine alte Militärstraße. Auf dem rumpeligen Weg ist volle Konzentration gefragt – einst war er wohl gut gepflastert, doch nun sind die Steine eine wahre Stolperfalle. Lange hält die unwegsame Strecke zum Glück nicht an, denn da ist es schon: Rannoch Moor. Eine der abgelegendsten Landschaften Schottlands und eine der letzten verbleibenden Wildnisse in Europa.

Man kann darüber diskutieren ob das rund 130 Quadratkilometer große Rannoch Moor die größte oder einsamste Moorlandschaft Schottlands ist. Sie ist auf jeden Fall die eindrucksvollste; gesäumt von der Gipfeln des Black Mountain-Massivs und überzogen wie mit einem feinen Netz aus Zuflüssen, gurgelnden Bächen und bleigrauen Tümpeln. Es ist schwer, Rannoch Moor mit geographischen Angaben zu beschreiben. Was das Moor so einzigartig macht, sind die Empfindungen, die es auslöst.

Auf dem West Highland Way

Wanderer sind auf der leeren Ebene den Elementen völlig ausgeliefert. An schönen Tagen werde Rannoch Moor seinem Ruf als grandioses Naturereignis gerecht, schreibt der Autor Robert Aitken: „Aber bei Regen oder Schnee liefert das Moor einen Beweis dafür, dass die Hölle nicht heiß sein muss.“

Zu meinem Glück habe ich nicht mit Wind und Regen zu kämpfen, sondern mit Sonnenschein und zu wenig Schatten. Es ist ganz einfach, dem Weg zu folgen. Meine Füße fliegen nur so über den Weg, und meine Gedanken sind auf Hochtouren.

Nach einer ausgiebigen Pause neben einem rauschenden Wasserfall befinde ich mich auf der heutigen Zielgeraden zum Glencoe Mountain Resort, von wo aus ich per Anhalter zu meiner Unterkunft in Glencoe komme. Nach zwei Tagen auf dem Wanderweg fühlt sich die Autofahrt durch das geschichtsträchtige Tal viel zu schnell an. Stundenlang sitze ich abends im Biergarten des Clachaig Inn und genieße die Aussicht. Die goldene Abendsonne bringt die Berge um mich herum zum Glühen, und ich fühle mich plötzlich ganz klein.

Am nächsten Morgen beginnt für mich der kürzeste, doch gleichzeitig beschwerlichste Wandertag. Nur 14,5 Kilometer liegen zwischen dem Kingshouse Hotel bei Glencoe und Kinlochleven. Doch zu diesem Streckenabschnitt gehört ein Anstieg, der Devil's Staircase genannt wird, die Teufelstreppe. Dieser Aufstieg hat seinen Namen nicht ohne Grund. Im Zick-Zack-Kurs geht es bergauf. Oben angekommen, eröffnet sich ein unglaubliches Bergpanorama. Obwohl ich auf der Teufelstreppe viele andere Wanderer getroffen habe, bin ich nun ganz alleine – der Weg ist so verschlungen, dass ihre bunten Rucksäcke schnell zwischen den Anhöhen und Senken der Hügel verschwinden. Hier gehören die Highlands ganz mir allein – und ich ihnen. Für dieses Gefühl habe ich mich auf diese Reise gegeben.

Mein letzter Tag am West Highland Way kommt schneller als gedacht – nach drei Tagen in der Wildnis, wünschte ich, ich hätte doch die gesamte Strecke in Angriff genommen. Nach einem kurzen Aufstieg durch die Rhododendron- und Birkenwälder rundum Kinlochleven bin ich zurück in meinem Element – meilenweit sehe ich nur Berggipfel und Seen und Fjorde, die in der Sonne glitzern. Wie ein Höhenweg führt der West Highland Way mich nun durch die Berge des Nevis-Massivs. Vorbei an einer Ruine, über mehrere Flüsschen, und schon bald sehe ich Ben Nevis, den höchsten Berg Großbritanniens, der imposant über den umliegenden Gipfeln thront. Der Weg steigt nun ab zum Tal Glen Nevis, und von hier sind es nur noch wenige Kilometer bis ans Ende des West Highland Ways.

Die Ziellinie befindet sich am Ende der High Street im Zentrum von Fort William – nicht der idyllischste Ort, doch im anonymen Trubel der umliegenden Pubs lasse ich die vergangenen vier Tage in Ruhe Revue passieren. Die Geräusche rauschen nur so an mir vorbei – in Gedanken bin ich immer noch bei den gurgelnden Bächen von Rannoch Moor, dem kristallklaren Wasser der Bergseen und den raschelnden Blättern der Birkenwälder.

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