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Bringt ihn in die Sonne

Bob Chilcott: Move him into the Sun (2018)

Die heutige Ausgabe der Schleichwege wird präsentiert von note 1 music (Öffnet in neuem Fenster), dem etablierten Exklusiv-Vertrieb ausgewählter Klassik-Labels. Note 1 vertreibt nicht nur ein breites Spektrum noch so nischiger Klassik, sondern produziert mit eigenen Labels auch Aufnahmen von Musik, die man nicht überall hören kann. Aus ihrem umfangreichen Katalog habe ich das heutige Stück ausgewählt. Auf meinen Text hat der Sponsor keinen Einfluss.

In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich Musik vor, die du vielleicht noch nicht kennst. Und ich liefere das Schuhwerk für deinen eigenen Schleichweg dazu. Das sind Vorschläge und Hinweise, mit denen du die Musik besser verstehen und damit mehr genießen kannst. Aber solche Texte machen Arbeit und kosten Zeit. Daher bitte ich dich: Unterstütze meine Arbeit mit einer Mitgliedschaft (Öffnet in neuem Fenster) (für 5 Euro im Monat) oder einem Sponsoring (Öffnet in neuem Fenster) (für 250 Euro im Monat). Als Sponsor erreicht deine Botschaft über tausend freundliche, neugierige und feinsinnige Menschen.

Landschaft in der Zentralukraine (Foto: Ivan Maljarenko (Öffnet in neuem Fenster) auf Unsplash (Öffnet in neuem Fenster))

Sieh zu, dass du weit weg bist, wenn sich jemand mit dir in der Mitte treffen will.

Die Mitte steckt im Begriff der Vermittlung, aber in der Mitte wohnen nicht die fairsten Ergebnisse. Ich erinnere mich an diesen Cartoon, in dem auf der einen Seite der Faschist steht und auf der anderen der Demokrat. Auf halbem Wege zwischen den beiden bittet der naive Zentrist, die beiden mögen sich doch in der Mitte treffen.

Die Mitte ist eine so fatale Erfindung der politischen Rhetorik, weil sie so vernünftig klingt, ihr Standort aber tatsächlich von den extremen Positionen abhängt. Nicht die Gemäßigten, sondern die Extremisten bestimmen, wo die Mitte ist. Sie selbst hat keine feste Position. Man könnte sagen: Die Mitte ist prinzipienlos. Und wenn man mal spieltheoretische Überlegungen ausblendet, lässt sich ein fairer Interessenausgleich sowieso nur herstellen, wenn die beteiligten Parteien legitime Interessen vortragen. Dann kann man sich irgendwo treffen. Kein legitimes Interesse wäre es zum Beispiel, ein Land von der Karte tilgen zu wollen.

Womit wir beim Krieg Russlands gegen die Ukraine wären, der nun schon über ein Jahr dauert (rechnet man die vorausgegangenen Konflikte nicht mit). Im publizistischen Deutschland wird deshalb nun (wieder einmal) darüber diskutiert, ob jetzt nicht die Zeit für sofortige Verhandlungen gekommen sei, wie Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht in einem “Manifest (Öffnet in neuem Fenster)” fordern und das, während ich dies schreibe, schon über 350.000 Menschen online unterzeichnet haben. Es stehen sich gegenüber: Diejenigen, die die Ukraine bei der Verteidigung gegen den Aggressor auch weiterhin mit Waffen unterstützen möchten und die, die einen Stopp der Waffenlieferungen und sofortige Friedensverhandlungen fordern. Dass bei Letzteren die Ukraine einen Großteil ihres Landes an Russland abtreten müsste und Putin motiviert würde, ähnliche Attacken auf andere Ex-UdSSR-Staaten zu starten, wird als nachrangig hinter dem Ziel des sofortigen Friedens verstanden (diese Gefahr wird im Manifest tatsächlich nicht einmal thematisiert).

Diese Form des Pazifismus kann man als Blaupause für weitere Angriffskriege verstehen. Der Stärkere darf sich nehmen, was er sich nehmen will – der Angegriffene muss sich fügen, weil sonst noch mehr Menschen sterben müssen. In welcher Art von Frieden die derart Besiegten leben müssen, ist für die, die von Deutschland aus beschließen, dass jetzt Zeit für Verhandlungen ist, unerheblich. Man trifft sich mit dem Aggressor in der Mitte – und die liegt außerhalb Russlands.

Wie jeder anständige Gymnasiast stellte ich meiner Kriegsdienstverweigerung das berühmte Matthias-Claudius-Zitat voran: “’s ist leider Krieg – und ich begehre, / Nicht schuld daran zu sein!” Ich hoffte, dass mich das poetische Motto als sensiblen Menschen ausweisen würde, dem der Wehrdienst sinnvollerweise zu ersparen sei. Was mir als Teenager nicht auffiel: Der treuherzige Wunsch in Claudius’ Gedicht unterschlägt, dass es im Krieg nicht nur Angriff, sondern auch Verteidigung gibt – und eine moralische (und natürlich politische) Pflicht, dem Angegriffenen beizustehen. Die Behauptung, dass die Lieferung weiterer Waffen – sei es aus Deutschland oder sonst woher – zu mehr Leid und Tod führt, finde ich keineswegs so selbstverständlich, denn sie lässt außer acht, wie viel Leid und Tod die Ukrainer*innen zu erdulden hätten, gäbe man ihnen nicht die Mittel, sich zu verteidigen.

Aber so wenig wie man einem Land einen Krieg aufzwingen darf, darf man ihm einen Frieden aufzwingen. Die Menschen in der Ukraine haben eine ganz klare Vorstellung davon, was sie von bedingungslosen Friedensverhandlungen halten: gar nichts. 

Die Münchner Sicherheitskonferenz hat im November 2022 in der Ukraine eine Umfrage (Öffnet in neuem Fenster) durchführen lassen, deren Ergebnisse seit etwa einer Woche vorliegen. Eine der Fragen war, unter welchen Bedingungen Ukrainer*innen in einen Waffenstillstand mit Russland einwilligen würden. Das Ergebnis hätte nicht klarer sein können: Für 95% wäre ein Waffenstillstand inakzeptabel, sollte Russland seine Truppen in den jetzt besetzten Gebieten belassen. Erst wenn Russland alle Truppen aus der Ukraine einschließlich der Krim abzieht, wären die Bedingungen für einen Waffenstillstand für 88% der Ukrainer*innen erfüllt.

Der War Poet Wilfred Owen ist in Deutschland kaum bekannt, gilt aber als einer der wichtigsten Dichter des Ersten Weltkriegs. Während man im Großbritannien des Great War noch patriotische, kriegsverherrlichendende Lyrik veröffentlicht, beschreibt der Soldat Owen das Grauen der Schützengräben und des Gaskriegs in drastischen und oft hoffnungslosen Gedichten. 1916 wird Owen, schwer traumatisiert von den Ereignissen während seines Einsatzes in Frankreich, in das Militärkrankenhaus in Craiglockhart bei Edinburgh eingeliefert. Schwerer als seine körperlichen Verletzungen wiegen die seelischen. Owen war von einer Explosion erfasst worden und lag mehrere Tage bewusstlos inmitten der Überreste eines seiner Kameraden.

In Craiglockhart lernt Owen den Dichterkollegen Siegfried Sassoon kennen. Owen verehrt Sassoon wie einen Helden. Zwischen den beiden entwickelt sich so etwas wie eine Liebesgeschichte. Sassoon bestärkt Owen darin, weiter (und besser) zu schreiben.

Sassoon, der für seine Tapferkeit mit dem Military Cross geehrt wurde, spricht sich 1917 öffentlich gegen den Krieg aus und wirft seine Auszeichnung in einen Fluss. Seinen Widerstand gegen den Krieg begründet er nicht etwa mit einem in ihm gewachsenen Pazifismus, sondern mit den aus seiner Sicht veränderten Kriegszielen. In einem Brief, der im britischen Unterhaus verlesen wurde, schrieb er: “I believe that the war upon which I entered as a war of defence and liberation has now become a war of aggression and conquest” (“Ich glaube, dass der Krieg, in den ich als Verteidigungs- und Befreiungskrieg eingetreten bin, jetzt zu einem Angriffs- und Eroberungskrieg geworden ist”). Krieg ist nicht Krieg und Verteidigung ist nicht Angriff. Der Soldat und Poet hat, im vollen Bewusstsein des Kriegsgrauens, den Unterschied verstanden.

Im Jahr 1918 kehrt Owen zurück an die Front. Wenige Monate später wird er im Kampf getötet, nur eine Woche vor dem Waffenstillstand. Sassoon, der Owen davon abzuhalten versucht hatte, an die Front zurückzukehren, erfährt erst Monate später von seinem Tod. Er wird diesen Verlust Zeit seines Lebens nicht verwinden. In einem Brief Owens an seinen Freund Sassoon findet sich die Zeile: “[Y]ou have fixed my life — however short.” 

Es ist auch Sassoons Verdienst, dass die Gedichte Owens, der zu Lebzeiten fast völlig unbekannt war, heute zumindest in der englischsprachigen Welt regelmäßig gelesen werden.

Wilfred Owen (Public Domain)

Zu Owens hundertstem Todesjahr, 2018, vertonte der englische Komponist Bob Chilcott Gedichte Owens in einem fünfsätzigen Chorwerk: “Move him into the Sun”. Der Titel ist die erste Zeile aus dem Gedicht “Futility”, in dem die Kameraden eines getöteten Soldaten seine Leiche in die Sonne bringen, in der Hoffnung, sie würde ihn wieder zum Leben erwecken.

Der englische Komponist Benjamin Britten verwendete bereits 1964 die Gedichte von Wilfred Owen für sein War Requiem, in dem er sie mit lateinischen Liturgie-Texten verband. Das ernste und über weite Strecken andächtige Stück gehört zu den meistaufgeführten Werken Brittens.

Chilcotts Musik ist nicht nur, weil der gesamte Gesangstext englischsprachig ist, deutlich niedrigschwelliger. Es ist das Werk eines routinierten Chorkomponisten, dessen Musik von Chören überall auf der Welt gesungen wird. Die Musik geht schnell ins Ohr und die Instrumentation hat Filmmusik-Vibes. Ein Erwachsenen- und ein Jugendchor singen zusammen. Die hohen Stimmen der Jungen stehen für die Sonne, erklärt der Komponist in einem kurzen Interview:

https://www.youtube.com/watch?v=gAeDFHSJw8E (Öffnet in neuem Fenster)

Nun ist, fünf Jahre nach der Uraufführung, erstmals eine Aufnahme von “Move him into the Sun” erschienen, mit dem Chor des Breslauer Nationalen Musikforums (NFM) unter der erfahrenen Chorleiterin Agnieszka Franków-Żelazny, die auch schon das Britten-Requiem mit dem NFM-Chor einstudiert hat. 

Chilcotts Stück stimmt einen schlichteren, deutlich optimistischeren Ton an als Brittens erschütterndes Requiem: Auch wenn die Sonne Tote nicht wieder zum Leben erwecken kann, wird sie wieder aufgehen. Es ist bei allem Schmerz ein hoffnungsvolles Werk. Hört euch zumindest den vierten Satz an und unterstützt die Musiker*innen sowie die unabhängigen Labels, die Aufnahmen wie diese ermöglichen, mit dem Kauf der CD (Öffnet in neuem Fenster). Streaming alleine bringt gerade bei Nischenproduktionen nur Centbeträge ein.

(Der Text zum Mitlesen steht unter dem Video.)

https://www.youtube.com/watch?v=rouw8e9Prp4 (Öffnet in neuem Fenster)

Die CD gibt es zum Beispiel bei JPC (Öffnet in neuem Fenster). Unterstützt die Musiker*innen durch einen Kauf. Das Stück könnt ihr dann immer noch im Streaming (Öffnet in neuem Fenster) hören.

Sonnet, to a child (Auszug)

To all men else uncouth;
Save me, who know your smile comes very old,
Learnt of the happy dead that laughed with gods;
For earlier suns than ours have lent you gold;
Sly fauns and trees have given you jigs and nods.

Futility

Move him into the sun—
Gently its touch awoke him once,
At home, whispering of fields unsown.
Always it woke him, even in France,
Until this morning and this snow.
If anything might rouse him now
The kind old sun will know.

Think how it wakes the seeds—
Woke once the clays of a cold star.
Are limbs, so dear-achieved, are sides
Full-nerved, still warm, too hard to stir?
Was it for this the clay grew tall?
—O what made fatuous sunbeams toil
To break earth's sleep at all?

Alles Gute aus Berlin
Gabriel

P.S.: Unterstütze meine Arbeit mit einer Mitgliedschaft (Öffnet in neuem Fenster) (für 5 Euro im Monat) oder einem Sponsoring (Öffnet in neuem Fenster) (für 250 Euro im Monat). Als Sponsor erreicht deine Botschaft über tausend freundliche, neugierige und feinsinnige Menschen. 

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