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Meine Pläne sind mir wichtig

Missy Mazzoli: “Vespers” für verstärkte Violine mit Delay und Soundtrack (2014)

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Auf dem Bild sieht man im Vordergrund die Komponistin Missy Mazzoli. Sie trägt ein langes, braun-goldenes Kleid mit einem feinen Muster und schaut mit ernstem, leicht nachdenklichem Blick in die Kamera. Ihr dunkles, welliges Haar fällt locker über ihre Schultern.

Sie steht auf einem Dach, das mit Graffiti bemalt ist – auffällig sind mehrere bunte Figuren an einer niedrigen Wand hinter ihr.

Im Hintergrund erstreckt sich ein Teil der Skyline von New York City. Die charakteristischen Hochhäuser und die verschwommen sichtbare Brooklyn Bridge deuten auf Manhattan hin. Der Kontrast zwischen der rauen Street-Art-Ästhetik und der Eleganz von Mazzolis Erscheinung erzeugt ein spannungsvolles, künstlerisch aufgeladenes Bild.
Missy Mazzoli (Foto: Marylene Mey)

Mit Gebeten kenne ich mich nicht aus. Als Kind habe ich Rosenkränze gebetet, weil Omi das gemacht hat, meine Ersatzoma, die in einer Einliegerwohnung im Haus meiner Mutter gewohnt hat. Sie hatte in ihrer Dachwohnung einen Altar stehen. Der Altar war mit gehäkelten Tüchern bedeckt und auf denen stand eine riesige Jesusfigur, die fast bis zur Decke ging, mit Stigmata.

Omi betete Rosenkränze und wenn ich sie besuchen ging, betete ich mit. Einer ihrer Rosenkränze war fluoreszierend und so konnte man leicht im Dunkeln beten, unter der wahnsinnig schweren Bettdecke. Zu beten hatte ich damals noch nichts, ich fürchtete mich noch vor nichts, ich wunderte mich nur.

Omi hatte Angst, sie muss sehr viel Angst gehabt haben und darüber wunderte ich mich. Dass ihr Glaube dagegen gar nicht zu helfen schien! Omi war stets voller Sorgen, manche berechtigter als andere. Zu den weniger berechtigten dürfte die vor dem Kugelblitz gehört haben. Omi fürchtete sich vor dieser Kugel aus reiner Elektrizität, die in ihre Dachwohnung schweben und dann dort verharren würde.

Heute hätte ich viel zu beten, aber ich habe noch kein passendes Gebet gefunden, und ich will mir keins selber ausdenken, das käme mir wie Betrug vor. Ich brauche in Glaubensfragen eine Autorität, aber woher nehmen, wenn man keiner Religion wirklich anhängt.

Die Antwort ist immer dieselbe: aus der Kunst.

Von dem Poeten Matthew Zapruder stammt ein Gedicht, das kurz vor Schluss eine Art zeitgenössisches Gebet enthält. In meiner bescheidenen Übersetzung geht es so (die durchgehende Kleinschreibung habe ich vom Original (Öffnet in neuem Fenster) übernommen):

hallo herr
sorry fürs wecken

aber meine pläne
sind mir wichtig

und ich brauche dinge
die niemand kaufen kann

und ich weiß nicht mal
welche

Ich möchte jede Zeile unterstreichen.

Und damit zur Musik: Dieses Gedicht wird in einem Werk der Komponistin Missy Mazzoli rezitiert, ihren “Vespers For a New Dark Age”. Dieses Stück für Singstimmen, Klarinette, zwei Keyboards, Geige, Kontrabass und Schlagzeug knüpft auf eine Art an eine alte musikalische Tradition an: Die Vespermusik für christliche Abendgebete. Bereits im 16. Jahrhundert komponierte der Italiener Claudio Monteverdi solche musikalische Vespern, in denen hauptsächlich Psalmen gesungen wurden.

Mazzolis Vespern kommen aus New York City und sie enthalten keine Psalmen, sondern aktuelle Gedichte. Sie sagt, sie seien eine “verzerrte, wilde blasphemische Interpretation” dieser Tradition. Und dass sie jeden Tag, den sie in New York verbringt, als Sieg empfindet.

Denn geboren wurde sie 1980 in der Provinz von Pennsylvania. Dort ist Missy schon als Kind von Beethoven fasziniert und fertigt Tabellen seiner Werke an. Ihre musikalische Ausbildung bekommt sie in Boston, an der Yale School of Music und dem Königlichen Konservatorium Den Haag. Heute arbeitet sie als Pianistin, Hochschullehrerin und vor allem als Komponistin. Ihre Produktivität ist haarsträubend – man werfe nur einen Blick auf ihr Werkverzeichnis (Öffnet in neuem Fenster). Sie hat Kammermusik und Orchesterwerke geschrieben, Filme und TV-Serien vertont und ihre Opern werden weltweit aufgeführt.

Eines ihrer Stücke wird 2019 für einen Grammy nominiert in der Kategorie “Beste klassische Komposition”: Es ist eine Bearbeitung ihrer “Vespers For a New Dark Age”, die praktischen Erwägungen folgt. Die neuen “Vespers” für verstärkte Violine mit Delay und Soundtrack brauchen nur eine Geige – der Rest wird elektronisch erledigt.

Mazzoli erklärt gerade heraus, wie das Stück zustande kam: “I sampled keyboards, vintage organs, voices and strings from [Vespers For a New Dark Age], drenched them in delay and distortion, and re-worked them into a piece that can be performed by a soloist.”

In diesem Stück spielt eine einsame Geige meditative und dann plötzlich eruptive Phrasen voller Glissandi (sie verschmiert quasi von einem Ton zum anderen), manche Motive hallen elektronisch nach. Dieses Solo findet vor ominösen Sphärenklängen mit Gesang statt. Das “dunkle Zeitalter”, nach dem das Ausgangswerk benannt ist, ist offensichtlich längst angebrochen. Aber hier wird nicht aufgegeben, hier stemmt sich die Geige gegen den Grusel, gegen die Angst.

Es ist eine Musik wie ein Kugelblitz: Schwebend, unheimlich, irgendwie irreal – und voller Energie.

Das Phänomen Kugelblitz, von dem offenbar immer noch nicht klar ist, ob es wirklich existiert, stellte ich mir als Kind übrigens viel furchtbarer vor als einen herkömmlichen Blitz, der schnell und mit Gewalt einschlägt und fertig. Etwas, das scheinbar bewusst Leute zu Hause in ihrer Dachwohnung aufsucht und dort verharrt, um ihnen Schrecken einzujagen, das erschien mir deutlich schlimmer. Der Kugelblitz ist ein Sinnbild für Angst.

Gleichzeitig war ich mir damals schon sicher, dass es keine Kugelblitze gibt. Ich weiß nicht, woher ich dieses Wissen damals gehabt haben soll, aber diese Art Wissen trug dazu bei, dass ich damals nichts zu beten hatte.

Wenn ich heute Trost suche, bete ich immer noch nicht, aber Mazzolis Musik und Zapruders Gedicht entnehme ich, dass man sein vor berechtigten und unberechtigten Ängsten freidrehendes Hirn mit den richtigen Aufgaben befassen muss. Es gibt so viel zu tun in diesem “Dark Age”.

A. schrieb mir vor ein paar Tagen: “Kämpfen hilft enorm”. Das stimmt.

https://www.youtube.com/watch?v=pmB4uAYfNJE (Öffnet in neuem Fenster)

Hier das ganze Stück im Streaming (Öffnet in neuem Fenster).

Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel

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Kategorie Neoklassik & Crossover

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