Zum Hauptinhalt springen

Denk an deine Eltern, wenn du das hörst

Jaakko Kuusisto: Violinkonzert, Op. 28 (2012)

In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich Musik vor, die du vielleicht noch nicht kennst. Und ich mache Vorschläge, wie du sie besser verstehen und damit mehr genießen kannst.

Aber solche Texte machen Arbeit und kosten Zeit. Daher können nur Mitglieder alle Artikel ganz lesen. Unterstütze mich auf Steady (Öffnet in neuem Fenster) mit einer Mitgliedschaft und diese Bezahlschranken entfallen sofort! Mitglieder können zudem unter den Beiträgen Kommentare posten. Und wenn wir 100 Mitglieder schaffen, gibt es ein Forum, in dem wir uns untereinander austauschen können (momentan gibt es 79 zahlende Mitglieder). Hilf mit, auf 100 zu kommen – und wenn du schon Mitglied bist: vielen Dank!

Elina Vähälä war die Solistin in der Uraufführung von Kuusistos Violinkonzert (Foto: Website der Künstlerin) 

Auf meinem USA-Besuch in den letzten Wochen habe ich zwei Freundinnen wiedergetroffen, die ich vier Jahre lang nicht gesehen hatte. Die Berichte über die life changes, die die beiden in kurzer Zeit durchgemacht haben, waren mindestens so beeindruckend wie die superschlanken neuen Wolkenkratzer in Manhattan, die wie elegante Riesenbleistifte in den Himmel piksen oder die Durchmesser der Karamellschoko-Salzbrezel-Donuts aus Brioche-Teig.

B. wohnte, als ich sie kennenlernte, buchstäblich in einem Felsen im Wald (oben auf dem Felsen stand das Haus der Vermieter), die steinernen Wände waren eigentlich immer nass und in den Fugen wanden sich Schlangen, sehr zur Freude der Katzen. B. hatte einen Job, der sie regelmäßig zum Weinen brachte, so miserabel waren die Arbeitsbedingungen.

Man soll ja Menschen keine ungefragten Tipps zur Lebensführung geben, aber selbst wenn B. mich gefragt hätte, im Traum hätte ich ihr nicht raten können, mit Ende dreißig den Job hinzuschmeißen, an der Oregon State University per Fernstudium einen Informatik-Bachelor zu machen und dafür sechs Kreditkarten zu verbraten, daraufhin ein Praktikum bei einer (weltbekannten) Softwarefirma zu machen, sich in der Folge bei einem Unternehmen für Satellitenbau zu bewerben, dort einen Job als Softwareentwicklerin zu bekommen, der doppelt so gut bezahlt wird wie ihr letzter, um daraufhin ans andere Ende des riesigen Landes, in die Nähe ihrer Familie zu ziehen, wo Jobs ausgeschrieben werden, die noch einmal doppelt so viel einbringen. Aber genau das hat B. gemacht. All dies erzählte sie mir fast beiläufig beim Abendessen.

Am nächsten Morgen traf ich A. auf ein breakfast sandwich und einen Kaffee. Als ich sie das letzte Mal sah, war sie frustriert von allem, vor allem von ihrem Ex und wollte aus Rhode Island zurück zu ihren Eltern nach Pennsylvania ziehen. Am Abend vor der Abreise aber begegnete sie zufällig dem Mann, den sie ein Jahr zuvor auf Tinder nach rechts gewischt hatte, dann aber frustriert die App gelöscht und daher weder das Match noch seine Antwort erhalten hatte. Sie schrieb ihren Eltern, dass sie Rhode Island noch eine Chance geben wollte, kam mit ihrem Match zusammen (einem DACA-Dreamer (Öffnet in neuem Fenster) aus Südamerika, der dadurch endlich alle Rechte eines Amerikaners erhalten wird), bekam mit ihm ein wunderschönes Kind, schmiss ihren Job hin und fing einen neuen an: “I am a cheesemaker now”, sagt A. und lacht, als könnte sie es selbst noch nicht glauben. Sie arbeitet nun in einem kleinen Ort an der neuenglischen Küste in einer familiengeführten Molkerei mit einer Handvoll Leute. Die neun Kühe weiden auf einem Stück Land, das bis zur Atlantikküste reicht. Immer Samstags verkauft A. Käse und Joghurt auf dem Farmers Market in Providence. Ich kenne den Ort, wo die Kühe stehen, hätte aber nie gedacht, dass in diesem pittoresken Strandstädtchen außer der Inhaberin des General Store, wo man Sonnenschirme und Limo kauft, noch irgendjemand arbeitet. Nach Pennsylvania wird A. erstmal nicht ziehen, dafür mit Mann und Kind in das gerade gekaufte Haus.

Ich erspare euch das Lamento über die horrenden Kosten einer guten Ausbildung, das ständige Risiko der Privatinsolvenz, das brutale Miet- und Arbeitsrecht in den USA; all dies ist hinlänglich bekannt. Es ist die Hemdsärmeligkeit von B. und A., diesen Unternehmerinnen ihres Lebens, die meiner Fantasie Zunder gibt. Die beiden haben in ein paar Jahren Lebenszeit mehr ihres Lebens zum Besseren gewendet, mehr Wandel gestaltet als andere in Jahrzehnten nicht.

So wild und kurz entschlossen wie meine beiden Freundinnen aus New England, so optimistisch, ja so amerikanisch, klingt das 2012 entstandene Violinkonzert von Jaakko Kuusisto, das ich euch heute vorstellen will. Es kommt aber aus Finnland.

Das Stück klingt wie eine Kreuzung aus bekannter amerikanischer Musik. Da ist einiges, was an das Violinkonzert Op. 14 von Samuel Barber (Öffnet in neuem Fenster) erinnert, und den Anfang finden wir eins zu eins schon in John Adams’ Short Ride in a Fast Machine (Öffnet in neuem Fenster). Es ist das amerikanischste Violinkonzert, das nie geschrieben wurde. Aber es erzählt eine eigene Geschichte.

Wie Adams’ Stück beginnt Kuusisto den dritten Satz seines Violinkonzerts (den ich unten verlinkt habe) mit der Taktvorgabe durch Solo-Schläge auf den Holzblock (die dann bis 0:23 durchgehalten werden und später immer wieder einsetzen). Dass ein Schlaginstrument ein Stück vorantreibt, ist im Pop und mehr noch im Hiphop üblich, bei Orchestermusik aber selten.

Dann setzen Streicher und Blasinstrumente ein, bei 0:11 auch schon die Harfe, die dem dramatischen Anfang gleich etwas dezenten Glitzer gibt. Bei 0:24 beginnt dann das erste Geigensolo, mit einem aufstrebenden Thema: Hier will jemand hoch hinaus (bis 0:36)! Es folgt eine Wiederholung der ganzen Sache, damit sie sich einprägt.

Bei 1:01 erscheint in der Geige eine liebliche, tänzerische Melodie, aber die treibende Perkussion im Hintergrund lässt nicht locker. Diese Musik sagt uns: Weiter, weiter, auch wenn du kurz träumst, es geht immer weiter! Bei 1:33 wiederholt die Geige das aufstrebende Motiv vom Anfang, auch diesmal mit Perkussion und etwas Streichern im Hintergrund.

Bei 1:59 aber wird unser Voranpreschen unterbrochen, ein (wortwörtlicher) Paukenschlag und eine filmisch klingende Streicher- und Bläserdissonanz unterbrechen uns jäh. Während die Geige verstummt, erklingt ab 2:07 in den Streichern ein neues, warnendes Thema, das sich anhört als ob da jemand sagen würde: Überleg es dir nochmal! Das ist alles sehr gefährlich und riskant, muss das sein? (Denk an deine Eltern, wenn du das hörst.)

Bei 2:35 nimmt die Geige das Thema auf und wiederholt es – als ob sie fragen wollte: Meintet ihr das hier? Sind das hier eure Sorgen? Verstehe ich das richtig? Bei 3:04 wiederholt sie das zweifelnde Thema noch einmal, aber diesmal findet sie (bei 3:15) eine positive Pointe. Die Sorgen erscheinen ihr unbegründet. Triumphierend wiederholt sie den letzten hohen Ton mehrmals (von 3:20 bis 3:27).

Jetzt ist die Geige bereit, die elterlichen Warnungen aus dem Orchester zu verwerfen. Aber das spielt natürlich nicht mit. Bei 3:48 wiederholen die Streicher, von Schlagzeug und Blechbläsern insistierend unterstützt, das besorgte Thema von 2:07. Bei 3:53 schreitet die Geige ein, nimmt die Kritik auf, aber bevor sie sich damit erneut befassen kann, drängt sich (bei 4:07) der unnachgiebige Takt in den Vordergrund: Der Holzblock ist wieder da. Wir haben doch keine Zeit!

Das nimmt die Geige zum Anlass, bei 4:15 wieder ihr optimistisches, aufstrebendes Thema zu wiederholen. Bei 5:16 spielt sie auch das besorgte Elternthema noch einmal (sie hat die Warnungen nicht vergessen!). Die Bässe scheinen dazu zu soufflieren: Haben wir doch gesagt!

Bei 5:41 entscheidet sich der Kampf dann aber: Das Orchester wiederholt die Sorgen ein letztes Mal, aber hier münden sie (bei 5:58) in eine triumphale Blechbläser-Fanfare, die das Ende des Satzes – wieder mit dem unnachgiebigen Taktgeber Holzblock – einleitet.

Eine optimistische Emanzipationsgeschichte, aber als Finalsatz eines finnischen Violinkonzerts. Hört es euch an – mit der fantastischen Geigerin Elina Vähälä, die die Solistin in der Weltpremiere dieses Stücks war:

https://www.youtube.com/watch?v=r-pwNrqWOhw (Öffnet in neuem Fenster)

Hier findet ihr das Stück im Streaming (Öffnet in neuem Fenster).

Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel

---

P.S.: Danke, dass du die Schleichwege liest. Wenn dir dieser Newsletter ein Schlüssel zu klassischer Musik ist, unterstütze meine Arbeit auf Steady (Öffnet in neuem Fenster)

Mitglieder können alle Artikel ohne Bezahlschranken lesen, erhalten eine Playlist mit 100 meiner Lieblingsstücke und dürfen unter den Beiträgen Kommentare posten. Und wenn wir 100 Mitglieder schaffen, gibt es ein Forum, in dem wir uns untereinander austauschen können (momentan gibt es 79 Mitglieder). Hilf mit, auf 100 zu kommen – und wenn du schon Mitglied bist: vielen Dank!

4 Kommentare

Möchtest du die Kommentare sehen?
Werde Mitglied von Gabriel Yoran: Schleichwege zur Klassik und diskutiere mit.
Mitglied werden