Sparsam und gefühlvoll
Caroline Shaw: Entr’acte (2011)
Die heutige Ausgabe der Schleichwege wird präsentiert von note 1 music (Öffnet in neuem Fenster). note 1 vertreibt nicht nur ein breites Spektrum noch so nischiger Klassik, sondern produziert mit eigenen Labels auch Aufnahmen von Musik, die man nicht überall hören kann. Auch Werke von Caroline Shaw findest du im Katalog von note 1. Auf meinen Text hat der Sponsor keinen Einfluss.
In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich seit zwei Jahren Musik vor, die du vielleicht noch nicht kennst. Und führe dich durch die Musik: Worauf soll ich hören? Wie kann ich diese Musik besser verstehen und damit mehr genießen? Damit ich auch weiterhin auf die Schleichwege gehen kann, unterstütze mich auf Steady (Öffnet in neuem Fenster) mit einer Mitgliedschaft!
Caroline Shaw (Foto: Steven Pisano, Feast of Music, CC BY 2.0 (Öffnet in neuem Fenster), via Wikimedia Commons)
Alles könnte immer auch ganz anders sein. Das ist eine der wichtigsten Lektionen, die ich bislang gelernt habe. Was uns als absolut zwingend erscheint, ist es überhaupt nicht. Das gilt für die Politik, die elenden Sachzwänge, die natürlich keine sind. Das gilt für das menschliche Miteinander, für die Leute, mit denen man sich umgibt – oder eben nicht. Und das gilt für die Kunst, die die Spannung zwischen der Tradition und dem Bruch mit ihr so unendlich produktiv gemacht hat.
Das ist ja das Geile an der Klassik: Du hast einen riesigen Fundus von über die Jahrhunderte erprobten und immer wieder verfeinerten Formen, an denen du dich abarbeiten kannst, als Musiker*in aber auch als Zuhörer*in. Du kannst dich zur Tradition verhalten, du musst dich zur Tradition verhalten. Die Tradition ist stark, aber vielleicht bist du ja stärker?
Eine solche traditionelle Säule der klassischen Musik ist das Streichquartett. Es bezeichnet einerseits die Besetzung aus zwei Geigen, einer Bratsche und einem Cello und andererseits die Musikgattung, also Stücke für eben diese Besetzung. Als wesentlicher Wegbereiter des Streichquartetts darf Joseph Haydn gelten. Mit nur vier Musiker*innen kann man Streichquartette leicht zur Aufführung bringen. Und durch Haydn (aber auch seinen italienischen Zeitgenossen Boccherini) bekam das Streichquartett eine Form, die so überzeugend war und so viel Kreativität freigesetzt hat, dass man die europäische Musikgeschichte auch einteilen könnte in die Zeit vor und nach der Erfindung des Streichquartetts (im 18. Jahrhundert).
Alles ändert sich, aber noch drei Jahrhunderte nach Haydn werden Streichquartette komponiert. Zum Beispiel von Caroline Shaw, geboren 1982 in der tiefsten Provinz in North Carolina. Mit dreizehn Jahren schrieb sie ihr erstes Streichquartett, als Dreißigjährige gewann sie den Pulitzerpreis für Musik, 2013, als eine der wenigen Frauen und als jüngste Person überhaupt. Shaw singt in einem Ensemble, spielt Geige und arbeitete 2016 an Tracks für Kanye West mit. Am liebsten ist es ihr, sie einfach als Musikerin zu bezeichnen.
Jedenfalls saß sie vor einigen Jahren in einem Konzert und hörte Joseph Haydns letztes vollendetes Streichquartett. Und in diesem Alterswerk tut Haydn genau das, was man als Meister*in eben so tut: Man beherrscht die Form – und dann geht man über sie hinaus.
Der zweite Satz dieses Haydn-Streichquartetts (es trägt die knackige Nummer Op. 77 Nr. 2 Hob. III:82) ist ein sogenanntes Menuett mit Trio. Jetzt bitte kurz dranbleiben, es ist blöd, aber wichtig: Der Begriff Trio steht nämlich leider nicht nur für ein Ensemble aus drei Musiker*innen. Es steht auch für ein Zwischenspiel zwischen dem musikalischen Hauptteil und seiner Wiederholung. Seit dem Barock werden manche Tänze, wohl weil sie so populär waren, immer gleich zwei Mal gespielt. Beim Menuett (einem ursprünglich höfischen Tanz im Dreivierteltakt) wurde zwischen Menuett I und Menuett II ein, meist ruhigeres, Zwischenspiel eingeschoben. Da dieses meist nicht vom ganzen Ensemble, sondern nur von drei Instrumenten gespielt wurde, hieß es Trio. Und der Name blieb. So, hätten wir das auch geklärt.
In Haydns letztem vollendeten Streichquartett gibt es nun also ein solches Menuett mit Trio. Das Menuett I beginnt in dem unten verlinkten Video bei 7:35, das Trio, also das Zwischenspiel, bei 9:48. Es ist spürbar ruhiger, es hat einen völlig anderen Charakter, auch weil es in einer anderen Tonart steht – das Trio hat eigentlich gar nichts mehr mit dem Menuett davor zu tun. Vor allem gibt es keinen Übergang, es ist für mich schlicht ein Bruch. Der Rückweg ist geschmeidiger: Bei 11:16 beginnt die Überleitung zu Menuett II, mit dem es ab 11:29 dann weitergeht. Hört es euch an, das Streichquartett eines Meisters seines Fachs:
https://youtu.be/05HqrPjiGnk?si=93n-S77P5TafvMl4&t=458 (Öffnet in neuem Fenster)Im Streaming (Öffnet in neuem Fenster) beginnt das Trio-Zwischenspiel bei 2:09, die Überleitung zu Menuett II bei 3:28 und das Menuett II selbst bei 3:37.
Der Moment, als das Menuett I umstandslos von dem Trio-Zwischenspiel abgelöst wird, hat etwas ausgelöst bei Shaw. Sie empfand den Übergang nämlich nicht als Bruch, sondern als “sparsam und gefühlvoll” (“spare and soulful”). Das Stück sei zwar klassisch aufgebaut, führe die Form aber weiter, sagt sie. Diese Musik bringt einen “auf die andere Seite von Alices Spiegel”. Ihre Assoziation zu “Alice hinter den Spiegeln”, der Fortsetzung von Lewis Carrols “Alice im Wunderland”, ergibt auf vielen Ebenen Sinn. Das Trio sitzt wie ein Spiegel zwischen zwei Welten, aber gleichzeitig ist der Spiegel ein magisches Instrument, durch den man die eigene Welt anders wahrnehmen kann. So erscheint das zweite Menuett nach dem Durchgang durch den Spiegel anders. Man hat, um im Bild zu bleiben, einen anderen Blick darauf.
Und damit kommen wir zu dem Stück des heutigen Schleichwegs. Inspiriert von dem Haydnschen Übergang durch den Spiegel schrieb Caroline Shaw ein einsätziges Streichquartett namens Entr’acte. Sie treibt hier ein Spiel mit den Zuhörer*innen, denn ein Entr’acte ist eigentlich ein Zwischenspiel während in einem Bühnenstück die Kulissen umgebaut werden. Da es aber zu ihrem Werk kein Bühnenstück gibt, wird ihr Streichquartett zum Zwischenspiel in unseren Leben. Der Vorhang ist kurz unten, wir hören Caroline Shaws Streichquartett, und danach geht das Leben weiter, aber womöglich hat sich unser Blick darauf dann verändert. Shaws Werk selbst ist gebaut wie zwei Menuette, die von einem Trio unterbrochen werden. Aber wie der Titel auch nahelegt, geht es hier mehr um das Zwischenspiel (das hier auch viel länger ist als üblich) als um die Formteile der Menuette.
So wie Menuette immer zwei Mal gespielt werden, möchte ich dir vorschlagen, Shaws Streichquartett zweimal anzuhören. Erstmal einfach so für den unmittelbaren Eindruck. Danach hätte ich ein paar Anmerkungen für deinen eigenen Schleichweg zu diesem Werk. Mit diesem Wissen kannst du es dir dann nochmal anhören. Los geht’s!
Caroline Shaw: Streichquartett Entr’acte (2011)
https://www.youtube.com/watch?v=IKIXfjKEdGU (Öffnet in neuem Fenster)Na, wie war’s? Ich hab mir das Stück mittlerweile einige Male angehört und hier sind meine Eindrücke:
Es beginnt mit dem Menuett I: Geht es nur mir so, oder ist der Rhythmus des ersten Motivs gleich am Anfang (das da-da-da-daaaa) verdammt nah an dem Anfang eines anderen Überklassikers, Beethovens Fünfter?
1:03: Shaw reduziert die Musik auf den Rhythmus. Die Saiten werden tonlos gestrichen, es klingt, als ob die Instrumente atmen würden. Vielleicht ein Bezug zu Shaws Vokalwerken, in denen teilweise auch nur laut geatmet wird ohne zu singen.
Bei 2:26 beginnt dann das Trio-Zwischenspiel, die Saiten werden nicht gestrichen, sondern gezupft (das Zupfen nennt sich Pizzicato).
Bei 5:01 beginnt eine Pizzicato-Aueinandersetzung: Das Quartett unternimmt scheinbar mehrere Anläufe, um gemeinsam zu spielen, aber es scheren immer wieder einzelne Stimmen aus (mit Stimmen bezeichnet man alle Instrumente, die gleichzeitig die gleichen Noten spielen; es bedeutet hier nicht Gesang). Die Situation eskaliert und einige Musiker*innen können sich noch durch das Reissen an den Saiten Gehör verschaffen (ab 05:35).
Bei 05:58 darf die Bratsche ein ironisch-angeberisches pseudovirtuoses Solo im Stil von Philipp Glass (hier ab 0:21 mal reinhören (Öffnet in neuem Fenster)) aufführen, bei 06:06 und 06:18 passiv-aggressiv gestört von den beiden Geigen, die ausgerechnet dann unbedingt ihre Instrumente stimmen müssen. (Die Geigen spielen die charakteristischen Intervalle, die man beim Stimmen hören kann – also ohne die Saiten irgendwo abzudrücken.)
Bei 06:57 eilen die von der Angeberbratsche aufgehaltenen Geigen mit Pizzicati hinterher, als ob sie ihre Arbeit jetzt ganz schnell nachholen müssten.
Das Ende des Trios wird bei 7:20 mit schluchzenden Glissandi eingeleitet (ein Glissando ist die gleitende Änderung der Tonhöhe). In dieser übertriebenen Weinerlichkeit endet der Trioteil bei 07:51 und wie sind bei Menuett II. Der Übergang kommt hier genau so unvermittelt wie bei Haydn der Übergang von Menuett I zum Trio.
Ab 09:04 folgt noch ein Nachspiel, komplett in Cello-Pizzicati.
Hier findest du Shaws Streichquartett im Streaming (Öffnet in neuem Fenster). Beachte bitte, dass sich meine Sekundenangaben auf das oben verlinkte Video beziehen und nicht auf die Aufnahme im Streaming.
Drei Jahre nach der Veröffentlichung des Entr’acte schrieb Shaw noch eine Fassung für Streichorchester. Die könnt ihr euch auch gleich anhören, es gibt eine Aufnahme mit dem SWR-Sinfonieorchester. In dieser Fassung kann man den Übergang von Menuett I zum Trio ganz deutlich hören und auch sehen, weil das Orchester einer klare Pause macht und alle Musiker*innen umblättern (das passiert bei 2:36). In dieser Fassung ist der Trioteil bei 9:00 vorbei. Hör es dir an:
https://www.ardmediathek.de/video/ard-klassik/shaw-entr-acte-wdr-sinfonieorchester-cristian-macelaru-wdr/ard/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzE1NjU3Njc (Öffnet in neuem Fenster)Hier findest du die Fassung für Streichorchester im Streaming (Öffnet in neuem Fenster).
Weitere Kammermusik von Caroline Shaw findest du auf der CD “The Wheel” (Öffnet in neuem Fenster), die beim Schleichwege-Sponsor note 1 music erhältlich ist. In dem du nicht nur streamst, sondern auch CDs kaufst, unterstützt du die Arbeit kleiner, unabhängiger Ensembles und natürlich die der Komponist*innen abseits des Mainstreams.
Übrigens entwickelte Haydn das Streichquartett angeblich aus einer eher zufälligen Musiziersituation, heißt es in der Wikipedia. Wenn das kein Beleg dafür ist, dass alles auch immer ganz anders hätte kommen können.
Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel
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